Karl-Heinz Kurras

Deutscher Polizist und Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, erschoss Benno Ohnesorg
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Karl-Heinz Kurras (* 1. Dezember 1927 in Barten, Ostpreußen) ist ein ehemaliger deutscher Polizeibeamter West-Berlins (1949–1967 und 1971–1987). Von 1955 bis 1967 spionierte er dort für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR.

Am 2. Juni 1967 erschoss Kurras während einer Polizeiaktion gegen Demonstranten den Studenten Benno Ohnesorg. In den folgenden Strafprozessen wurde er vom Verdacht der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dies radikalisierte die damalige westdeutsche und West-Berliner Studentenbewegung.

Jugend und Ausbildung

Karl-Heinz Kurras wurde als Sohn eines Polizeibeamten in Ostpreußen geboren. Sein Vater fiel als Soldat der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Er soll dem 10-jährigen Sohn zum Geburtstag eine Waffe geschenkt haben.[1] Kurras besuchte die Oberschule, meldete sich 1944 als Freiwilliger zum Kriegsdienst und erhielt dann ein Notabitur. Bei Kriegsende war er als Soldat in Berlin.

Auf einer Liste des damaligen sowjetischen MWD-Geheimdienstes über in der Sowjetischen Besatzungszone inhaftierte Deutsche wurde vermerkt, Kurras sei seit 1945 SED-Mitglied. Vermutet wird, dass die KPD gemeint war, die in der 1946 gegründeten SED aufging. Nach diesen Akten verhaftete der sowjetische Geheimdienst Kurras am 19. oder 26. Dezember 1946 wegen illegalen Waffenbesitzes. Am 9. Januar 1947 verurteilte ein sowjetisches Militärtribunal in Berlin ihn wegen „gegenrevolutionärer Sabotage“ und der „Absicht, die Macht der Regierung und das Funktionieren des Staatsapparats zu erschüttern“, zu zehn Jahren Straflager. Informationen zu Verhören und Prozessverlauf enthalten die Akten nicht. Er war im Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen inhaftiert. Am 13. Februar 1950 wurde er aus bisher unbekannten Gründen vorzeitig entlassen.[2]

Danach trat er in den Dienst der West-Berliner Polizei. Seit März 1950 war er als Polizeimeister im Bezirk Charlottenburg tätig.[3]

DDR-Spion und Staatsschützer

Am 19. April 1955 stellte sich Kurras beim Zentralkomitee der SED vor. Er wolle lieber in der DDR leben und für sie bei der Volkspolizei arbeiten als in West-Berlin. Sein Gesprächspartner vom MfS überzeugte ihn in „einer gründlichen Aussprache“, bei der West-Berliner Polizei zu bleiben und dort als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für das MfS zu wirken. Am 26. April 1955 unterschrieb Kurras seine Verpflichtungserklärung.[4]

Nach 17 erhaltenen Aktenbänden des MfS war Kurras unter dem Decknamen „Otto Bohl“ von 1955 bis Juni 1967 aktiver und bezahlter IM bei der Abteilung IV des MfS. Er erhielt Aufträge für die Weitergabe von Interna aus der West-Berliner Polizei und schrieb oder diktierte mindestens 152 Berichte darüber. Ferner gab er Kopien von Originalmaterialien an seinen Ost-Berliner Führungsoffizier weiter: darunter ein Decknamenverzeichnis der West-Berliner Polizei für deren Telefonverkehr, eine Kartei für zur Beförderung vorgesehene Polizisten, direkte Abfrageergebnisse im West-Berliner Melderegister und der Autokennzeichen-Kartei.

