Geschichte des Antisemitismus bis 1945

Abneigung und/oder Feindschaft gegenüber den Juden
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 17. Mai 2005 um 10:54 Uhr durch Jesusfreund (Diskussion | Beiträge) (Link). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Dieser Artikel befasst sich mit einer besonderen Form der Judenfeindlichkeit. Dort findet man eine Übersicht über andere Formen und verwandte Themen.


Antisemitismus bezeichnet eine Diskriminierung und Verfolgung von Juden als Gruppe, die sich vor allem auf volkstümelnde, nationalistische und rassistische, weniger auf religiöse Vorurteile stützt. Diese Ideologie formte sich nach 1789 in verschiedenen europäischen Staaten, besonders Deutschland, als politische Bewegung. Sie propagierte und verfolgte im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend aggressive judenfeindliche Ziele, die in der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus gipfelten.

Antisemitisches Gedankengut ist in den unterschiedlichsten Ausformungen bis heute wirksam. Neben den historisch bekannten Antisemitismus ist seit 1945, besonders aber seit 1990 ein sekundärer und struktureller sowie ein arabischer Antisemitismus getreten; diese werden in eigenen Artikeln dargestellt. Offene antisemitische Äußerungen und Handlungen gelten in der Bundesrepublik Deutschland nach den Erfahrungen der NS-Zeit als Straftat: Sie können z.B. als Verbreitung von Propaganda verfassungsfeindlicher Organisationen (§ 86 StGB), Volksverhetzung (§ 131 StGB) oder Landfriedensbruch (§ 125 StGB) strafrechtlich verfolgt werden.

Der Artikel konzentriert sich vor allem auf die deutsche Entwicklung bis 1933; andere Artikel behandeln die Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, speziell den Holocaust, und gegenwärtige antisemitische Tendenzen ausführlicher.

Überblick

Der neuzeitliche Antisemitismus definiert Juden nach ihrer Abstammung, nicht ihrer Religionszugehörigkeit. Das unterscheidet ihn vom Antijudaismus: Diese christliche Judenfeindschaft begann mit der Entstehung der Kirche seit 70 n. Chr., prägte das Mittelalter und trat nach der Aufklärung in Mitteleuropa zurück. Doch sie beeinflusste die Entstehung des Antisemitismus, so dass sich beide Phänomene kaum trennen lassen.

Seit dem Holocaust bezeichnet "Antisemitismus" im weiteren Sinn alle möglichen judenfeindlichen Tendenzen, die mit bestimmten typischen, stets wiederkehrenden Klischees auftreten. Die Mechanismen, durch die pauschale Judenbilder und Judenhass immer wieder entstehen, gelten als Beispiel „für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder“ (Wolfgang Benz).

Aber während Rassismus sonst eher eine Minderwertigkeit der verachteten Gruppe behauptet, wird "den Juden" oft eher übergroßer Einfluss, Gefährlichkeit und Machtstreben bis hin zur Weltherrschaft unterstellt. Um dies zu bestätigen, verallgemeinern Antisemiten stets vermeintlich oder tatsächlich problematische Handlungen aller Art, von einzelnen Juden, jüdischen Organisationen oder Nichtjuden. Kritik oder bessere Information prallt an dieser hermetischen Vorurteilsstruktur ab. Sie gleicht damit einer klassischen Verschwörungstheorie, die immer wieder in verschiedensten Zusammenhängen und Bevölkerungsschichten auftritt.

Dies betrachten Forscher zunehmend als eigenständiges Phänomen. Sie verweisen darauf, dass Antisemitismus oft "antimoderne" Bewegungen begleitet. Er lastet negative Begleitumstände von komplexen gesellschaftlichen Vorgängen wie Industrialisierung, Urbanisierung, Globalisierung etc. gern "den Juden" an und verbindet sich dabei mit anderen Ideologien wie Antikapitalismus oder Antikommunismus - bis hin zum gegenwärtigen Islamismus.

Zur "Sündenbock"-Funktion trat seit 1945 ein "sekundärer" Antisemitismus, der unbewältigte sozialpolitische Defizite und unverarbeitete Schuldgefühle wieder auf die Nachkommen der Opfer zurückprojiziert: auch dort, wo man selber keine Juden mehr kennt. Diese irrationale Feindhaltung hat sich als außergewöhnlich verwurzelt, zäh und langlebig erwiesen. Sie ist daher durch historische Information und Aufklärung allein kaum zu überwinden. Hinzu kommen müssen Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit, Begegnungen mit Juden und wirksame Lösungen für aktuelle Konfliktherde.

