Koranexegese

Interpretation des Koran
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Tafsir arabisch تفسير „Erläuterung, Deutung, Interpretation“, die Exegese des Korans, gehört zu den wichtigsten islamischen Wissenschaftsdisziplinen. Die klassischen Kommentare und Erläuterungen zum Text des Koran folgen dem Aufbau des Korans nach Sure/Vers (āya), wie etwa der monumentale Korankommentar von At-Tabarī, der als klassisches Beispiel eines Tafsir gilt, sich in erster Linie an der Traditionsliteratur orientiert und in einer nach Möglichkeit ununterbrochenen Überliefererkette (isnad) die exegetischen Deutungen der Generation der Gefährten des Mohammed zum Korantext präsentiert. Solche Tafsīr-Werke nennt man at-tafsīr bi-ʾl-maʾṯūr / التفسير بالماثور, da die Exegese sowohl einzelner Wörter als auch der Koranverse mit dem konsequenten Rückgriff auf den Inhalt der Aussagen (aṯar/pl. āṯār) der Gefährten (sahaba) erfolgt. Die traditionelle Auslegung hatte zu keinem Zeitpunkt einen inhaltlich einheitlichen Charakter: Selbst die philologischen Interpretationen des Textes – oft unter Berücksichtigung der Sprache der altarabischen Poesie – sind recht unterschiedlich.

Geschichte des Tafsir

Bei der historischen Aufarbeitung des Entwicklung des Tafsir als literarischem Genre lassen sich vier Perioden unterscheiden: die ANfangszeit, die klassische Periode, die Reifephase und die zeitgenössische Periode. Obwohl die zeitlichen Abgrenzungen dieser Perioden schwierig festzuhalten sind, lassen sich auf diese Weise doch die inhaltlichen Hauptpunkte dieses Genres zusammenfassen.

Die Anfänge

Die ersten exegetischen Werke aus dem ausgehenden ersten und zweiten muslimischen Jahrhundert sind überwiegend in späteren Sammlungen (At-Tabarī, Ibn Kathir, al-Zamachschari) erhalten; letzterer bemühte sich eher um die philologische als um die dogmatische Auslegung des heiligen Textes. In den letzten Jahren sind bedeutende Koranexegesen, die vor die Schaffungsperiode von al-Ṭabarī zu datieren sind, publiziert worden: die Exegese des Mekkaners Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 722), deren handschriftliches Material auf das 12. Jahrhundert zurückgeht und der Korankommentar von Muqatil ibn Sulaiman (gest. 767) aus Basra; die der Edition des Werkes zugrunde gelegten Handschriften stammen ebenfalls aus dem späten 12. und 15. Jahrhundert. Die ältesten Handschriften einer Koranexegese stammen aus dem späten 9. Jahrhundert: sie sind die Abschriften vom Tafsīr-Werk des ägyptischen Gelehrten Abd Allah Ibn Wahb (gest. 812), den al-Ṭabarī in seinem genannten Werk durchgehend zitiert. Drei Bände des Werkes sind erstmals zu Beginn der 1990er Jahre publiziert worden (Lit.: Abd Allah ibn Wahb).

Klassische Periode

Das monumentale Werk Dschāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān جامع البيان عن تأويل آي القرآن, DMG Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-qurʾān ‚Zusammenfassung der Erläuterungen zur Interpretation der Koranverse‘ von At-Tabari gilt als klassischer Korankommentar. Es handelt sich um eine großangelegte Sammlung von Traditionen und Analysen, wobei in zahlreichen Fällen zur Klärung strittiger Fragen auf die arabische Grammatik zurückgegriffen wird.

Gattungen

Philologische Koranexegese

Bereits im ausgehenden ersten muslimischen Jahrhundert (Beginn des 8. Jahrhunderts n. Chr.) hat man sich mit seltenen, nur schwer verständlichen Wörtern des Korans beschäftigt, denn viele Begriffe lassen unterschiedliche Deutungen zu. Diese in der Koranexegese selbständige Gattung nannte man gharāʾib al-Koran / غرائب القرآن / ġarāʾibu ʾl-Qurʾān / ‚seltsame (Begriffe) des Korans‘. In Büchern unter diesem Titel unterzog man die gesammelten Wörter einer genauen Analyse. In vielen Fällen sind die Begriffe anhand der in der Frühzeit bekannten gleichlautenden Begriffe der Poesie der Dschahilyya, in der eine bestimmte Wortbedeutung noch lebendig war, erläutert worden. Die älteste Autorität auf diesem Gebiet der exegetischen Literatur ist ʿAbd Allāh ibn ʿAbbās (gest. gegen 688), dessen philologische und exegetische Erläuterungen zum Korantext in den tafsir-Werken der Folgegenerationen verarbeitet worden sind. Dass die Poesie als Hilfsmittel zur Erläuterung schwieriger Begriffe im Koran herangezogen wurde, bestätigt eine auf Ibn ʿAbbās zurückgeführte Empfehlung:„Wenn im Koran (euch) etwas fremdartig erscheint, so schlagt in der Poesie nach! Denn die Poesie ist arabisch...“ [1] Die großen Korankommentare enthalten zahlreiche Verszeilen aus der altarabischen Poesie, die als Quellen zum Verständnis koranischer Begriffe herangezogen werden. [2] In die gleiche Richtung weist auch eine dem zweiten Kalifen Umar ibn al-Chattab zugeschriebene Äußerung an seine Zeitgenossen: „ihr müsst euch den Gedichten der Dschāhiliyya widmen, denn dort findet sich die Exegese eueres Buches (d.i. des Korans)“. [3] Die Poesie als Hilfsmittel zur Klärung koranischer Termini hat in der exegetischen Literatur einen festen Platz; hierbei kam den im archaischen Wortschatz bewanderten Beduinen eine entscheidende Bedeutung zu. [4]