1960 wurde Kurras zur Kriminalpolizei Berlin-Mitte versetzt und berichtete nun Interna aus dem Landeskriminalamt, etwa über „personelle Probleme“ und polizeiliche Maßnahmen an der Berliner Mauer. Am 15. Dezember 1962 beantragte er seine Aufnahme in die SED, weil diese „mit ihrer Zielsetzung den wahren demokratischen Willen verkörpert, ein demokratisches Deutschland zu schaffen“. Am 28. Juli 1964 nahm die SED ihn auf; fast zeitgleich trat er auf Rat des MfS im Westen in die SPD ein, um sich besser zu tarnen. Er strebte im MfS-Auftrag seine Versetzung zum West-Berliner Staatsschutz an, der eng mit dem Verfassungsschutz und den Geheimdiensten der USA, Großbritanniens und Frankreichs zusammenarbeitete.

Seit Januar 1965 arbeitete Kurras in einer Sonderermittlungsgruppe der Abteilung I für Staatsschutz der Kriminalpolizei in West-Berlin,[5] die sich mit der „Suche nach Verrätern in den eigenen Reihen“ befasste, also MfS-Spitzel enttarnen sollte. In dieser Position musste er oft enttarnte IM-Kollegen verhören.[6]

Aus seiner Abteilung lieferte Kurras dem MfS etwa fünf Aktenordner mit Geheimdokumenten, darunter Listen der im Westen enttarnten und festgenommenen IMs, Überläufer und Fluchthelfer. Viele Details dieser Berichte sind in den Akten des MfS unkenntlich gemacht worden, sodass die daraus erwachsenen Schäden für andere Menschen derzeit nicht festzustellen sind. Kurras erhielt im Gegenzug monatlich mehrere hundert DM. Insgesamt erhielt er in zwölf Jahren vom MfS knapp 20.000 DM Lohn, ein Funkgerät, Abhörgeräte, mit denen er Vorgesetzte belauschte, und eine Minikamera zum Fotografieren von Dokumenten. Wegen seines Diensteifers erlaubte der West-Berliner Staatsschutz ihm, Akten in seine Wohnung mitzunehmen. Ab 1965 wurde er für das Abhören von Stasi-Funkverkehr zuständig.[4]

Nach seiner Erschießung Benno Ohnesorgs brach das MfS den Kontakt zu Kurras ab. Über seine Tätigkeit danach liegt nur ein ausgedünnter Aktenbestand vor. 1976 bot er einem Staatssicherheitsoffizier nochmals an, West-Berliner Interna weiterzugeben, stieß aber auf Ablehnung.[7]

Waffensammler und Sportschütze

Kurras wollte in der Nachkriegszeit eine Waffe aus Kriegstagen behalten: Das war 1946 der Anlass seiner Festnahme in der SBZ.[8] Er sammelte seit Beginn seiner Polizeikarriere Schusswaffen und galt deshalb als „Waffennarr“[9], der das Schießen täglich übte und dafür „alles getan hätte“.[1] Er verbrachte den Großteil seiner Freizeit beim Schießstand, gab bis zu 400 DM monatlich für Munition aus und war mehrere Jahre in Folge bester Schütze der West-Berliner Kriminalpolizei.

Er nutzte sein Zusatzgehalt vom MfS zur Finanzierung seines Hobbys und bat das MfS auch um bestimmte Pistolentypen für seine Privatsammlung. In einer internen Bewertung bezeichnete das MfS ihn daher als „sehr verliebt in Waffen“ und als „fanatischen Anhänger des Schießsports.“[10]

Erschießung Benno Ohnesorgs

Am 2. Juni 1967 war Kurras bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch von Mohammad Reza Pahlavi an der Deutschen Oper zur Objektsicherung und als ziviler „Greifer“ eingesetzt. Die monatelang vorbereitete Polizeimaßnahme sah vor, die Demonstranten auf engem Raum einzukesseln, dann von der Mitte her auseinander zu treiben und an den Außenrändern mit Wasserwerfern zu empfangen. Als „Rädelsführer“ betrachtete Einzelpersonen sollten dabei verhaftet werden. Um diese ausfindig zu machen, wurden Polizisten in Zivilkleidung unter die Demonstranten gemischt. Zu diesen Zivilpolizisten gehörte Kurras. Er trug als Dienstwaffe eine Pistole vom Typ Walther PPK, Kaliber 7,65 mm.