Vorgeschichte

Die kirchliche Unterdrückung und Verfolgung hatte das Judentum Jahrhunderte lang in ganz Europa isoliert, in Ghettos gezwängt und häufig an Pogrome ausgeliefert. Die Reformation hatte dies kaum geändert, aber die Interessengegensätze der Fürsten verstärkt. Im politisch zersplitterten deutschen Sprachraum waren die Juden bis etwa 1670 aus den meisten Städten verbannt worden, konnten aber in meist ländlichen Regionen, Vorstädten oder als privilegierte "Hofjuden" überleben. Die Herrscher Preußens begrenzten den Zuzug jüdischer Familien im 18. Jahrhundert streng auf die Reichsten, denen sie hohe Abgaben auferlegten.

Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Humanismus veränderten allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Der religiös motivierte Antijudaismus erschien den Gebildeten nun als affektiver "Aberglaube" ohne wissenschaftliches Fundament, den es ebenso wie den religiösen Judaismus zu überwinden gelte. In dieser Tradition bekämpften schon die englischen Deisten im 17. Jahrhundert das Judentum wegen seines irrationalen Offenbarungs- und Wunderglaubens, um damit zugleich das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. So drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber dennoch einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.

Indem aufgeklärte Philosophen die allgemeine Vernunft gegen den christlichen Konfessionalismus und Dogmatismus stellten, kritisierten einige seit dem 18. Jahrhundert nun auch die Haltung zum Judentum als menschenunwürdiges Unrecht. John Toland (1670-1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster für eine "Emanzipation" der Juden aus. Vor allem Gotthold Ephraim Lessing (1729-1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden zur Aufgabe der anachronistischen Vorurteile gegen sie auf. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die Toleranz der Religionen und setzte seinem jüdischen Freund Moses Mendelssohn ein Denkmal. Er glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781).

Voltaire (1694-1778) führte das Christentum auf seinen jüdischen Ursprung zurück und lehnte beide Religionen von Grund auf ab. In seinem Werk finden sich viele Hasstiraden gegen Juden als betrügerische Wucherer, diebische Geldverleiher, den »Abschaum der Menschheit« usw.; er hielt diese Züge für angeborene, unveränderliche Eigenschaften. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.

Diderot (1713-1784) dagegen glaubte an die soziale Bedingtheit aller religiösen Erfahrung und damit an ihre Veränderbarkeit. Mit seinem Enzyklopädie-Projekt wollte er indirekt auch einen Beitrag zur Überwindung des jüdisch-christlichen religiösen Wahns leisten.

Ähnlich wie Voltaire urteilte der Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) über "den Juden": Er sei "...ein unersättlicher, habgieriger Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist...", amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei "ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt", ein Paradigma des Bösen und eine Identifikation des Minderwertigen. So verglich er die Juden in seinen "Sudelbüchern" öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge galten und massenhaft bekämpft wurden.

Sogar Immanuel Kant (1724-1804), der wie Goethe Juden zu seinen besten Freunden zählte und in seinem Sittengesetz biblische Grundgedanken vernünftig entfaltete, nannte Juden "Vampyre der Gesellschaft" und meinte 1798:

"Die unter uns lebenden Palästinenser sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges... gekommen."

Er kannte wenig vom Judentum, grenzte es aber scharf gegen das überlegene Christentum ab. Er forderte von den Juden die Abkehr von ihren Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zu einem ethischen Gottesglauben, also zu seiner Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an "alle(n) Rechte(n) des bürgerlichen Zustandes" erhalten.

Auch Johann Gottfried Herder (1744-1803) hielt die Juden für verdorben, ehrlos und amoralisch. Er glaubte, dass nur Erziehung sie bessern könne, und forderte kaum verhohlen die Selbstaufgabe des Judentums als Voraussetzung für seine nationale und kulturelle Integration in die jeweilige Nation. Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung war nur Montesquieu bereit, das Judentum in seiner Eigenart anzuerkennen.

In den verbreiteten Vorurteilen spiegelt sich die Wirkung der jahrhundertelangen kirchlichen Ausgrenzungspolitik: Sie hatte die Isolation der jüdischen Gemeinden und damit Unkenntnis und Verachtung ihrer tradierten Glaubensweisen gefördert. Zudem durften Juden lange nur die von Christen verachteten Berufe etwa im Handel und Kreditwesen ausüben.

Für die Pariser Revolutionäre von 1789 galt die Masse des Volkes, der „Dritte Stand“ im Unterschied zu Adel, Klerus und Königtum als Nation. Diese demokratische Sicht wurde außerhalb Frankreichs, besonders in Deutschland, bald von einer völkischen Definition überlagert: „Nation“ bezeichnete nicht den Rechtsstatus einer Mehrheit, sondern eine gemeinsame "Abstammung" aller. Der Begriff grenzte sich nicht gegen die eigenen oberen Stände, sondern gegen Napoleons Eroberungen und die französischen Besatzer ab.

