Fundamentalismus

Überzeugung, die ihre Interpretation einer inhaltlichen Grundlage (Fundament) als einzig wahr annimmt
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Der Begriff Fundamentalismus bezeichnet eine religiöse oder weltanschauliche Strömung, deren Ziel eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der Religion oder Ideologie ist.

Sprachgebrauch

Im 20. Jahrhundert fand der Begriff Fundamentalismus Eingang in die Umgangssprache, insbesondere in politischen oder künstlerischen Auseinandersetzungen. Im populären Sprachgebrauch werden unter dem Begriff Fundamentalismus zuweilen unterschiedslos konservative religiöse Gruppen, gewalttätige Mitglieder einiger Volksgruppen mit mehr oder weniger religiöser Motivation oder Terroristen zusammengefasst.

Während es unbestreitbar unter diesen Gruppentypen Überschneidungen gibt, lassen sie sich nicht prinzipiell gleichsetzen. Fundamentalisten sind dadurch charakterisiert, dass sie kompromisslos auf den ursprünglichen Grundlagen (oder dem, was sie darunter verstehen) ihrer Religion oder Partei bestehen und darüber keine Diskussion zulassen.

Konservative oder orthodoxe Richtungen von Religionen oder Ideologien dagegen stehen gegenwärtigen Entwicklungen kritisch oder ablehnend gegenüber, nehmen dabei aber eine moderate oder differenzierte Haltung ein; ein wesentlicher Unterschied zum Fundamentalismus ist die Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit.

Das wesentliche Charakteristikum totalitärer religiöser Gruppen ist eine vollständige Einbindung der Mitglieder bezüglich aller Lebensbereiche, die nicht einmal für kritische Gedanken Freiraum gibt - solche Gruppen können theologisch Fundamentalisten sein, aber sie kommen ebenso unter neuen religiösen Bewegungen vor.

Terroristische Gruppen üben Gewalt undifferenziert gegen Unbeteiligte aus, um ihre, gewöhnlich politischen, Ziele zu erreichen. Die Motivation kann ganz oder teilweise aus einer religiösen oder ideologischen Überzeugung stammen; diese ist aber nicht notwendigerweise fundamentalistisch.

Es wird insbesondere dem religiösen Fundamentalismus manchmal der Vorwurf gemacht, auf dem Boden einer rückwärts gewandten Weltsicht intolerante Missionierungsabsichten zu hegen.

Allgemeines

Fundamentalismus, der als eine grundsätzliche Gegenbewegung gegen die Moderne gesehen werden kann, sieht die grundlegenden Prinzipien einer Religion durch Relativismus, sexuelle Freizügigkeit, Pluralismus, Historismus, Toleranz und das Fehlen von Autorität gefährdet. Er propagiert die Rückkehr zu traditionellen Werten, striktes Festhalten an religiösen Dogmen. Ein Mittel dazu sieht er in der Instrumentalisierung der Politik. Er geht wo weit, dass er die Trennung zwischen Religion und Politik aufgibt, um seine Ziele auch mit politischen Mitteln durchsetzen zu können.

Die fundamentalistische Weltanschauung ist in der Regel durch ein dualistisches Konzept des Niedergangs, nach dem die Anhänger des Wahren und Guten im Kampf gegen die Schlechten, anders Denkenden und anders Gläubigen begriffen sind, geprägt. Dem könne in der Konsequenz nur mit der Errichtung einer Theokratie entgegengewirkt werden. Fundamentalistische Bewegungen existieren in allen großen Weltreligionen, wenn auch die genaue Einordnung einer Bewegung als fundamentalistisch oft problematisch ist. Charakteristisch für den Fundamentalismus sind die unkritische Rezeption heiliger Texte und die Ablehnung kritischer, wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit religiösen Texten (siehe Verbalinspiration).

Religionssoziologisch bilden die Fundamentalisten eine kleinere Gruppe innerhalb einer großen Religion, die sich von der Mehrheit absetzt, weil diese die grundlegenden Prinzipien der Religion verraten habe. Versteht man Fundamentalismus als eine Bewegung zurück zu den Quellen der Religion, so waren die Reformatoren in vergröberter Sicht ebenfalls eine Art Fundamentalisten.