Entgegen der Weisung des Regierenden Bürgermeisters begann die polizeiliche Auflösung der unangemeldeten Versammlung nicht vor, sondern erst während der Opernvorstellung. Ein vorgeschriebener Räumungsbefehl erfolgte nicht, sondern die Polizei verprügelte zuerst Einzelne, dann ganze Gruppen, auch am Boden Sitzende, mit Polizeistöcken. Dabei und in der dadurch ausgelösten Panik kam es zu zahlreichen Verletzungen.

Kurz nach 20 Uhr begann die Aktion „Füchse jagen“, bei der Polizeitrupps in Uniform und Zivil flüchtende Demonstranten bis in Nebenstraßen und Hauseingänge hinein verfolgten, um sie dort weiter zu verprügeln und „Rädelsführer“ festzunehmen. Kurras gelangte mit etwa zehn uniformierten Polizeibeamten in den Innenhof des Hauses Krumme Straße 66/67, in den einige Demonstranten geflohen waren. Unter ihnen war Benno Ohnesorg, der seinerseits beobachten wollte, was den Geflohenen geschehen würde.

Im Innenhof verprügelte die Polizei einige der Anwesenden, darunter den am Boden liegenden Götz F., und trieb die übrigen hinaus. Ohnesorg stand als Beobachter dabei und wurde dann selbst von drei Beamten im Polizeigriff festgehalten und verprügelt. In dieser Situation fiel um 22:30 Uhr der tödliche Schuss, der Ohnesorg in den Hinterkopf traf. Mehrere Augenzeugen sahen aus wenigen Metern Distanz das Mündungsfeuer, hörten das Schussgeräusch und sahen Ohnesorg zu Boden fallen. Weitere Zeugen hörten den Dialog eines Kollegen mit Kurras:

„Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?“ – „Die ist mir losgegangen.“

Auf Fotografien ist Kurras Sekunden vor und nach dem Schuss unbedrängt im sauberen Anzug erkennbar. Auch eine Tonbandaufnahme der Szene existiert, auf der deutlich ein Schuss und danach der Befehl zu hören ist:[11]

„Kurras, gleich nach hinten! Los! Schnell weg!“

Kurras durfte entgegen der damaligen Strafprozessordnung noch in der Nacht Ohnesorgs Leiche besichtigen. Im Blick auf die Hämatome des Getöteten erklärte er, dieser müsse angesichts der erhaltenen Prügel „ein ganz Schlimmer“ gewesen sein.[12] Bei der Obduktion Ohnesorgs am folgenden Vormittag stellte der zuständige Arzt fest, dass man die tödliche Kugel im Hirn belassen, jedoch das Schädelstück mit dem Einschussloch herausgesägt und die Haut darüber zugenäht hatte. Eine sofort eingeleitete Suche danach blieb ergebnislos.

Prozesse

Kurras wurde der fahrlässigen Tötung angeklagt, eine Anklage auf Mord oder Totschlag wurde nicht zugelassen. Für seine Verteidigung spendete die Gewerkschaft der Polizei 60.000 DM. Die Staatsanwaltschaft zog das Verfahren an sich, als die Kriminalpolizei die Kollegen von Kurras, die unmittelbare Zeugen des Vorgangs im Innenhof der Krummen Straße gewesen waren, befragen wollte. Sie wurden im Hauptverfahren nicht mehr als Zeugen zugelassen.

