Züllchower Anstalten

diakonische Einrichtung in Züllchow bei Stettin
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100 Jahre Züllchower Anstalten. Am 3. August 1931 gedenken die Züllchower Anstalten in Züllchow bei Stettin ihren 100. Geburtstag festlich zu begehen. Da ist es wohl angebracht, daß auch im Heimatkalender für Pommern einmal ausführlicher von den Züllchower Anstalten die Rede ist. Eigentlich haben die Züllchower Anstalten zwei Mal Geburtstag. Der älteste Teil der Züllchower Anstalten ist das Züllchower Rettungshaus, das am 2. August 1831,

am Geburtstag Friedrich Wilhelms III., in aller Stille eröffnet wurde. Erst 19 Jahre später, am 17. November 1850, am Geburtstag Friedrich Wilhelms IV., wurde mit dem Züllchower Rettungshaus unsere pommersche Diakonenanstalt verbunden.

Das Züllchower Rettungshaus verdankt seine Entstehung im letzen Grunde dem großen Kinderfreunde Pestalozzi, der sich in der Schweiz in der vorbildlichsten Weise der vernachlässigten Jugend annahm. Pestalozzis Gedanken kamen auch nach Deutschland. In Preußen war es namentlich Friedrich Wilhelm III. und sein Kultusminister von Altenstein, die ein warmes Herz für die Rettungshaussache hatten. Ihr Vorbild war die zwar sehr gut aber doch recht streng geleitete, berühmte Kopfsche Erziehungsanstalt in Berlin vor dem Halleschen Tore.

An der Spitze der Provinz Pommern stand damals der heut noch im besten Andenken stehende Oberpräsident Dr. Sack. Er gründetet kurz entschlossen am 15. Mai 1830 einen Verein zur Erziehung sittlich verwahrloster Kinder in Stettin. Dabei blieb der tatkräftige Mann aber nicht stehen. In dem nahe gelegenen Fischerdorfe Züllchow stand gerade das schöne, beim Tilebeinschen Schloß gegenüberliegende Konsul Lutzesche Grundstück zum Verkauf. Da wurde zugegriffen. Die vornehme Lutzesche Villa wurde zu einem Rettungshaus für 24 Knaben und 6 Mädchen umgebaut. Leider starb Oberpräsident Sask am 19. Juni 1831. Trotzdem könnte das Rettungshaus am 3. August 1931 mit einem Gebet des Bischofs D. Rithschl in aller Stille eröffnet werden. Die Leitung des Rettungshauses übernahm ein junger Lehrer Dietze, der aus der Kopfschen Erziehungsanstalt in Berlin hervorgegangen war. Als Dietze 1846 starb, zog ein Rauhhäusler Bruder Schmidt als Hausvater ein. So hat das kleine Züllchower Rettungsahaus 19 Jahre von 1831-1850 im stillen Segen gewirkt.

Das Jahr 1850 brachte große Umwälzungen. Der Vater der Innern Mission, Kandidat Wichern, der Begründer des Rauhen Hauses zu Horn bei Hamburg, war 1849 in Stettin gewesen und hatte die christlichen Kreise

Stettins und der ganzen Provinz Pommern für die große Sache der Innern Mission begeistert. Pommersche Vereine der Inneren Mission bildeten sich. Natürlich sollte auch eine pommersche Brüderanstalt ins Leben gerufen werden. Was lag da näher als die Umbildung des vorhandenen Züllschower Rettungshauses zu einer Brüder- und Kinderanstalt nach Wichernschen Grundsätzen. Gesagt, getan. Am 17. November 1850 fand die Einweihung des neuen Pommerschen Brüderhauses statt. Die Weihe vollzog auch diesmal der Bischof D. Ritschl. Die Züllchower Anstalten, wie jetzt das Rettungshaus genannt wurde, leitete von 1850 bis 1858 ein Schüler Wicherns, Kandidat Wilhelm Quistorp. Der junge Quistorp hat in den 8 Jahren seiner Züllchower Tätigkeit sein Bestes gegeben. Brüder- und Kinderanstalt wuchsen. Freilich eins, was Quistorps sehnlichster Wunsch war, gelang ihm nicht: die Anstalt aus ihrer bedrängten pekuniären Lage zu befreien und sie auf eigene Füße zu stellen.

Von ganz besonderer Bedeutung für die Züllchower Anstalten war das Jahr 1858. Zur Leitung der Züllchower Anstalten wurde ein Mann aus dem Volke, Gustav Jahn, geboren am 23. Februar 1818 zu Sandersleben in Anhalt, berufen. Gustav Jahn, damals 40 Jahre alt, hatte einen merkwürdigen Lebensgang hinter sich. Von Hause aus Ackerbürger und Weißgerbermeister, dann Bürgermeister seiner Vaterstadt, hatte er sich als christlicher Volksschriftsteller und Dichter des Hohen Liedes einen geachteten Namen gemacht. Von vornherein war es Jahns Bestreben, den Anstalten neue Erwerbsquellen zu erschleißen Unsere große Vieh- und Feldwirtschaft, unsere Kunst- und Handelsgärtnerei, unsere Weihnachtsindustrie mit ihren evangelischen Krippenfiguren und den alten deutschen Familienspielen, verdanken ihm ihre Entstehung. Gustav Jahn war ein frommer und sehr fleißiger Mann, er hatte aber auch Verständnis für Luthers Wort: "Freude und Ergötzen ist dem Menschen so notwendig wie Essen und Trinken." Ein frischer fröhlicher Zug ging durch die ganzen Anstalten, die infolge des Zwangserziehungsgesetzes vom 13. März 1878 sich wesentlich vergrößert hatten. Nach 30jähriger, reich gesegneter Tätigkeit starb Gustav Jahn am 29. März 1888. Er gilt auch heute noch als der Reorganisator unserer Anstalten.