Christlicher Fundamentalismus

Entstehungsgeschichte

Im Christlichen Kontext wurde der Ausdruck "Fundamentalismus" erstmals verwendet im frühen 20. Jahrhundert im Rahmen der Kontroverse zwischen konservativer und liberaler Theologie innerhalb der protestantischen Kirchen der Vereinigten Staaten. Eine konfessionsübergreifende Gruppe von führenden Theologen aus dem englischen Sprachraum trat in einer Buchreihe "The Fundamentals" (The Fundamentals online (englisch)) für konservative Theologie und gegen historisch-kritische Exegese auf. Aufgrund dieses Namens kam es zur Bezeichnung Fundamentalisten für die Autorengruppe, die jedoch nach heutigen Sprachbegriffen eine evangelikale aber keine fundamentalistische Theologie vertreten.

Parallel dazu entwickelten sich auch in der Basis der Bewegungen, die innerhalb ihrer jeweiligen Konfession gegen die liberalen oder modernistischen Strömungen protestierten, da diese die Grundlagen des Christentums zugunsten von agnostischen Prinzipien verlassen hätten. Die "Liberalen" hätten eine säkulare, humanistische und skeptische Religion gegründet, basierend nicht mehr auf dem Christentum, sondern auf der zunehmend pluralistischen europäischen Kultur, die aus der Aufklärung entstanden sei.

In den 1920ern fusionierten die beiden ungleichen Bewegungen in der World's Christian Fundamentals Association auf der Basis von fünf Grundwahrheiten des Christentums:

Es entwickelte sich in den folgenden Jahren ein breites konservatives Netzwerk von Bibelschulen, Missionswerken, und Verlagshäusern. Diese Bewegung wurde als Fundamentalismus bezeichnet, umfasste aber neben den eigentlichen Fundamentalisten auch die wesentlich grössere Gruppe der Evangelikalen, die sich nach wachsenden Spannungen in den 1950er Jahren offiziell vom Fundamentalismus trennte.

Protestantischer Fundamentalismus

Wenn von christlichem Fundamentalismus geredet wird, ist im allgemeinen der protestantische Fundamentalismus gemeint. Er entstand aus einer Protestbewegung gegen rationalistische Extreme der historisch-kritischen Forschung in der Theologie, verdrängte Spiritualität und Tradition und Infragestellung biblischer moralischer Werte innerhalb der Kirchen. Daraus entwickelte sich eine rigorose Ablehnung aller Formen von moderner Theologie, "freier Moral" und Pluralismus.

Protestantische Fundamentalisten behaupten eine bibeltreue Theologie mit biblisch begründeter Wertordnung, Gottesdienstform und Kirchenorganisation, die - wie die spannungsreichen Konflikte in der Geschichte der Fundamentalisten zeigen - jedoch hinsichtlich des Bibelverständnisses, Wertefestlegungen, und kirchengeschichtlichen Entwicklungen stark voneinander abweichen können.

Vorgeworfen wird ihnen häufig die radikale Ablehnung aller christlichen Ausprägungen, die nicht der eigenen entsprechen, das Absolutsetzen der eigenen Position, und die Verweigerung jeden Dialogs.

Für die protestantischen Fundamentalisten ist die wörtliche Irrtumslosigkeit der Bibel nicht nur in religiösen, sondern auch in geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Belangen eine wesentliche und unverzichtbare Glaubensgrundlage - das unterscheidet ihre Bibelauslegung von der anderer konservativer Christen, die die Bibel zwar ebenfalls als Gottes Wort ansehen, aber moderne Methoden der Exegese nicht prinzipiell ablehnen.

Eine Gruppe von Fundamentalisten in den USA lehnt moderne Bibelübersetzungen entschieden ab; nicht nur wegen Unterschieden in der Übersetzung, sondern auch wegen des griechischen Urtextes, der auf der modernen Textkritik basiert: ihre "richtige" King James Bibel hat ihr Fundament im Textus Receptus der Reformationszeit. Im deutschen Sprachraum bevorzugen Fundamentalisten die als wortgetreu geltende Elberfelder Bibelübersetzung.

Christliche Fundamentalisten lehnen die Darwinsche Evolutionstheorie ab, da sie der Bibel widerspreche. In den USA erreichte diese Kreationismus-Debatte in den 1930er Jahren ihren Höhepunkt im so genannten Affenprozess, in dessen Folge die Lehre der Evolutionstheorie an den Schulen in einigen amerikanischen Staaten gesetzlich verboten wurde.