Das richtete sich in vielen Ländern Europas dann gegen die Angehörigen aller als fremd oder feindselig empfundenen Völker. Nationalisten verbanden eine Reihe besonderer positiver und negativer Eigenschaften mit diesen und behaupteten damit einen angeblichen Nationalcharakter. Da Napoleons Herrschaft die Lage der Juden unbestreitbar verbessert hatte, entstand nun ein neues Klischee: Die Juden galten als Urheber, Drahtzieher und Gewinner der französischen Revolution. Eng damit verbunden war das Stereotyp der jüdischen Weltverschwörung und der heimatlosen "Parasiten".

1781 hatte der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm eine Debatte Über die bürgerliche Verbesserung der Juden eröffnet. Er forderte das volle Bürgerrecht für sie. Kaiser Joseph II. erließ daraufhin ein "Judenpatent", um die Juden Österreichs zu "nützlichen Staatsbürgern" zu machen.

1791 stellte die französische Nationalversammlung die Juden allen Bürgern gleich, hob damit aber auch ihre bisherigen Sonderrechte - vor allem Gemeindeautonomie und Wehrdienstbefreiung - auf. Das zwang sie zur Assimilation. - In Berlin sorgte ein Gutachten Friedrich Schleiermachers 1810 dafür, dass der preußische Staat weiterhin den christlich-konfessionellen Religionsunterricht verbindlich machte. Ohne Teilnahme daran erhielten Juden keine Zugangsberechtigung zu Universitäten, so dass ihr sozialer Aufstieg weiterhin erheblich erschwert wurde. Zwar gewährte das preußische Judenedikt von 1812 ihnen einige Bürgerrechte - freie Niederlassung, Grunderwerb, Militärdienst - , schützte aber nicht ihre Religionsausübung und schloss sie weiterhin von allen Staatsämtern aus. Es galt zudem nur für die schon eingebürgerten Juden, nicht für Neuankömmlinge.

Doch 1814/15 erlaubte der Wiener Kongress jedem Staat des Deutschen Bundes, den Juden ihre von Napoleon verfügten Rechte wieder zu nehmen. Dies geschah vielfach auch. So sahen gebildete und assimilierte Juden nun häufiger nur noch in der christlichen Taufe das "Entreebillet zur europäischen Kultur" (Heinrich Heine), den Zugang zu Universität und gesicherter Existenz. Juda Löw Baruch aus Frankfurt z.B. verlor 1815 seine Stellung als Verwaltungsbeamter und ließ sich 1818 auf den Namen "Ludwig Börne" taufen; ebenso die jüdische Autorin Rahel Varnhagen von Ense. Brendel Mendelssohn heiratete Friedrich Schlegel und wurde erst protestantisch, dann mit ihrem Gemahl katholisch.

Ab 1830 wurde die "bürgerliche Verbesserung" der Juden wie der Bauern - ihre Gleichheit vor dem Staatsgesetz und soziale Integration - auch von deutschen liberalen Demokraten gefordert, die die Ständegesellschaft abschaffen wollten. Jüdische Patrioten wie Gabriel Riesser stellten sich gegen Konversion und Emigration und kämpften stattdessen für die volle Gleichberechtigung. Er sorgte dafür, dass die Frankfurter Nationalversammlung 1848 in die "Grundrechte des deutschen Volkes" einen Passus zur Religionsfreiheit aufnahm:

"Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt."

Diese Erfolge machte die anschließende Periode der Reaktion erneut zunichte. Erst 1869 hob ein Gesetz des Norddeutschen Bundes den Ausschluss der Juden von Staatsämtern auf. Es wurde 1871 zum Reichsgesetz des Deutschen Reichs.

Intellektuelle deutsche Idealisten und Romantiker wie Friedrich von Schlegel und Friedrich Schleiermacher waren zwar oft Demokraten und Förderer der Allgemeinbildung, zugleich aber auch glühende anti-aufklärerische Patrioten und Judengegner. Auch Johann Gottlieb Fichte äußerte 1793 in seinem später viel zitierten "Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution":

Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.

Selbst der umfassend gebildete Georg Wilhelm Friedrich Hegel widersprach zwar der volkstümelnden Romantik, sah Juden aber auch nur als Verkörperung der Entzweiung und materiellen Knechtschaft im Gegensatz zur griechisch-platonischen Freiheit des Geistes. Von ihm stammt der Satz:

"Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele".

In der "Phänomenologie des Geistes" schrieb er:

"Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste".

1811 brachte Clemens Brentano seine antijudaistische Haltung u.a. durch den Beitrag "Der Philister vor, in und nach der Geschichte" für die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft zum Ausdruck:

Die Juden, als von welchen noch viele Exemplare in persona vorrätig, die von jeder ihren zwölf Stämmen für die Kreuzigung des Herrrn anhängenden Schmach Zeugnis geben können, will ich gar nicht berühren, da jeder der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln, und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.

Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn und der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt waren bekennende Judenfeinde. Sie begründeten jene "Volkstums"-Ideen, auf die rassistische Antisemiten später zurückgriffen. Arndt schrieb z.B. im Kontext der Zuwanderung russischer und polnischer Juden nach Westeuropa (zitiert nach "Weltgeschichte im Aufriss" Bd. 2, Diesterweg, Frankfurt/Main 1978, S. 191):

...Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. [...] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, daß unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, daß sie Millionenschätze bringen.

Antijüdische Krawalle nach 1812

Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Juden-Aversion ließen nicht lange auf sich warten. Besonders unter manchen Burschenschaften grassierten nationalistische und antijüdische Reflexe. Dies wurde schon 1817 auf dem Wartburgfest sichtbar. Jakob Friedrich Fries, Philosophieprofessor in Jena, hetzte seine Studenten zu einer Bücherverbrennung auf. Dabei wurde auch eine jüdische Schrift, die "Germanomanie" von Saul Asher mit dem Ruf "Wehe über die Juden!" ins Feuer geworfen. Dies veranlasste Heinrich Heine 1819 zu dem prophetischen Satz: "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen."

Im selben Jahr im August breitete sich eine Serie von Krawallen von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser und Geschäfte, steckten Synagogen in Brand, misshandelten und ermordeten Juden mit dem Kampfruf:

"Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!"

"Hepp" war ein alter Kreuzfahrer-Ruf und stand für Hierosolyma est perdita (Latein: "Jerusalem ist verloren"), das auf die Massaker der Kreuzzüge anspielte. In den Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden als "Gottesmörder" angegriffen. Hier kam die langanhaltende kirchliche Indoktrination zum Vorschein. Die Aufklärung hatte also nur eine schmale Schicht von Gebildeten erreicht, von denen auch nur wenige das Judentum und seine Emanzipation vorbehaltlos akzeptierten. Sie wurden nicht von der Masse der Bevölkerung getragen.

Die Tradition antijüdischer Hetzschriften setzte sich auch im kirchenfernen Bürgertum fort: 1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den "Judenspiegel". Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und schließlich unverhohlen die Vertilgung und Vertreibung aller Juden. Solche Ziele waren also schon Jahrzehnte im öffentlichen Gespräch, bevor der "Rasse"-Begriff für das Judentum aufkam.

Geschichte

Volkstums-Ideologie

Der Begriff „Semiten“ bezeichnete in der historischen Theologie des 18. Jahrhunderts die Nachfahren von Sem, des ältesten der drei Söhne Noahs (Gen. 9, 18). Eine „Völkertafel“ der Bibel (Gen. 10) erklärt eine Reihe damals bekannter Stämme und Ethnien als Nachfahren dieser Söhne. Sie teilt sie nach Herkunft und geografischen, aber nicht nach sprachlichen oder gar rassischen Merkmalen ein. Faktisch waren die auf Sem zurückgeführten Völker weder sprachlich noch ethnisch alle verwandt.

Die junge Sprachwissenschaft übernahm den Begriff für eine Sprachfamilie (Aramäisch-Hebräisch-Arabisch). In diesem Sinn benutzte ihn der deutsche Historiker Ludwig Schlötzer 1781 das erste Mal. 1816 bewies Franz Bopp die Verwandtschaft der Indogermanischen Sprachen, die er vom "Semitischen" unterschied. Kurz darauf stellte die Völkerkunde „Semiten“ und „Arier“ einander als Volksgruppen gegenüber und hob sie von anderen Volksgruppen ab.

Von da aus gingen diese Begriffe in die Terminologie der Geisteswissenschaften ein. Bald wurde Andersartigkeit verschieden gewertet. Alle positiv verstandenen Werte wurden „Ariern“ zugeschrieben, „Semiten“ wurden dagegen nur negativ charakterisiert. Aus dem vermeintlich ethnischen wurde ein welthistorischer Gegensatz konstruiert: „Arier“ galten als zur künftigen Weltherrschaft berufene Bevölkerungsgruppe, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten. Obwohl letztere anfangs auch Araber mit verwandten Sprachen umfassten, meinten deutsche Antisemiten damit stets nur „Germanen“ gegenüber Juden.

Von "Semiten" redeten unreflektiert bald auch Juden selber. 1860 verwendete der jüdische Gelehrte Moritz Steinschneider erstmals den Gegenbegriff dazu, als er den französischen Historiker und Philologen Ernest Renan wegen seiner „antisemitischen Vorurteile“ zur Rede stellte. Dieses Adjektiv nannte auch das preußische Staatslexikon von 1865, um eine dem „typisch“ Jüdischen entgegengesetzte Haltung zu kennzeichnen.

Rassismus und Vulgärdarwinismus

1853 veröffentlichte Arthur de Gobineau den Aufsatz „Die Ungleichheit der Rassen“, der die Theorie des Rassismus begründete. 1858 erschien die deutsche Übersetzung der Evolutionstheorie von Charles Darwin: "Über die Entstehung der Arten".

