Jean-Michel Charlier (* 30. Oktober 1924 in Lüttich/Belgien/; † 10. Juli 1989 in Paris/Frankreich) war ein belgischer Comic-Szenarist. Er gilt allgemein als bedeutendster europäischer Autor von Abenteuer-Comics.
Die frühen Jahre
Jean-Michel Charlier zeigte schon in jungen Jahren ein besonderes Interesse am Geschichtenerzählen und dachte sich zum Beispiel Ritter-Comics aus, die er in große Hefte zeichnete. 1942 begann er ein Jura-Studium. Ab 1944 publizierte er in der belgischen Comic-Zeitschrift Spirou einfache Comic-Strips über den Beruf des Flugzeugpiloten und die Fliegerei. Zu dieser Zeit arbeitete Charlier noch als Autor und Zeichner in Personalunion. Seine hoch detaillierten Flugzeugbilder erfreuten sich bei den jugendlichen Lesern des Spirou-Magazins großer Beliebtheit. 1946 lernte Charlier den jungen Zeichner Victor Hubinon kennen und begann damit, zusammen mit ihm die Flieger-Comicserie Buck Danny zu gestalten. Hubinon und Charlier erzählten hier die abenteurlichen Erlebnisse dreier US-Piloten rund um den Globus und produzierten bis zu Hubinons Tod 1979 34 Alben. 1983 wurde die Reihe von dem Zeichner Francis Bergèse weitergeführt.
Erfolge bei Spirou
Der Erfolg von Buck Danny veranlasste Charlier dazu, den ungeliebten Anwaltsberuf an den Nagel zu hängen und fortan als Comic-Autor zu arbeiten. Ab den späten 40er Jahren lieferte Charlier eine Vielzahl von Comic-Szenarios für das Magazin Spirou und erwies sich als hoch produktiver - wenn auch schlecht bezahlter - Autor. Ende der 40er Jahre erwarb Charlier den Pilotenschein und arbeitete eine Zeit lang als Kurierflieger für die Sabena. Er schrieb unter anderem den Piraten-Comic Surcouf, die Ritter-Serie Belloy und erzählte die Abenteuer des Großwildjägers Tiger Joe. Diese frühen Serien wurden mit großer Naivität ausgebreitet und bedienten sich unbekümmert vieler inhaltlicher Klischees (Kolonialromantik etc.). 1954 startete Charlier die langlebige Pfadfinder-Serie La Patrouille des Castors (Die blauen Panther), die genau auf die Bedürfnisse der jugendlichen Leserschaft von Spirou zugeschnitten war. Mitte der 50er Jahre betreute der unermüdliche Texter acht Comic-Serien gleichzeitig.
Die Gründung von Pilote
In den 50er Jahren war Jean-Michel Charlier zunehmend unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung beim Spirou-Verlag Dupuis. Zusammen mit seinen Kollegen Albert Uderzo und René Goscinny machte er sich selbständig und gründete eine Werbe- und eine Presseagentur (arbeitete aber weiter für Spirou). Im Herbst 1959 startete das Trio das französische Comic-Magazin Pilote. Während Uderzo und Goscinny in Pilote die humoristische Serie Asterix präsentierten, die später zum Welterfolg wurde, lancierte Charlier die beiden realistischen Abenteuer-Serien Tanguy et Laverdure (Piloten) und Barbe-Rouge (Piraten). Fast alle klassischen Pilote-Serien hatten einen starken Frankreich-Bezug.
1963 kreierte Charlier zusammen mit dem jungen Zeichner Jean Giraud seine wichtigste Serie: den Western Blueberry. Charlier stattete Leutnant Blueberry zunächst mit relativ konventionellen (wenn auch spannenden) Szenarien aus, die im Lauf der Jahre aber immer komplexer und hintergründiger wurden. Die Abenteuer des unkonventionellen Leutnants Blueberry wurden dank der brillanten Texte Charliers und der außergewöhnlichen Zeichnungen Girauds zum Comic-Mythos. Bis zu seinem Tod 1989 schrieb Charlier 28 Blueberry-Alben; heute wird die Serie mit verschiedenen Zeichnern und Autoren fortgesetzt.
Die Zeit nach Pilote
Bis in die frühen 70er Jahre führte Charlier seine etablierten Serien mit hoher Produktivität fort. 1972 schied er als Chefredakteur von Pilote aus, weil er mit der redaktionellen Linie des Magazins, das sich zunehmend modernisiert und radikalisiert hatte, nicht mehr einverstanden war. Charlier arbeitete als Lektor und TV-Produzent und wurde kurzzeitig Chefredakteur des Comic-Magazins Nouveau Tintin. Seine etablierten Serien führte er nur noch sporadisch weiter. Um das Jahr 1980 herum starben mit Victor Hubinon und Jijé zwei seiner wichtigsten Zeichner. Ihre Serien Barbe-Rouge und Tanguy et Laverdure ließ er - mit deutlichem Qualitätsverlust - von anderen Zeichnern fortsetzen. Ab 1985 realisierte er mit dem neuseeländischen Zeichner Colin Wilson drei Jugend-Abenteuer von Leutnant Blueberry. Jean-Michel Charlier, für seinen hektischen Arbeitsalltag und seine exzessive Vorliebe für gutes Essen bekannt, wurde im Frühjahr 1989 in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort verstarb er am 10. Juli desselben Jahres im Alter von 64 Jahren.
Der Szenarist Charlier
Jean-Michel Charlier ist eine der zentralen Figuren der europäischen Comic-Geschichte. Seine außergewöhnliche Produktivität resultierte in mehr als 200 Comic-Alben. Charliers enzyklopädisches Wissen und sein nie versiegender Einfallsreichtum sorgten dafür, dass er für nahezu jedes Genre packende Abenteuergeschichten erfinden konnte. Charlier bewegte sich dabei in der Regel nicht über die Grenzen des jeweiligen Genres hinaus, sondern sah sich in der Tradition klassischer Erzähler wie Alexandre Dumas, die nur spannende Unterhaltung produzieren wollten.
Viele von Charliers Protagonisten entsprachen dem klassischen Heldentypus: starke, gutaussehende Männer, die in moralischer Hinsicht unfehlbar waren. Ihnen wurden gern betont lustige Nebencharaktere zugesellt, die für humoristische Einlagen sorgten. Charlier war als konservativ bekannt und erzählte zum Beispiel die Abenteuer der französischen Kampfpiloten Tanguy et Laverdure in einem deutlich nationalistischen Kontext. Die Darstellung von Frauen ist von altertümlichen Rollenmustern geprägt; attraktive Frauen spionieren in der Regel für die Gegenseite, weniger attraktive werden für groteske Gags verwendet. Eine Ausnahme ist die selbstbewußte Saloon-Sängerin Chihuhaha Pearl, in die sich Leutnant Blueberry verliebt. Der ideologisch/politische Kontext von Charliers Szenarios sollte gerade aus der zeitlichen Distanz heraus mit kritischem Blick gesehen werden. In vielen Fälllen bediente und bestätigte der Autor relativ sorglos zeitbedingte Vorurteile und Klischees.