Die weltweite Organisation der protestantischen Fundamentalisten ist der International Council of Christian Churches (ICCC), gegründet 1948. Der Ökumenische Rat der Kirchen wird als liberal und linksgerichtet abgelehnt, und auch zur Evangelischen Allianz erfolgt eine Distanzierung. Im deutschen Sprachraum gibt es keine Kirchen oder Gemeinden, die Mitglied des ICCC sind.

Eine neuere Ausprägung des christlichen Fundamentalismus ist die amerikanische Religiöse Rechte. Diese sieht das wahre Christentum in einer Kombination fundamentalistischer Grundwahrheiten mit Kapitalismus, traditionellen Familienwerten, Waffenbesitz, Religionsfreiheit (verstanden als absolute Trennung von Kirche und Staat, s.a. Laizismus) und Amerika als dem Gelobten Land, und kämpft teilweise militant gegen Abtreibung, Homosexualität, und die politische Linke.

Katholischer Fundamentalismus

Auch auf katholischer Seite gibt es fundamentalistische Strömungen, die jedoch gewöhnlich nicht als Fundamentalismus bezeichnet werden.

Katholische Fundamentalisten definieren die wahre christliche Kirche anders als die protestantischen Fundamentalisten und haben auch ein anderes Verhältnis zur Bibel. Das Ideal des katholischen Fundamentalismus ist eine Rückkehr zum 19. Jahrhundert, wo sich die Kirche noch als geschlossene Gruppe gegen moderne Irrtümer abgrenzte.

Gemeinsam sind katholischen und protestantischen Fundamentalisten die absolut gesetzten konservativen Werte bezüglich Familie und Moral. Die Evolution wird im katholischen Fundamentalismus im allgemeinen ebenfalls abgelehnt.

Beispiele für fundamentalistische katholische Strömungen sind Ultramontanismus und Integralismus innerhalb, Priesterbruderschaft St. Pius X. und Sedisvakantismus außerhalb der katholischen Kirche.

Islamischer Fundamentalismus

Der islamische Fundamentalismus, oft auch als Islamismus bezeichnet, versteht sich als ein kritisches Moment am vermeintlichen Niedergang des Islam in der islamischen Welt und der Diaspora.

Sowohl im Glaubenssystem wie auch in den Handlungsanweisungen stellt er Abweichung von den wörtlich verstandenen Texten aus Koran und Hadit fest, und macht als ideen- und sozialkritische Bewegung für Unmoral, Korruption und andere politische Übel der islamischen Länder ihre "Verwestlichung" verantwortlich. Saiyid Qutb (1906 - 1966), einer der Vordenker der Muslimbruderschaft, propagierte romantisierend einen islamischen Staat als Garant sozialer Gerechtigkeit. Hierbei unterscheiden sich Fundamentalisten von "Konservativen" in der Verwerfung der historischen, bis an die Gegenwart gewachsenen islamischen Traditionen als "degeneriert".

Der islamische Fundamentalismus ist eine Reaktion auf den Identitätsverlust, den viele arabische Länder durch die Kolonisierung erlebten, und auf eine durch den Westen dominierte Globalisierung, die westliche Werte wie Individualismus oder Säkularismus absolut setze und traditionelle orientalische Werte, wie Gemeinschaftssinn und Familie, verdrängen wolle.

Im Islam bildeten sich fundamentalistische Bewegungen im engeren Sinne in den 1930er Jahren, gleichwohl hatte es in der Geschichte des Islam immer wieder radikale religiöse Bewegungen gegeben, so z.B. die Wahhabiten im 18. Jahrhundert, die später den heutigen Staat Saudi-Arabien prägten. Bis heute maßgeblich ist vor allem die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft (Al-Ikhwan al-muslimun). Die islamischen Fundamentalisten opponieren dem säkularen Staatsmodell und fordern die Einführung des islamischen Rechts, da in ihrem Verständnis die Einheit von Religion, Gesellschaft, Familie, und Staat integral zum Islam gehört.

Besonderen Zustrom findet der islamische Fundamentalismus durch die soziale Situation: durch die Landflucht gibt es in den Slums der Riesenstädte von Kairo und Gaza, Jakarta und Islamabad entwurzelte Massen, die beim Islamismus nicht nur einen geistigen Halt sondern auch soziale Hilfe finden. Islamistische Organisationen predigen nicht nur in den Moscheen, sie führen auch Spitäler und Schulen, die den Ärmsten offen stehen - ein wichtiger Faktor in Ländern mit hoher Analphabetenrate.