Nun entstand der eigentliche Antisemitismus: Um ihren Judenhass zu untermauern und die „Judenfrage“ als Rassenproblem zu propagieren, beriefen sich Antisemiten zunehmend auf pseudo-biologische Argumentationsketten. Mit Berufung auf die moderne Genetik bezeichneten sie Semiten und Arier seit etwa 1860 immer häufiger als biologische Abstammungseinheiten. Sie definierten das Judentum nicht mehr als Religionsgemeinschaft, sondern als eigenständiges "Volk" mit eigener „Rasse“.

Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich durch Übertritt zum Christentum sozial anzupassen. Die freiwillige Taufe hatte sie früher meist vor weiterer Verfolgung geschützt; bei Zwangstaufen behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie. Doch nun definierte man jeden als Juden, der von Juden - Vorfahren mit jüdischer Religion - abstammte: egal ob und wie lange er oder seine Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch indirekt wichtig: als pseudobiologisches Merkmal, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte. Die Juden zugeordneten negativen Eigenschaften erschienen als "Erbgut", das keinerlei Erziehung, Bildung, Integration und Emanzipation verändern könne. So wurden sie als nicht integrierbarer Fremdkörper in den europäischen Nationen dargestellt. - Darwin selbst distanzierte sich 1880 davon.

Der Rassismus verschärfte auch die allgemeine Fremdenfeindlichkeit: Er untermauerte die Ablehnung anderer Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. Völkisch definierte "Fremde" konnten nun als "Artfremde" eingestuft werden. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa z.B. die Ablehnung der Sinti und Roma oder - im Rahmen des Antislawismus - der Sorben.

Politischer Antisemitismus im Kaiserreich

Patriotismus hielt seit der gewaltsamen nationalen Einigung von 1871 die zerrissene bürgerlich-liberale Gesellschaft zusammen. Minderheiten, vor allem den Juden, wurde dagegen oft ein Mangel an „wahrem Deutschtum“ unterstellt. Politisch-soziale Widersprüche und ökonomische Krisen im Einigungsprozess wurden ihnen angelastet.

Auf den Börsenkrach 1870 folgte 1873 ein Gründerkrach: Für diese Pleitewelle machten abstiegsbedrohte Kaufleute, Bauern und Bürger erneut die Juden verantwortlich. Sie setzten deren "Materialismus" mit den bürgerlichen Ideen der französischen Revolution und dem Kapitalismus gleich.

In diesem Kontext fanden die Bücher des Journalisten Wilhelm Marr reißenden Absatz. Seine vermehrte Propaganda machte den Begriff "Antisemitismus" weithin publik. Er verwendete ihn erstmals 1873 anstelle von „Judenhass“, um seine Ablehnung der Juden pseudowissenschaftlich zu untermauern. Damit übernahm er indirekt Gobineaus säkular-rassistische Ideen. Aber sein Begriff diente von Beginn an ausschließlich zur Kennzeichnung einer strikt anti-jüdischen Grundhaltung: Er sollte die Juden als besondere „Rasse“ brandmarken, um sie ideologisch besser ins Visier nehmen zu können. Dabei konnte er auf schon lange bestehende kirchliche, dann auch aufgeklärte und "völkisch"-nationale Ablehnungsmuster zurückgreifen.

Sein Buch „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ von 1879 wurde besonders populär. Daraufhin gründete Marr die „Antisemiten-Liga“ als erste deutsche Gruppe, die sich dem Kampf gegen eine angebliche jüdische Bedrohung verschrieb. Ihr erklärtes Ziel war die Vertreibung der Juden aus Deutschland. Zudem kündete Marr ausgerechnet in der „Allgemeinen Zeitung des deutschen Judentums“ ein „antisemitisches Wochenblatt“ an, das er ein Jahr darauf gründete.

Gegen liberale Emanzipationsbemühungen kam es 1879/80 zum monatelangen "Antisemitismusstreit": Der lutherische Hofprediger Adolf Stoecker forderte in Berlin eine Begrenzung des vermeintlichen jüdischen Einflusses auf die Politik und gründete dazu die religiös-antisemitische "Christlichsoziale Partei". Der Historiker Heinrich von Treitschke griff dies öffentlich auf und prägte den verhängnisvollen Satz, den die Nationalsozialisten später übernahmen:

"Die Juden sind unser Unglück."

Dem widersprach vor allem sein angesehener Kollege Theodor Mommsen, der sich scharf gegen die allgemeine Judenfeindschaft wandte. Treitschke blieb danach an der Humboldt-Universität isoliert, und die meisten Gelehrten distanzierten sich von Marrs Liga. Doch nun war das Thema "wissenschaftlich" etabliert.