Die koranischen Lesarten

Die Tafsir-Literatur beschäftigt sich neben der dogmatisch-theologischen und philologischen Auslegung des Korantextes auch mit wichtigen Teilaspekten der Offenbarung: mit den koranischen Lesarten (Koranlesung: qirāʾāt / قراءات). Die nicht-kanonischen Lesarten ( qirāʾāt schāḏḏa / schawāḏḏ ), die im sogenannten uthmanischen Kodex, zusammengestellt auf Anordnung des Kalifen Uthman ibn Affan, nicht beachtet worden sind, gingen in koranspezifische Werke ein. Bahnbrechende Studien haben auf diesem Gebiet bereits Theodor Nöldeke, Arthur Jeffery und Gotthelf Bergsträsser hervorgebracht. Einige Werke, deren Verfasser im 10. Jahrhundert gewirkt haben, liegen in der kritischen Edition von G. Bergsträsser (1938) vor. A. Jeffery (1937) hat das „Buch der Koranexemplare“ (Kitāb al-masāhif) von Ibn Abī Dāwūd as-Sidschistānī († 928)[5] herausgegeben, in dem 27 alte Koranexemplare mit ihren Lesarten zusammengestellt sind. Aus dem Kitāb Fadāʾil al-Koran (Die Vorzüge des Korans) von Abū ʿUbaid al-Qāsim ibn Sallām († 838) hat Anton Spitaler das Kapitel über die Lesarten ediert und ausgewertet.[6] Das Gesamtwerk liegt seit 1995 in zwei Bänden im Druck vor. [7] Die meisten, vom uthmanischen Kodex abweichenden Lesarten sind im Korankommentar von At-Tabarī erhalten.

Abrogation und historische Anlässe der Offenbarung

Die Frage der Abrogation eines oder mehrerer Koranverse durch andere Verse الناسخ والمنسوخ / al-nāsiḫ wal-mansūḫ und die Erörterung der historischen Anlässe, die zur Offenbarung bestimmter Verse geführt haben (asbāb an-nuzūl / أسباب النزول), sind weitere Teilgebiete der Koranexegese mit eigenen monographischen Schriften.

Juristische Koraninterpretation

In speziellen Sammlungen hat man nur die juristisch relevanten Verse des Korans aus der Sicht des Fiqh erörtert. Diese koranexegetischen Bücher tragen meistens den Titel ahkām al-Koran / أحكام القرآن / aḥkāmu ʾl-qurʾān / ‚Rechtsvorschriften des Korans‘. Der erste, der ein solches Werk verfasste, ist asch-Schāfiʿī († 820); es ist allerdings nicht im Original, sondern in einer späten Bearbeitung aus dem 11. Jahrhundert erhalten. Das älteste, im Original vorliegende Werk unter diesem Titel stammt aus dem 9. Jahrhundert; sein Verfasser ist der Kadi der Malikiten von Bagdad Ismāʿīl ibn Ishāq al-Dschahdamī / اسماعيل بن اسحاق الجهضمي / Ismāʿīl b. Isḥāq al-Ǧahḍamī († 895), der die koranischen Vorschriften aus der Sicht seiner Rechtsschule erörterte. Dieses alte, allerdings nur fragmentarisch erhaltene Werk ist seit 2005 im Druck zugänglich.[8] Die Summe der hier genannten Disziplinen fasst man unter dem Begriff „Koranwissenschaften“ (علوم القرآن) zusammen.

Die dogmatisch-politischen Kämpfe in der islamischen Geschichte haben auch in der Exegese ihre Spuren hinterlassen, die in der Orientalistik erstmals Ignaz Goldziher in seinem bahnbrechenden Werk Die Richtungen der islamischen Koranauslegung (Leiden 1920) systematisch dargestellt hat.

