Der Begriff Historischer Materialismus wurde im Rahmen der Systematisierung des Marxismus gebildet und bearbeitet die Geschichtstheorie von Marx und Engels sowie ihren Schülern. Abkürzend wird er auch als Histomat bezeichnet.
Der Historische Materialismus beschreibt Änderungen in der Geschichte hinsichtlich ökonomischer und technischer (materialistischer) Entwicklung und Umstände, nicht als eine undeterminierte Abfolge von Ereignissen. Als Motor dieser Entwicklung werden die resultierenden Konflikte angesehen. Der Historische Materialismus steht damit im Gegensatz zum Idealismus Hegels, der Geist und Ideen als Ursprung der geschichtlichen Veränderungen sieht.
Eine Kernaussage des "Historischen Materialismus" ist, dass der Mensch, indem er mit seiner Umgebung durch seine Arbeit in Kontakt tritt, sich als gesellschaftliches Wesen konstituiert, und mit anderen Menschen bestimmte Beziehungen gesellschaftlicher Natur unterhält. Diese Beziehungen ihrerseits haben einen Einfluss auf ihn als Mensch.
Durch den Klassenkampf sind die sozialen Beziehungen zwischen den Klassen pausenlos in Bewegung. Marx erklärt diese Bewegung zur Grundlage der menschlichen und zivilisatorischen Entwicklung. Einer relativ ruhigen Etappe mit mehr oder weniger feststehenden Produktionsverhältnissen und Arbeitsteilung folgt jeweils eine kurze, heftige "revolutionäre" Phase des Klassenkampfes, in der die Unterklassen versuchen, das Produktionsverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern und sich die Produktionsmittel anzueignen. Anschließend werden sich neue Produktionsverhältnisse herauskristallisieren und der Klassenkampf beginnt erneut.
Entwicklung der menschlichen Zivilisation
Karl Marx hat verschiedene Gesellschaftsformen klassifiziert, die er anhand der Produktionsverhältnisse voneinander unterscheidet. Er unterscheidet drei gesellschaftliche Grundformen:
Wird der Kapitalismus überwunden, folgen Sozialismus und Kommunismus als gesellschaftliche Formen.
Stammesgesellschaft
Die Stammesgesellschaft ist nach Karl Marx die ursprünglichste Form des menschlichen Zusammenlebens. Sie wird charakterisiert durch eine minimale Arbeitsteilung, archaische Techniken und eine geringe Produktivität. Privatbesitz ist selten oder existiert nur in gemeinschaftlicher Form, d.h.: die Produktionsmittel sowie die Produkte befinden sich im kollektiven Besitz der Gemeinschaft. Eine solche "klassenlose" Gesellschaft bezeichnet Marx als "Urform des Kommunismus".
Mit dem technologischen Fortschritt schaffen es die Menschen irgendwann, mehr zu produzieren, als sie zum unmittelbaren Überleben benötigen. Das zum eigenen Überleben Nicht-Benötigte ermöglicht das erste mal den Tausch.
Folgende Stammgesellschaften werden im Marxismus als Beispiele angeführt:
- Die Asiatische Gesellschaft:
- Eine ländliche, auf Landwirtschaft basierende Gesellschaft, wo eine übergeordnete Autorität über die Ländereien verfügt und sie den Familien zur Bearbeitung überläßt. Der erwirtschaftete Mehrwert wird von der übergeordneten Autorität an die Mitglieder der Gemeinschaft verteilt. Diese Gesellschaft kennt laut Marx noch keine Klassen.
- Die Antike Städtegesellschaft:
- In antiken Städtegesellschaften (z.B. römischen und griechischen Städten) konzentriert sich die Macht und der Reichtum in den Städten und es entstehen militärische Organisationen, um diese zu sichern. Die Ländereien befinden sich meist noch in gemeinschaftlichem Besitz, parallel dazu entwickelt sich jedoch langsam, aber sicher der Privatbesitz. Jene Mitglieder der antiken Stadt, die am aktiven Leben der Stadt teilnehmen, profitieren vom gemeinschaftlichen Besitz. Es entstehen die ersten sozialen Klassen: Sklaven und Meister. Diese Gesellschaftsform werde durch den Aufstand der Sklaven gegen ihre Herren beendet, wobei unter anderem der Spartacus-Aufstand als Beispiel angeführt wird.
- Die germanische Gesellschaft:
- Die germanische Gesellschaft ist eine ländliche Kultur, mit kleinen, weit verstreuten Besitztümern in der Hand bestimmter Familien. Gemeinschaftsbesitz existiert zum Teil noch (Allmenden). Soziale Hierarchien bilden sich zwischen den Familien.
Feudale Gesellschaft
Die Feudale Gesellschaft ist gleichzeitig städtisch und ländlich und stark hierarchisch aufgebaut.
Auf dem Land herrschen die großen Grundbesitzer und Lehnsherren, ihre Ländereien werden von Leibeigenen bearbeitet.
In den Städten wiederum basiert die Hierarchie auf den Gilden und Zünften.
Nach Marx öffnet die feudale Gesellschaft über den Schutz des handwerklichen Besitzes und Kapitals den Weg für die Entwicklung des Kapitalismus.
Kapitalistische Gesellschaft
Die kapitalistische und bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich einerseits durch einen hohen technischen Entwicklungsstand und andererseits eine ausgeprägte Arbeitsteilung aus. Die sozialen Klassen sind scharf voneinander abgegrenzt und mit der Entwicklung des Handels und der Industrialisierung entsteht eine neue Klasse: Das aus dem städtischen Handwerk heraus entstandene Bürgertum (Bourgeoisie).