Am ersten Tag der Hauptverhandlung im November 1967 sagte Kurras aus, er sei bei dem Versuch, einen „skrupellosen Rädelsführer“ festzunehmen, „plötzlich umringt worden […] von allen Seiten […]“: Das sei eine „gestellte Falle“ gewesen. „Das ist der Bulle, schlagt ihn tot“, habe er gehört. Dann sei er „von zehn oder elf Personen brutal niedergeschlagen worden“:[13]

„Ich wurde körperlich mißhandelt, und ich bildete mir ein, daß ich nun genug gelitten hätte, und zog nun im Liegen meine Dienstpistole hervor […]“

Die Rückfrage, ob er auf dem Rücken gelegen oder gekniet habe, konnte er nicht beantworten. Auf die Frage nach einem Warnruf antwortete er:

„Meine Zunge war wie gelähmt […] nach den erhaltenen Schlägen.“

Er habe „Messerbewaffnete“ in „drohender Haltung“ gesehen. Daraufhin habe er einen oder zwei Warnschüsse abgegeben: Dabei habe sich der zweite Schuss „durch das Hinzutun der anderen gelöst“, die mit feststehenden Messern „auf eine ganz kurze Stechdistanz“ herangekommen seien.

„Als ich nun zu mir kam, was stellte ich da fest? Niemand war da!“

Keiner von 83 Zeugen – auch keiner der beteiligten Kollegen von Kurras – hörte einen Warnschuss, sah Messer, ein Handgemenge und Kurras am Boden liegend. Keiner der Festgenommenen hatte Messer oder andere Waffen bei sich gehabt. Eine Spurensicherung am Tatort hatte nicht stattgefunden; das Pistolenmagazin von Kurras war sofort ausgetauscht worden. Ein zweites Projektil und eine Hülse blieben unauffindbar. Auch das herausgesägte Schädelstück blieb verschwunden. Während Polizeichef Erich Duensing behauptete, Kurras habe bei seiner Ankunft im Präsidium ausgesehen wie „zweimal durch den Dreck gewälzt“, sagte der Abteilungsleiter Alfred Eitzner aus, er habe gegen 23 Uhr am Anzug von Kurras weder Blut noch Grasflecken bemerkt.

Nur die Ehefrau eines Polizisten, die im Haus über dem Innenhof wohnte, bestätigte die Tathergangsversion des Angeklagten. Sie meldete sich erst kurz vor Prozessende und behauptete, sie sei bei der Vernehmung nicht nach ihren Beobachtungen auf dem Hof gefragt worden. Der Vernehmungsbeamte bestritt dies. Die Aussage eines neunjährigen Jungen wurde als unglaubwürdig eingestuft: Er hatte den Todesschuss vom Küchenfenster seiner Wohnung aus beobachtet und konnte Kurras und Ohnesorg eindeutig an ihrer Kleidung identifizieren. Er sah weder Messer noch einen Kampf zwischen Kurras und Studenten. Auch das Tonband eines Journalisten, auf dem nur ein Schuss zu hören war, wurde nicht als Beweismittel zugelassen; der Befehlsgeber an Kurras danach wurde nicht ermittelt. Einen psychologischen Test verweigerte er. Die Gutachterin konnte daher nichts Sicheres über eine „potenziell aggressive Verhaltensweise“ des Angeklagten feststellen.

Am 21. November 1967 sprach ihn die 14. Große Strafkammer des Landgerichts Moabit frei. In der Urteilsbegründung stellte Richter Friedrich Geus fest:

„Die Tötung war eindeutig rechtswidrig.“

Kurras habe objektiv falsch gehandelt. Die Bedingungen für Notwehr, Notstand oder Putativnotwehr – die Annahme einer Lebensgefahr – hätten nicht vorgelegen. Ohnesorg habe selbst am Boden gelegen:[14]

„Es besteht leider der dringende Verdacht, dass auf Ohnesorg auch dann noch eingeschlagen wurde, als er tödlich getroffen bereits am Boden lag […] Kurras weiß mehr als er sagt, und er hinterlässt den Eindruck, als wenn er in vielen Dingen die Unwahrheit gesagt hat.“