Fundamentalistische Gruppen des Islams sind nicht hierarchisch organisiert, sondern treten quer durch die islamische Welt verbreitet auf. Viele davon erhalten finanzielle Unterstützung vom Staat Saudi-Arabien.

Jüdischer Fundamentalismus

Auch im Judentum ist zwischen liberalen, konservativen und fundamentalistischen Richtungen zu unterscheiden (letztere werden oft auch als ultra-orthodox bezeichnet), die das gesamte Spektrum von engerer oder weiterer Auslegung des Religionsgesetzes, des so genannten "Zauns um die Tora" abdecken.

In der Beziehung zum Staat Israel gibt es unter den ultra-orthodoxen Juden zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen:

  • Chassidische Strömungen lehnen den Zionismus als Apostasie ab und nehmen eine militant feindselige Haltung zum Staat Israel und zu allen sich mit Israel identifizierenden Juden ein, da die Existenz Israels die Ankunft des Messias verhindere.
  • Der religiöse Zionismus hingegen, mit dem geistigen Vater R. Abraham Isaak Kook (1865-1935), sieht im Staat Israel den Anbruch der messianischen Zeit und interpretiert Ereignisse wie den Sechs-Tage-Krieg als Zeichen der Bestätigung. Politisch bedeutsam ist der von jüdischen Fundamentalisten, z.B. der Bewegung Gush-Emmunim (Block der Gläubigen), vertretene göttliche Anspruch der Juden auf Eretz Israel, das heilige Land. Territoriale Zugeständnisse werten sie als Sakrileg, was 1995 zur Ermordung Jitzhak Rabins führte.

Hinduistischer Fundamentalismus

Die nationalistische Bharatiya-Janata-Partei oder die militante Vishwa Hindu Parishad sind Beispiele für Fundamentalismus im Hinduismus.

Politischer Fundamentalismus

Im späten 20. Jahrhundert erlangten einige fundamentalistische Bewegungen mit oft nur nominell religiösen Motiven vor allem wegen ihrer Verbindung mit Gewalt und Terrorismus weltweite Aufmerksamkeit. Der sich gewaltsam äußernde Fundamentalismus wird deshalb von einigen als eines der größten weltpolitischen Probleme des 21. Jahrhunderts gesehen (siehe auch Huntingtons Theorie vom Kampf der Kulturen). Gewalttätige fundamentalistische Gruppen sind z.B. Al-Qaida, die libanesische Hisbollah (Hizb Allah "Partei Allahs"), der peruanische Sendero Luminoso und die amerikanische "Jewish Defense League".

Umgang mit dem Fundamentalismus

Eine Verteufelung des Fundamentalismus führt zu verstärkter Radikalisierung und Selbstisolation fundamentalistischer Gruppen und bringt keine Lösung - auch wenn es für die westliche Kultur, die sich für Toleranz und Dialog einsetzt, wesentlich ist, sich klar von terroristischen Gruppen und Systemen abzugrenzen.

Andererseits ist es aber auch nötig, die Kulturen des Islam, des Christentums und des Judentums zu respektieren, ihnen das Recht auf eine eigene Identität zuzugestehen, gerade dort, wo sie sich gegen Säkularismus, Relativismus, und Verfall moralischer Werte abgrenzen wollen. Wer differenziert, und mit den pragmatischen, gemäßigten konservativen Gruppen einen konstruktiven, auf Zusammenarbeit zielenden Dialog führt, gräbt dem Fundamentalismus das Wasser ab.

Weiterhin muss nicht alles schlecht sein, was als im gängigen Sprachgebrauch schnell einmal als fundamentalistisch gebrandmarkt wird. Manche Entwicklungen innerhalb der anerkannten Gesellschaft, die der Fundamentalismus anprangert, können mit Recht hinterfragt werden, und nicht alle Werte, die Fundamentalisten vertreten sind allein deshalb schon negativ.

In vielen Fällen spricht der Fundamentalismus Probleme an, die tatsächlich existieren, zumindest für einen gewissen Personenkreis - und dort hat der Fundamentalismus dann ein Rekrutierungspotential. Schon von daher sollten Probleme, die Fundamentalisten aufgreifen, nicht einfach negiert sondern als Probleme ernst genommen und wo nötig aktiv angegangen werden.

Literatur

  • Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. München 1997 (ISBN 3406419895)

Verwandte Themen: Tradition, Evangelikal, Konservativismus, Totalitäre religiöse Gruppe, Nationalismus, Universalismus