Die Antisemitenliga nutzte den öffentlichen Aufschwung ihres Themas 1881 für eine "Antisemiten-Petition", die 250.000 Bürger unterzeichneten. Sie forderte u.a. einen separaten Zensus für Juden, ihren Ausschluss von allen Regierungsämtern, vom öffentlichen Dienst und Bildungswesen sowie ein Verbot jüdischer Einwanderung nach Deutschland. Der Initiator war der hochdekorierte Veteran des deutsch-französischen Krieges Max Liebermann von Sonnenberg. Er brachte die Petition in den Reichstag ein. Im selben Jahr gründete er die "Deutsche Volkszeitung" als antisemitisches Organ. Sie half, das Schlagwort "Antisemitismus" im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten. Dieser wurde wie sein Gegenbegriff zum Sammelbegriff für alle Arten und Ausprägungen judenfeindlicher politischer Haltungen und Handlungen.

Ein bekannter Antisemit war auch der Nationalökonom Eugen Dühring. Sein 1881 erschienenes populäres Buch "Die Judenfrage als Racen, Sitten und Kulturfrage" erklärte die Kluft zwischen Ariern und Semiten für unüberbrückbar und forderte, die Juden wieder in Ghettos zu zwingen. Es zeigt auch die antikapitalistische Komponente des deutschnationalen Antisemitismus. Wie Sonnenberg sah er die Juden als "Drahtzieher" der Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung, wandte sich gegen ihren angeblich übermäßigen öffentlichen Einfluss und begründete dies rassistisch.

Ab 1885 tauchte auch "Semitismus" in Marrs regelmäßigen "Zwanglosen Antisemitischen Heften" als feststehender Begriff auf. Er wurde nun zunehmend auf alle bürgerlich-liberalen Prinzipien und Erscheinungsformen bezogen. Diese zu bekämpfen wurde zum Ausdruck für patriotische Gesinnung: Wer "national" war, lehnte Demokratie und Kapitalismus (oft "Manchesterliberalismus" genannt) fundamental ab. Wer sie ablehnte, war damit fundamental gegen "Semitismus" - und meinte damit konkret die Juden. Sie galten als Urheber alles "Modernen" und "Schädlichen": von Aufklärung, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Kulturaustausch, individuellem Glücksstreben. Bis 1890 erschienen im Kaiserreich an die 500 Schriften, die sich in diesem Sinne mit der „Judenfrage“ befassten. Sie bestätigten so oder so, dass die "Nation" mit "den Juden" ein Problem hatte.

Dieses Jahr markiert eine weitere Zäsur: Antisemitismus gewann parteipolitische Brisanz. Im Vorfeld der Reichstagswahlen schlossen sich Stoeckers und Sonnenbergs Anhänger 1889 zur neuen "Deutschsozialen Partei" zusammen. Dem folgte Otto Böckels "Antisemitische Volkspartei". Sie verhöhnten liberale Gleichstellungsparteien im Wahlkampf als „Judenschutztruppe“ und errangen knapp 3% der Stimmen. Böckel ließ sich als erster Reichstags-Abgeordnete als "Antisemit" eintragen. Auch Sonnenberg erhielt bis 1911 ein Reichtagsmandat.

1894 vereinigten sich beide Antisemitenparteien unter Führung Böckels zur "Deutschsozialen Reformpartei". Ihr Programm forderte die Aufhebung der rechtlichen Gleichberechtigung der in Deutschland lebenden Juden. Es baute auch auf den Rassentheorien von Houston Stewart Chamberlain auf und redete erstmals von der "Endlösung der Judenfrage" und der "Vernichtung des Judenvolks". Zwar war ihr Stimmenanteil unbedeutend: Bei der Reichstagswahl 1903 errangen die Vereinigten Antisemitenparteien zusammen nur 3,5 Prozent (16 Mandate).

Aber Antisemitismus war nicht an bestimmte Parteien gebunden. Viele Vereine und Verbände blieben fortan antisemitisch eingestellt: u.a. Landwirte, Angestellte, Studentenverbindungen, Alldeutscher Verband, Reichskammerbund, das angesehene Offizierskorps. Über andere Themen wie etwa die Flottenaufrüstung oder Schutzzölle gegen englische Importe konnte sich das Bild der "jüdischen Ausbeuter" und ihrer "zersetzenden" Demokratie-Ideen in breiten Bevölkerungsschichten festsetzen.

Jüdische Reaktionen

1879 erklärte der jüdische Historiker Harry Breßlau, "Juden" und "Semiten" seien nicht identisch. Er werde das Wort "Jude" weiterhin verwenden, aber nur für die Herkunft, nicht die Religionszugehörigkeit von Juden: „Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.“ Damit reduzierte er Judesein seinerseits auf die Abstammung und trennte diese von der Religionszugehörigkeit. Doch diese Säkularisierung der Begriffe begünstigte nur die Gleichsetzung von Juden mit einer angeblichen "semitischen Rasse". 1895 definierte der Brockhaus „Semitismus“ als „Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum“.