Es sei aber „nicht widerlegbar, dass er sich in einer lebensbedrohlichen Lage glaubte“.[15] Das Gericht habe „keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Tötung oder eine beabsichtigte Körperverletzung durch einen gezielten Schuss“ gefunden:[16]

„Es hat sich sogar nicht ausschließen lassen, dass es sich bei dem Abdrücken der Pistole um ein ungesteuertes, nicht vom Willen des Angeklagten beherrschtes Fehlverhalten gehandelt hat.“

Damit folgte der Richter einem psychiatrischen Gutachten, das Kurras bescheinigte, er sei bei der Tat „in seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit erheblich eingeschränkt“ gewesen, sodass „ihm ein besonnenes Überlegen und Verarbeiten der Geschehnisse unmöglich war.“[17]

In der Zwischenzeit war Kurras vom Polizeidienst suspendiert worden und arbeitete als Wachmann und Kaufhausdetektiv. Ein Jahr später kam es auf Antrag der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger – Otto Schily war der Rechtsanwalt von Ohnesorgs Vater – zur Revisionsverhandlung vor dem Bundesgerichtshof (BHG).[18] Im Oktober 1968 hob der BGH das Urteil wegen unzureichender Beweisaufnahme auf. Die Bundesrichter kritisierten zudem den Polizeieinsatz insgesamt:

„Diese Organisation war von vornherein geeignet, Konflikte hervorzurufen.“

Sie hielten Kurras für den ihm befohlenen Einsatz für „besonders ungeeignet“.[19]

1969 begann ein neues Verfahren vor dem Landgericht Berlin.[20] Da sich der Anwalt der Mutter Ohnesorgs, Horst Mahler, weigerte, dort in seiner Robe zu erscheinen, brach der Richter die Verhandlung ab.[21] Am 20. Oktober 1970 begann vor der 10. Strafkammer des Landgerichts Berlin ein neuer Prozess gegen Kurras. Bei seiner erneuten umfangreichen Beweisaufnahme würdigte das Gericht auch bisher ungenutztes Beweismaterial und stellte fest: Es könne keine Bedrohungssituation durch mit Messern bewaffnete Demonstranten für Kurras gegeben haben. Es fand aber auch keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Tötung Ohnesorgs. Kurras wurde am 22. Dezember 1970 trotz fortbestehender Zweifel an seiner Darstellung erneut freigesprochen. Der vorsitzende Richter erklärte ihm zum Abschluss:[22]

„Menschliches Fehlverhalten oder moralische Schuld: Das haben Sie mit sich selbst und dem Herrgott auszumachen und die Last selber zu tragen. Ihnen eine strafrechtliche Schuld nachzuweisen, waren wir nicht in der Lage.“

Kurras wurde ab 1971 wieder in den Polizeidienst (Innendienst) übernommen und arbeitete in der Funkleitzentrale. Er wurde zum Kriminaloberkommissar befördert und ging 1987 in Pension.[23] Er lebt mit seiner Frau in einer Eigentumswohnung in Berlin-Spandau.

Ohnesorgs Erschießung und der Freispruch des Todesschützen mobilisierte bundesweite Proteste und Kampagnen zur Veränderung der Medienlandschaft, der Hochschulstrukturen und der Polizeiausbildung. Sie diente auch Terrorgruppen als Bezugsdatum, so der Bewegung 2. Juni.

