Eduard Bernstein
Eduard Bernstein (* 6. Januar 1850 in Berlin; † 18. Dezember 1932 ebenda) war ein sozialdemokratischer Theoretiker und Politiker in der SPD.

Leben
Bernstein stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie. Seine Eltern gehörten der jüdischen Reformgemeinde an, sein Vater war Lokomotivführer.
Bernstein besuchte – trotz Geldmangels der Familie – das Gymnasium, musste es aber mit 16 Jahren 1866 schließlich aus finanziellen Gründen doch verlassen. Von 1866 bis 1878 arbeitete er als Bankkaufmann. 1872 stieß er zu den „Eisenachern“ und trat der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht bereitete er den Einigungsparteitag mit dem 1863 von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein) von 1875 in Gotha vor. 1877, nach dem Tod seiner Mutter, trat Bernstein aus der jüdischen Gemeinde aus. Nach 1878 war er Privatsekretär des sozialdemokratischen Mäzens Karl Höchberg und arbeitete zur Zeit der Bismarckschen Sozialistengesetze, in der die Aktivitäten der Sozialdemokratie außerhalb des Reichstags verboten waren, in Zürich. Zwischen 1880 und 1890 war Bernstein Redakteur der Zeitung Sozialdemokrat. 1888 wurde er auf preußisches Betreiben aus der Schweiz ausgewiesen und lebte von da an in London. Dort hatte er enge Verbindung zu Friedrich Engels.
Nach der 1890 erfolgten Aufhebung der Sozialistengesetze und der Umbenennung der Sozialdemokraten in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) im selben Jahr, entstand 1891 das Erfurter Programm, das Bernstein zusammen mit Karl Kautsky entworfen hatte.
Die Revisionismusdebatte
Zwischen 1896 und 1898 veröffentlichte Bernstein in der Zeitschrift Die Neue Zeit die Artikelserie „Probleme des Sozialismus“, mit der der Revisionismusstreit in der SPD eröffnet wurde. 1899 folgte auf Anregung seines damaligen Freundes Karl Kautsky die Veröffentlichung von Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.
In dieser Schrift unterzog Bernstein die bis dahin bestehende marxistische Theorie einer radikalen Kritik: sowohl der Materialismus als auch die Hegelsche Dialektik seien metaphysisch, daher unwissenschaftlich und abzulehnen.[1] Die der Sozialdemokratie zu Grunde liegende Philosophie müsse durch die Überwindung des dialektischen Materialismus und dessen Ersetzung durch den Neukantianismus erneuert werden. Diese Forderung stellte er unter das provokative Motto: „Kant wider Cant“ (engl.: Cant; Bänkelsängerei).[2]
Im Bereiche der Ökonomie widersprach Eduard Bernstein der Arbeitswerttheorie und der Mehrwerttheorie. Diese seien nicht empirisch überprüfbar und könnten daher nur als Modelle angesehen werden. Ebenso gebe es auch keine Unternehmenskonzentration im Marxschen Sinne – das Zahlenverhältnis zwischen Groß- und Kleinbetrieben bleibe dauerhaft konstant. Die Zusammenbruchstheorie glaubte Bernstein sogar falsifiziert zu haben: hierzu führt er statistische Daten über die demografische Entwicklung des Königreichs Preußen an, aus denen hervorging, dass der Bevölkerungsanteil der Unternehmer und besserverdienenden Angestellten – im Widerspruch zur Marxschen Theorie – gestiegen war. Daher werde keine proletarische Revolution stattfinden können, da der gebildete Teil der Arbeitnehmerschaft im Gegenteil um die Integration in das bestehende System und um sozialen Aufstieg innerhalb desselben bemüht sei.[3]
Von diesen theoretischen Voraussetzungen ausgehend forderte Eduard Bernstein die Abkehr vom Prinzip der Revolution und die Teilhabe am politischen System des Kaiserreichs. Der Sozialismus könne durch Reformen herbeigeführt werden. Damit aber die Regierung, d. h. im konkreten Falle Deutschlands die Person des Kaisers, für diese Reformen gewonnen werden kann, müsse sich die Sozialdemokratie als staatstragende Partei bewähren.[4] In diesem Sinne trat er, z. B. im Falle der Pachtung von Kiautschou, für eine Unterstützung der Kolonialpolitik Wilhelms II. ein:
„Wo es sich auf deutscher Seite nicht bloß um Liebhabereien oder Sonderinteressen einzelner Kreise handelt, die für die Volkswohlfahrt gleichgültig oder gar nachteilig sind, wo in der Tat wichtige Interessen der Nation in Frage stehen, kann die Internationalität kein Grund schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Prätensionen ausländischer Interessenten sein. […] Um ein bestimmtes Beispiel zu wählen. Die Pachtung der Kiautschoubucht ist seinerzeit von der sozialistischen Presse Deutschlands sehr abfällig kritisiert worden. […] Das deutsche Volk hat kein Interesse daran, dass China aufgeteilt und Deutschland mit einem Stück Reich der Mitte abgefunden wird. Aber das deutsche Volk hat ein großes Interesse daran, dass China kein Raub anderer Nationen wird, es hat ein großes Interesse daran, dass Chinas Handelspolitik nicht dem Interesse einer einzelnen fremden Macht oder einer Koalition fremder Mächte untergeordnet werde – kurz, dass in bezug auf alle China betreffenden Fragen Deutschland ein entschiedenes Wort mitzusprechen habe.[5]“
Er relativierte den Anspruch der einheimischen Bevölkerung auf ihren Boden in den deutschen Kolonien:
„Es ist weder nötig, dass Besetzung tropischer Länder durch Europäer den Eingeborenen Schaden an ihrem Lebensgenuss bringt, noch ist es selbst bisher durchgängig der Fall gewesen. Zudem kann nur ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden anerkannt werden. Die höhere Kultur hat hier im äußersten Fall auch das höhere Recht. Nicht die Eroberung, sondern die Bewirtung des Bodens gibt den geschichtlichen Rechtstitel auf seine Benützung.[6]“
Diese Positionen führten zum vollständigen Bruch mit dem Marxismus und lösten innerhalb der gesamten Sozialdemokratie eine Welle des Protests aus. Zeitweilig beabsichtigte August Bebel den Ausschluss Eduard Bernsteins aus der SPD zu erwirken – ein Vorhaben, von dem er abließ, da derselbe bereits eine große Anhängerschaft gewonnen hatte, so dass die Gefahr einer Abspaltung der Revisionisten und der Gründung einer separaten rechts-sozialdemokratischen Partei bestand.
Obgleich auf den Antrag Karl Kautskys hin der Parteitag von Dresden 1903 die Positionen Bernsteins ablehnte, gewann er weiterhin an Bedeutung innerhalb der Partei. Nach der Spaltung der SPD während des ersten Weltkrieges, sollte die MSPD den Revisionismus letztlich offiziell als theoretische Grundlage übernehmen. – Die Bewertung des Bernsteinschen Revisionismus jedoch schwankt bis heute zwischen begeisterter Zustimmung und entschiedenster Ablehnung.
Rückkehr nach Deutschland
1901 kehrte Bernstein nach Aufhebung des Einreiseverbots nach Deutschland zurück und wurde 1902–1907, 1912–1918 und 1920–1928 Mitglied des Reichstages für den Wahlkreis Breslau-West. Im Jahr 1913 stimmte er im Reichstag mit der Fraktionslinken gegen die Rüstungsvorlage. Im Juni 1915 veröffentlichte Bernstein gemeinsam mit Hugo Haase und Kautsky einen Aufruf gegen die expansionistischen Kriegsziele der deutschen Regierung und gegen die offizielle Kriegspolitik der SPD. 1917 schloss sich Bernstein der von Haase geführten USPD an, die sich aus Protest gegen die Burgfriedenspolitik und die kriegsbilligende Haltung der SPD im Ersten Weltkrieg von dieser abspaltete.
Während des Krieges zählte Bernstein neben Rosa Luxemburg zu den wenigen deutschen Politikern, die gegen den Völkermord an den Armeniern protestierten. Nach der Novemberrevolution von 1918/1919, in deren Verlauf es in der USPD zur Bildung zweier Lager gekommen war, ging Bernstein aufgrund seiner im Grunde reformistischen Haltung wieder zurück zur SPD, wohingegen ein anderer Teil der USPD-Mitglieder nach und nach zur neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) wechselte. Nach der Novemberrevolution 1918 war Bernstein als USPD-Mitglied in der Regierung der Volksbeauftragten Beigeordneter im Reichsschatzamt und intensiv um eine Wiedervereinigung von MSPD und USPD bemüht. Zwischen 1910 und 1920 war Bernstein Stadtverordneter in seinem Wohnort Berlin-Schöneberg, danach unbesoldeter Stadtrat.