Der jüdische Arzt Leon Pinsker versuchte, das Umsichgreifen des Rassenwahns aufzuhalten. Er sprach in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 von „Judäophobie“ wie von einer Geisteskrankheit. Ihm war das Erscheinungsbild vertraut, wonach sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine mentale Störung anzeigten.

Auf die vermehrte Propaganda und Parteienbildung der Antisemiten reagierten religiöse Juden und judenfreundliche Christen 1891 mit der Gegengründung des "Vereins zur Abwehr des Antisemitismus". 1893 bildeten Kreise des liberalen Bürgertums in Berlin den "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Doch diese hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu hören.

Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch "Der Judenstaat", das den Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den 1. Zionistenkongress nach Basel ein. Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich viele freiwillig zur Front, als der 1. Weltkrieg ausbrach. Sie wurden oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet und glaubten, dass ihre Eisernen Kreuze sie vor weiteren Verfolgungen schützen könnten.

Vom Antisemitismus zum Nationalsozialismus

 
Antisemitismus, 1. April 1933

Noch 1880 belegte der Begriff „Antisemitismus“ vor allem eine parteipolitische Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Nach Darwins Tod 1882 wurden dessen Theorien jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. So forderte z.B. Paul de Lagarde die Einheit von „Rasse und Volk“, natürlich unter Ausschluss des Judentums. Man redete nun nicht mehr von dessen negativen sozialen Einflüssen, sondern von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“. Man argumentierte nun also gegen die „Vermischung“ der „Rassen“ und legte damit gedanklich eine „Radikallösung“ nahe. Nun wurden auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum gezählt, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde.

1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain - ein Schwiegersohn Richard Wagners - in seinem Buch "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen. - 1914 gingen die beiden Antisemiten-Parteien in der "Deutschvölkischen Partei" (DVP) des Kaiserreichs auf. Deren Hamburger Programm forderte die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts. Diese ideologische Zuspitzung bereitete dem Nationalsozialismus den Boden.

Doch zunächst überlagerte der Erste Weltkrieg die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Als die Novemberrevolution 1918 das Kriegsende und die Flucht des Kaiser erzwang, traten die ungelösten sozialen Gegensätze offen hervor: Der Krieg hatte sie nur verschärft. In der Nachkriegsnot nahm der Antisemitismus neuen Aufschwung. Reaktionäre Offiziere und große Teile des Bürgertums lasteten ihre Niederlage und die Auflagen des Versailler Vertrags den „jüdischen“ Führern der Arbeiterbewegung an. Republikfeindliche Antisemiten fand man seit 1919 in mehreren rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP wieder. Der gestürzte Wilhelm II. selbst forderte die „Ausrottung“ der Juden.

Ein österreichischer Weltkriegsgefreiter hatte zugehört und setzte dies 20 Jahre später in die Tat um. Adolf Hitler übernahm den Antisemitismus nach eigener Aussage vom Wiener Bürgermeister und Publizisten Karl Lueger. Aber sein „Schlüsselerlebnis“ war die Revolution 1918, die er wie die meisten Nationalisten als „Dolchstoß“ von „jüdischen Verrätern“ empfand. Sein Putschversuch in München 1923 reagierte ausdrücklich auf den dortigen Versuch der Räterepublik 1918/19. 1924 schrieb er in der Festungshaft seine Autobiographie „Mein Kampf“: Darin bekannte er sich offen zum Programm des Antisemitismus und kündete seine Strategie an, es politisch und militärisch durchzusetzen, um die Vernichtung aller Juden zu erreichen.

Für diese Ziele fand sich jedoch längst vor der Gründung der NSDAP ein aufnahmebereites Umfeld: Große Teile der deutschen Studenten- und Akademikerschaft huldigten ungebrochen dem Antisemitismus der Kaiserzeit. Die Deutsche Burschenschaft z.B. beschloss 1921 die Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitglieder. Mit der Propagierung der "nationalen Revolution" wurden viele Studentenverbindungen zum Steigbügelhalter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden preußische Konservative, bürgerliche Monarchisten, faschistische Staatsbegeisterte und Volkstumsverehrer ihren gemeinsamen reaktionären Nenner.

Sofort nach ihrer Machtergreifung verfolgten die Nationalsozialisten unter ihrem Regime ab Januar 1933 das Vernichtungsprogramm des Antisemitismus: In nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz führten ihre Maßnahmen über Geschäftsboykotte, Emigrationsdruck, die Nürnberger Gesetze, Berufsverbote, Enteignung ("Arisierung"), die „Reichskristallnacht“, Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“ (Holocaust). Allein diese industriell organisierte Vernichtung des europäischen Judentums – im jüdischen Selbstverständnis „Shoa“ (Katastrophe) genannt – forderte um die 6 Millionen Opfer.