2007 erklärte Kurras: Heutige Polizisten würden viel zu selten von der Schusswaffe Gebrauch machen. Ihn hätte man damals allenfalls einmal, nicht mehrmals schlagen können:[12]

„Dann ist der Junge aber vom Fenster. Fehler? Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur einmal; fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen. Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus. Feierabend. So is’ das zu sehen.“

Otto Schily geht aufgrund dieser Aussage von Kurras davon aus, dass dessen Angaben im Prozess 1967, er habe aus Versehen und Notwehr geschossen, gelogen waren. Am 25. Mai 2009 erklärte Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD), wegen dieser Äußerungen sei Kurras nicht als Waffenbesitzer geeignet. Er wolle seine Waffenbesitzkarte und seine Waffen einziehen lassen. Außerdem will der Berliner Senat prüfen, ob eine Aberkennung der Pension von Kurras beamtenrechtlich möglich ist.[24]

Bewertung der Stasi-Akten

Die Historikerin Cornelia Jabs und der Diplompolitologe Helmut Müller-Enbergs von der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen gaben die dort zufällig entdeckte IM-Tätigkeit von Kurras am 21. Mai 2009 bekannt und kündeten einen Bericht darüber in der Zeitschrift Deutschland Archiv für den 28. Mai 2009 an. Sie lösten damit eine Debatte um mögliche, bisher unbekannte Hintergründe der Erschießung Ohnesorgs aus, die die Geschichtsschreibung zur westdeutschen Studentenbewegung verändern könnten.

Den Herausgebern zufolge gibt es bisher keinen Hinweis in den von ihnen gefundenen Akten, dass Kurras vom MfS einen Tötungs- oder Eskalationsauftrag erhalten hat, etwa um West-Berlin zu destabilisieren. Dies sei unwahrscheinlich, da das MfS sich selbst überrascht zeigte und wie folgt reagierte:[25]

„Material sofort vernichten. Vorerst Arbeit einstellen. Betrachten Ereignis als sehr bedauerlichen Unglücksfall.“

Kurras akzeptierte den Befehl („Zum Teil verstanden, alles vernichtet“) und forderte Geld für seine juristische Verteidigung. Die Verbindungsoffiziere brachen die Verbindung zu ihm jedoch ab. Auch in sein SED-Parteibuch wurden nach dem 2. Juni 1967 keine Marken mehr geklebt. Als IM wurde er von da an nicht mehr aktiviert; für eine offizielle Beendung seines Spähauftrags fehlt jedoch ein sonst üblicher Abschlussbericht. Am 8. und 9. Juni 1967 prüfte das MfS, ob Kurras ein Doppelagent sei, da man sich den Schuss auf Ohnesorg offenbar nicht anders erklären konnte. Ein interner Vermerk vom 8. Juni 1967 räumte ein, man habe seine „charakterliche Schwäche“ für Schusswaffen gekannt, aber unterschätzt. In einem weiteren internen Papier vom 9. Juni 1967 nannten MfS-Mitarbeiter Kurras „Mörder“ und „Verbrecher“.[1]

Aus diesen Akten folgerten beide Historiker, es habe keinen Mordauftrag des MfS gegeben.[26]

Carl-Wolfgang Holzapfel, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, stellte am 22. Mai 2009 Strafanzeige wegen Mordes gegen Kurras.

Kurras selbst räumte seine SED-Mitgliedschaft und indirekt auch seine Tätigkeit als IM des MfS am 24. Mai 2009 ein, bestritt aber einen Mordauftrag.[27]

Otto Schily nimmt diesen ebenfalls nicht an, vermutet aber einen indirekten Einfluss auf das Verhalten von Kurras am 2. Juni 1967:[28]

„Die entscheidende Frage für mich ist, ob sich der Polizeibeamte Kurras aufgrund seiner Stasi-Verpflichtungen in dieser Krisensituation anders verhalten hat, als er es sonst getan hätte.“

Schily nimmt an, dass dessen West-Berliner Polizeikollegen die Ermittlungen gezielt behinderten und sich verabredeten, um entlastend für Kurras auszusagen:

„Man muss schon fragen, ob das Verschwinden der Beweismittel und die merkwürdigen Zeugenaussagen anderer Polizisten alles Zufälle waren. Wenn die Polizei gewusst hätte, was es mit diesem Herrn auf sich hatte, hätte sie den Fall ganz anders angepackt.“