Neue Märkte, die Entstehung von Manufakturen, die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals und vor allem die Industrialisierung führen zu einer massiven Produktivitätssteigerung. Der Aufschwung des Bürgertums geschieht Marx zufolge auf Kosten der Arbeiterklasse, die selbst über keinerlei Produktionsmittel verfügt. Landflucht, Armut, Krankheit und ein Gefühl der Entfremdung zeichnen die Angehörigen des Proletariats aus.
Der Kapitalismus ist erst kommerzieller Natur: Das Bürgertum bereichert sich, entwickelt neue Produkte, erschließt neue Märkte und multipliziert seine Ressourcen. Diese Art des Kapitalismus wird mehr und mehr vom industriellen Kapitalismus ersetzt - Produktivitätssteigerung und Verstädterung sind die Folgen.
Marx' utopische Schlussfolgerung nach, die auf Analysen seiner Beobachtungen der englischen Hochindustrialisierung zurückgehen, grabe sich die kapitalistische Gesellschaft ihr eigenes Grab, weil der wachsende Konflikt zwischen Bürgertum und Proletariat zwangsläufig zum Sturz der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse führen werde. Laut dem Autor handelt es sich um eine Zwangsläufigkeit, die auf dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate basiert.
Dann werde laut Utopie der Weg frei für eine kommunistische, klassenfreie Gesellschaft. In dieser gäbe es keinen Privatbesitz mehr, die Produktionsmittel würden Gemeinschaftsbesitz sein.
Von der Theorie zur Praxis
Für die Anhänger des Marxismus-Leninismus ist der historische Materialismus das "wissenschaftliche und revolutionäre Studium der Gesellschaft und ihrer Entstehung". Durch die Feststellung, dass die materiellen Bedingungen der sozialen Existenz die Geschichte der Menschen hervorbringen, könne man jede Gesellschaft an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung studieren und verstehen.
Die unbewusste historische Bewegung, die Marx beschreibt, soll nun nach Ansicht seiner Anhänger und Nachfolger den Menschen bewusst gemacht werden, worauf sich die Massen organisieren sollen und die "proletarische Revolution" beginnen kann; d.h. der "letzte Klassenkampf", der zur marxschen Utopie einer kommunistischen Gesellschaft führt, während hingegen bei Marx die Entwicklung zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus nicht erzwungen werden muss. Die Utopie der kommunistischen Gesellschaft haben Karl Marx und Friedrich Engels im "Kommunistischen Manifest" (1848) auf den Punkt gebracht: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist."
Dass der so genannte "real existierende Sozialismus" dieser Utopie nicht entsprach, zeigt die Geschichte der sozialistischen Staaten.
Josef Stalins verband, aufbauend er auf die philosophische Vorarbeit Lenins, seine eigentümlichen Interpretationen des theoretischen Werks mit dem Dialektischer Materialismus. Dies wurde einer der wichtigsten Bestandteile der Sowjetideologie (siehe "Über Dialektischen und Historischen Materialismus").
Kritische Schlussbemerkungen
Wie andere von Marx' Theorien, wurde die Theorie des Historischen Materialismus von Politikern instrumentalisiert und wird deshalb heute von vielen Menschen prinzipiell abgelehnt. Aus soziologischer Sicht handelt es sich jedoch nur um eine Theorie unter vielen, eine der diversen Möglichkeiten, das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft zu erklären.
Positiv sei zu vermerken, dass Karl Marx als einer der ersten Autoren einen interdisziplinären (in eigenen Worten: "globalen, allumfassenden") Ansatz gewählt hat, um das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft zu erklären. Seine Theorien und Analysen - sowohl wirtschaftlich, politisch als auch soziologisch - sind in sich selbst kohärent und schlüssig und leicht anzuwenden. Dies geht auf eine bewusste Ausklammerung weiterer Faktoren des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere psychologischer, zurück. Diese wurden als "Nebenwidersprüche" eingeordnet und nicht weiter behandelt. Somit ist die marxsche Gesellschaftsanalyse bei weitem nicht so vollständig, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag.
Marx' Analyse der Entwicklung der menschlichen Zivilisation hat somit heute nunmehr historischen und methodischen Charakter, da die Anthropologie, Ethnologie, Archäologie und Geschichtsforschung seit seiner Lebenszeit neue Erkenntnisse über die frühen Gesellschaftsformen und -strukturen gewonnen haben, einige damals aktuelle Erkenntnisse unterdessen revidiert und umfassend ergänzt und erweitert wurden.
Dennoch werden auch gegenwärtige Ereignisse weiterhin aus marxistischer Sicht mit dem historischen Materialismus erläutert. Eine geläufige, gegenwärtige Argumentation ist, dass der Irak-Krieg auf ökonomische und militärische Umstände zurückzuführen sei, welche zum Ziel die Ölförderung und Bedienung der amerikanischen Rüstungsindustrie hätten. Dabei werden jedoch weitere Faktoren wie Konjunktur, staatliche Propaganda oder Unterdrückung nicht weiter berücksichtigt. Vor dem kommunistischen wie auch antikommunistischen, dogmatischen Hintergrund erscheint die Hinfälligkeit von Marx', auf dem damaligen Wissensstand basierenden, Schlussfolgerungen als ein "Verwerfen" - innerhalb seiner eigenen dialektisch-materialistischen Methode könne dies jedoch als eine sich entwickelnde "Aufhebung" auf ein höheres Niveau ("Negation der Negation") erscheinen.
Literatur
Weblinks
- http://philolex.de/marx.htm#hima - Kritische Betrachtung