Die „Unnachahmlichkeit“ des Korans

Ein von den obigen Disziplinen der Koranwissenschaften weitgehend unabhängiger Wissenschaftszweig, der sich mit dem Koran befasst, ist die Lehre vom Wundercharakter des heiligen Textes: i'dschas al-Koran / إعجاز القرآن / iʿǧāzu ʾl-Qurʾān / ‚Unnachahmlichkeit des Korans‘. Mehrere Koranstellen deuten darauf hin, dass die Theorie über den Wundercharakter des Korans bereits durch den Propheten Mohammed begründet wurde:

„Sag: Gesetzt den Fall, die Menschen und die Dschinn tun sich (alle) zusammen, um etwas beizubringen, was diesem Koran gleich(wertig) ist, so werden sie das nicht können. Auch (nicht), wenn sie sich gegenseitig (dabei) helfen würden.“

Sure 17, Vers 88: Übersetzung: Rudi Paret

Die Lehre über die Unnachahmlichkeit des Korans haben die Mu'taziliten, unter ihnen vor allem al-Dschahiz in seinem Werk hudschadsch al-nubuwwa / حجج النبوة / ḥuǧaǧu ʾl-nubuwwa / ‚Beweise der Prophetie‘ und al-Baqillani († 1013), einer der bedeutendsten Schüler von al-Asch'ari in seinem Die Unnachahmlichkeit des Korans wissenschaftlich begründet und entwickelt.

Unter den Kommentaren des 20. Jahrhunderts nimmt Tafsīr al-Manār des ägyptischen Gelehrten Muhammad Abduh und Raschid Rida einen repräsentativen Platz ein. Die Exegese wird auch in Kreisen muslimischer Autoritäten der Gegenwart weitergeführt.

An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entsteht zur Zeit ein umfangreicher Kommentar, der auch die Dokumentation des Korantextes in seiner handschriftlichen und mündlichen Überlieferungsgestalt beinhalten soll (Corpus Coranicum).

Quellennachweise

  1. Ignaz Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920 S. 70; Wansbrough (1977), S. 217
  2. Stefan Wild (Hrsg.): The Qurʾan as Text.Brill. Leiden 1996. S. 244-245; 248-251
  3. Ignaz Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920 S. 69. Anm. 4; Wansbrough (1977), S. 217
  4. Siehe darüber im einzelnen: Joshua Blau: The role of the beduins as arbiters in linguistic questions. In: Journal of Semitic Studies (JSS), 8 (1963), S. 42ff.
  5. Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Leiden 1967. Bd. 1, S. 14
  6. Abū ʿUbaid al-Qāsim b. Sallām: Faḍāʾil al-Qurʾān. Ed. (partim) Anton Spitaler. In: Documenta islamica inedita. Berlin 1952. S. 1-24
  7. Publikationen des Ministeriums für Waqf und religiöse Angelegenheiten. Rabat/al-Muhammadiya. 1995
  8. Publiziert bei Dār Ibn Hazm. Beirut 2005

Literatur

  • Ignaz Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920
  • Theodor Nöldeke: Geschichte des Qorans. Leipzig 1909–1938 (3 Bände. Bd. 3:Gotthelf Bergsträsser und Otto Pretzl: Die Geschichte des Korantexts).
  • Theodor Nöldeke: Neue Beiträge zur semitischen Sprachwissenschaft. Strassburg 1910. Zur Sprache des Korans. S. 1-30.
  • Rudi Paret: Der Koran. Übersetzung. Stuttgart 1962.
  • Rudi Paret: Der Koran. Kommentar und Konkordanz. Stuttgart 1971.
  • Helmut Gätje: Koran und Koranexegese. Zürich 1971.
  • Arthur Jeffery: The foreign vocabulary of the Qurʾān. Baroda 1938.
  • Arthur Jeffery: Materials for the history of the text of the Qurʾān. The old codices. Cairo 1936. Leiden 1937
  • Andrew Rippin: The exegetical genre asbāb al-nuzūl: a bibliographical and terminological survey. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies (BSOAS). Band XLVIII, 1985, S. 3–15.
  • Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Band I. Brill, Leiden 1967, S. 3–49 (Qur'ānwissenschaften).
  • John Wansbrough: Quranic studies. Sources and methods of scriptural interpretation. Oxford University Press, Oxford 1977, ISBN 0-19-713588-9.
  • ʿAbd Allāh b. Wahb al-Qurašī: Tafsīr al-Qurʾān. Band I.–II. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1993–1995, ISBN 3-447-03291-X, ISBN 3-447-03688-5(?!) – (Herausgegeben und kommentiert von Miklos Muranyi).
  • ʿAbd Allāh b. Wahb al-Qurašī: Die Koranwissenschaften. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1992, ISBN 3-447-03283-9 (Herausgegeben und kommentiert von Miklos Muranyi).