Sven Felix Kellerhoff vermutet auf dem Hintergrund sowjetischer Akten, Kurras könne in seiner Haftzeit 1946-49 als „Funktionshäftling“ zur Lagerverwaltung und Spitzel gegen Mitgefangene eingesetzt geworden sein. Dies könne auch seine vorzeitige Entlassung und spätere Mitarbeit beim MfS erklären. Gewissheit darüber könnten jedoch nur weitere Aktenfunde oder Kurras selbst geben.[29]

Literatur

  • Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967. Verlag 1900, Berlin 2007, ISBN 978-3-930278-67-1
  • Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs: Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das wiedervereinigte Deutschland, 2009, 3, (42)

Einzelnachweise

  1. a b c Titel Thesen Temperamente, 24. Mai 2009: Wer ist Karl-Heinz Kurras? Interview mit Uwe Soukup
  2. Sven Kellerhoff (Die Welt, 26. Mai 2009): Die Akten der Sowjets über Karl-Heinz Kurras
  3. die tageszeitung (TAZ), 22. Mai 2009: Ein deutsches Doppelleben
  4. a b Der Spiegel 22/25. Mai 2009, S. 47: Verrat vor dem Schuss
  5. Der Spiegel, 25. Mai 2009: 2. Juni 1967. Ohnesorg-Todesschütze war Stasi-Spion. Interview mit Helmut Müller-Enbergs
  6. Die Zeit, 22. Mai 2009: Benno Ohnesorgs Todesschütze war IM
  7. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2009: Stasi-Mitarbeiter erschoss Benno Ohnesorg
  8. Mechthild Küpper (FAZ, 21. Mai 2009): Aktenfund in der Birthler-Behörde: Stasi-Mitarbeiter erschoss Benno Ohnesorg
  9. Hannoversche Allgemeine, 22. Mai 2009: Ost-Berlins kühles Kalkül mit der Wut der Studenten
  10. Der Spiegel 22/25. Mai 2009, S. 48: Verrat vor dem Schuss
  11. Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967, Mai 2007, S. 79–130
  12. a b Uwe Soukup (Stern, 1. Dezember 2007): Kurras wird 80: Der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss
  13. alle folgenden Zitate nach Der SPIEGEL 46, 6. November 1967: „Bitte, bitte, nicht schießen!“
  14. Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967, Mai 2007, S. 106–112
  15. Tagesspiegel, 2. Juni 2007: Der Tote und das Mädchen
  16. Uwe Timm, Der Freund und der Fremde, München 2007, S. 92
  17. Der Spiegel 49, 27. November 1967: Prozesse/Kurras: Urteil im Zwielicht
  18. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juni 2007: Der Fall Ohnesorg: Wendepunkt für Otto Schily
  19. Der Spiegel, 7. Oktober 1968: Moabiter Landrecht
  20. DIE ZEIT, 2. Mai 1969, Nr. 18: Roben machen Anwälte
  21. TAZ, 20. November 2007: Der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss
  22. Der Tagesspiegel vom 23. Dezember 1970: Kurras wieder freigesprochen
  23. Der Spiegel Nr. 23, 2. Juni 1997: Mord ohne Mörder
  24. Süddeutsche Zeitung, 25. Mai 2009: Berlins Innensenator Körting will Kurras' Waffe einziehen
  25. Der Spiegel, 21. Mai 2009: Neue Recherchen: Ohnesorgs Todesschütze soll Stasi-Spion gewesen sein
  26. TAZ, 22.05.2009: Der Mann, der die Studenten radikalisierte: Ohnesorg-Schütze war Stasi-Spitzel
  27. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 2009: Kurras gesteht IM-Tätigkeit
  28. Der Spiegel 22/25. Mai 2009, S. 46: Verrat vor dem Schuss
  29. Sven Kellerhoff (Die Welt, 26. Mai 2009): Die Akten der Sowjets über Karl-Heinz Kurras