Schwer war nun die Frage, was nach dem Tode Gustav Jahns werden sollte. Meines Vaters ausgesprochener Wunsch war, dass einer seiner Söhne und zwar der Unterzeichnete, der bereits seit dem Jahre 1886 als Oberhelfer ihm zur Seite stand, die von ihm so eigentümlich gestalteten Anstalten übernähme und in seinem Sinne und Geiste weiter leitete. Das Kuratorium unserer Anstalten glaubte, diesem Wunsch trotz meiner damaligen Jugend, - ich war erst 25 Jahre alt - entsprechen zu sollen. Jetzt stehe ich über 40 Jahre in der Leitung der Züllschower Anstalten. Ist es möglich gewesen, die Anstalten auf der alten Höhe zu erhalten und im Geiste Gustav Jahns weiterzuführen?

In den 26 Jahren vor dem Kriege nahmen die Erziehungsanstalten einen immer größeren Umfang an. Hatte mein Vater schon 1884 eine kleine Erzeihungsanstalt für 25-30 schulentlassene schwer erziehbare Zöglinge erst in Westend, dann in Warsow ins Leben gerufen, so mußte nach dem Inkrafttreten der Fürsorgeerziehungsgesetzes vom 2. Juli 1900 eine eigene große Zweiganstalt für 120 schulentlassene Fürsorgezöglinge in Warsor gebaut werden. Die alte Warsower Anstalt wurde 1912 zu einem Lehrlingsheim mit Werkstättenbetrieb für 20 Lehrlinge umgebaut. Inzwischen war 1905 noch eine Filiale in Boock bei Löcknitz für 20 schwächiliche schulentlassene Zöglinge dazu gekommen. Auch die Hauptanstalt in Züllchow wurde durch die Filialen in Sellacksheim und Grensingshof werweitert. War so die Erziehungsarbeit an den Kindern und jungen Burschen in fröhlichem Wachsen und Gedeihen, so konnte dasselbe auch von der Brüderanstalt gesagt werden. Die unmittelbare Leitung der Brüder- und Kindreanstalt in Züllschow wurde 1909 einem besonderen Berufsareiter für diese Zwecke, Pastor Stelter, übertragen. Auch die Industrien gingen dank der Treue unserer Gönner ihren alten Gang und blieben sicherer Erwerbsquellen für unser Diakonenhaus und unsere Erziehungsanstalten.

Da kam der Weltkrieg. Unsere jungen Diakone zogen ins Feld. 12 starben den Heldentod. Die Erziehungsanstalten waren überfüllt. Es fehlte an geeignetem Erzieherpersonal. Das waren vier schwere jahre. Mein Kollege Pastor Stelter und ich kamen oft in schweres Gedränge. Noch schwerer wurde dann die nachkriegszeit mit dem Umsturz der alten Ordnungen und mit der verheerenden Infaltion. Da sind wir doch manchmal in schwerster Sorge gewesen, ob es möglich sein würde, die Erziehungsanstalten und die pommersche Diakonenanstalt durchzuhalten. Jatzt wurde es natürlich auch schwer, aus der Landwirtschaft, aus der Kunst- und Handelsgärtnerei, aus der Weihnachtsindustrie irgend welche nennenswerte Erträge zu erzielen. man ist froh, wenn die Betriebe für bessere Zeiten druchgehalten werden. Dabei werden mit Recht immer höhere Anforderungen an die Erziehungsanstalten und an die Diakonenanstalt gestellt. Wir ruften zum 100 Geburtstag. Die Hauptanstalt in Züllchow, die baulich am meisten druch den Krieg gelitten hat, bedarf dringend größerer Reparaturen. Der Betsaal muß zum Jubeltage ein neues Gewand haben. Die alte Orgel muß völlig umgebaut werden, wenn unsere jungen Diakone darauf spielen lernen sollen. Die ganze Wasch-, Bad- und Aborteinrichtung ist nicht mehr zeitgemäß. Da wünscht man sich manchmal einen hochherzigen Gönner, der uns fühlbar unter die Arme greifen und einen Großen Posten der notwendigen neuen Schulden abnehmen könnte. Jedenfalls wollen wir hier alle an unserem Teil fleißig und fröhlich weiter arbeiten. Gott sei mit dre Anstalt, die er 100 Jahre hindurch beschirmt hat, auch in dem neuen Jahrhundert.

Fritz Jahn.

Aus dem Heimatkalendar für Pommern, 1931.