Im Jahre 1920 schlug der sozialdemokratische preußische Kultusminister Paul Hirsch der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität vor, dass Bernstein als Gastdozent eine Vorlesung halten dürfe. Während im Jahre 1907 ein Gesuch der „Freien wissenschaftlichen Vereinigung“ für einen Vortrag Bernsteins an der Universität noch abgelehnt worden war, stimmte die zuständige Kommission der philosophischen Fakultät diesmal zu. Bernsteins im Sommersemester 1921 gehaltene Vorlesung erschien 1922 unter dem Titel Der Sozialismus einst und jetzt. Streitfragen des Sozialismus in Geschichte und Gegenwart.[7]
Die Weimarer Nationalversammlung beschloss am 21. August 1919 die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu Fragen des Kriegsausbruchs, der Kriegsführung, verpasster Friedensmöglichkeiten und der Ursachen des Zusammenbruchs im ersten Weltkrieg. Dem am 20. Oktober 1919 gebildeten Ersten Unterausschuss zur Untersuchung der Vorgeschichte des Krieges trat Bernstein am 4. März 1920 als Sachverständiger für die deutsch-englischen Beziehungen im Kaiserreich bei. Bernstein bekannte sich darin als einer von nur wenigen Abgeordneten zur deutschen Schuld am Kriegsausbruch und stand damit gegen die Mehrheit der Abgeordneten aus den bürgerlichen Parteien. Dem Gremium gehörte Bernstein bis nach 1929 an.[8]
In der Bozener Straße 18 in Schöneberg erinnert eine Gedenktafel an ihn. Das Grab von Eduard Bernstein wird auf dem Friedhof Eisackstraße als Ehrengrab des Landes Berlin gepflegt.
Werke
- Probleme des Sozialismus, Artikelserie in der Zeitschrift Die Neue Zeit, herausgegeben von Karl Kautsky, 1896 ff.
- Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 1899
- Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus, drei Teile, 1900–1904
- Biographie Lassalles, 1904
- Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Teil 1: Vom Jahre 1848 bis zum Erlaß des Sozialistengesetztes, Berlin 1907 und Teil 2: Die Geschichte des Sozialistengesetzes in Berlin, Berlin, 1907
- Die Arbeiterbewegung, 1910
- Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905, 1924
- Sozialdemokratische Lehrjahre, Der Bücherkreis, Berlin, 1928, ISBN 3-320-01583-4
- Der Streik, 1920
- Was ist Sozialismus? 1922
- Der Sozialismus einst und jetzt, 1922
- Die Deutsche Revolution von 1918/19
- Artikel in der Wochenzeitung Soziale Praxis
Literatur
- P. Angel: Bernstein et les débuts du socialisme allemand. 1961.
- Francis L. Carsten: Eduard Bernstein 1850–1932 – eine politische Biographie. München, Beck, 1993, ISBN 3-406-37133-7.
- Lucio Colletti: Bernstein und der Marxismus der Zweiten Internationale. Frankfurt am Main, EVA, 1971.
- Matthias Lemke: Republikanischer Sozialismus. Positionen von Bernstein, Kautsky, Jaurès und Blum. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008, ISBN 978-3-593-38600-3.
- Teresa Löwe: Der Politiker Eduard Bernstein. Eine Untersuchung zu seinem politischen Wirken in der Frühphase der Weimarer Republik 1918–1924. Historisches Forschungszentrum, Bonn 2000, ISBN 3-86077-958-3.
- Ehrenfried Pößneck: Was wollte Bernstein? Ein Beitrag zum Inhalt seiner Gesellschaftsauffassung. Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte, Leipzig 1993.
- Ehrenfried Pößneck: Zurück zu Bernstein? Eine Betrachtung seiner friedenspolitischen Ansichten. Selbstverlag, Dresden 2007.
Weblinks
- Schriften Eduard Bernsteins auf marxists.org.
- Teresa Löwe: Der Politiker Eduard Bernstein. Bonn, 2000, Onlinefassung in der Digitalen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Einzelnachweise
- ↑ Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 29–65
- ↑ Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 219-232
- ↑ Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 65-113
- ↑ Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 147-183
- ↑ Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 177-178
- ↑ Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 180
- ↑ Teresa Löwe: Der Politiker Eduard Bernstein. Bonn 2000, S. 149f.
- ↑ Teresa Löwe: Der Politiker Eduard Bernstein. Bonn 2000, S. 54ff.
Personendaten | |
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NAME | Bernstein, Eduard |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Politiker und Theoretiker |
GEBURTSDATUM | 6. Januar 1850 |
GEBURTSORT | Berlin |
STERBEDATUM | 18. Dezember 1932 |
STERBEORT | Berlin |