Zwar wandten sich die Nationalsozialisten im Mai 1943 per Dekret offiziell vom Begriff „Antisemitismus“ ab. Der Nazi-Ideologe Rosenberg gab eine neue Sprachregelung vor, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. Doch dies spielte keine Rolle für die geschaffenen Tatsachen: Der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als die Kriegsniederlage feststand. Die nationalsozialistische Ideologie und Politik zielte von Anfang bis Ende auf die völlige Ausrottung des Judentums. Damit war eine rassistische Abwertung „semitischer“ und „slawischer“ Völker verbunden, auch wenn diese nicht primäres Objekt der Vernichtungsstrategie waren. Das deutsche Nazi-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.

Antisemitismus in anderen Ländern

In fast allen Ländern Europas lassen sich früher wie heute antisemitische Tendenzen feststellen.

In Frankreich brachte die Dreyfus-Affäre 1894 den Antisemitismus weiter Kreise der Gesellschaft zum Vorschein. Reaktionäre Militärs, unterstützt von Monarchisten und Katholiken, verurteilten den Hauptmann Alfred Dreyfus, Elsässer und Jude, aufgrund gefälschter Papiere als Landesverräter. Als dies bekannt wurde, verweigerte man ihm jahrelang die Rehabilitation. Dies war der Anlass für Theodor Herzls Buch "Der Judenstaat" (1896), das den politischen Zionismus begründete.

In Russland verfolgte Zar Nikolaus I. (1825-1855) eine grausame Judenpolitik. Erst unter seinem Nachfolger Alexander II. durften einige reiche russische Juden außerhalb der Ghettos wohnen und ihre Kinder auf höhere Schulen schicken. Seine Ermordung am 1. März 1881 aber löste eine Pogromwelle aus: Staatlich lancierte Gerüchte lasteten den Mord und die schlechte Versorgungslage der jüdischen Minderheit an. In der Folge verwüstete die Bevölkerung über 100 jüdische Gemeinden vor allem in der Ukraine. Die Behörden blieben untätig. Zar Alexander III. verordnete dann am 3. Mai 1882 Knebelgesetze, die die Juden an freier Berufswahl und Gewerbefreiheit hinderten und vielfach in noch größere Armut stürzten. Sie lösten die erste Alijah (Einwanderungswelle) von Juden in Palästina aus; die zweite folgte auf die Pogrome von Kischinew 1903 und während der ersten russischen Revolution 1905. Die antijüdischen Gesetze wurden aber noch verschärft und blieben bis zur Oktoberrevolution 1917 in Kraft.


Auch in den USA war Antisemitismus vor dem Zweiten Weltkrieg verbreitet. So führte zum Beispiel die Yale University 1925 ein diskriminierendes Aufnahmesystem ein: Es bevorzugte Kinder von Absolventen, unter denen fast nur Nichtjuden waren, um so den Anteil jüdischer Studierender zu begrenzen. In den 30er Jahren waren Radiosendungen des antisemitischen katholischen Priesters Charles Coughlin sehr beliebt. In den Südstaaten ist unter den "White American Southern Protestants" die Ablehnung "jüdischer Yankees" der "Wallstreet" - also des städtischen Großkapitals der Nordstaaten - zum Teil bis heute verwurzelt. Generell nahmen antisemitische Tendenzen seit 1945 in den USA aber stark ab.

Gegenwart

Seit 1945 traten rassistische Begründungen für eine prinzipielle Ablehnung der Juden zurück. Antisemitismus als sich selbst tragende pseudowissenschaftliche Theorie tritt nur noch selten hervor. Dennoch gibt es auch heute Denk- und Handlungsmuster, die man als "antisemitisch" einstufen muss: sei es indirekt durch Verdrängung von historischer Erinnerung und Geschichtsklitterung oder direkt durch Verbreitung von Vorurteilsstrukturen und Gewaltakte gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Einige heutige Tendenzen sind:

  • Rechtsextreme Parteien, bei denen Antisemitismus, Israel- und Ausländerfeindschaft eine Synthese eingehen, sind in mehreren Landesparlamenten vertreten und drängen zurück in die Bundespolitik.
  • In ihrem gewaltbereiten Umfeld verüben Neonazi-Gruppen und Skinheads eine zunehmende Anzahl von auch antisemitschen Straftaten gegen Juden und jüdische Einrichtungen: Friedhofschändungen, Anschläge auf Synagogen und Vandalismus gegen Holocaust-Gedenkstätten.
  • Der anti-israelische Islamismus gewinnt auch in Europa an Boden und entwickelt sich zur realen Gefahr für hier lebende Juden.
  • Der sekundäre Antisemitismus unterstellt "den Juden" in Form von Kritik an jüdischen Verbänden (Zentralrat, Jewish Claims Conference, Staat Israel), sich etwa durch Entschädigungsforderungen bereichern zu wollen. Behauptet wird z.B., dass jüdische Historiker dazu die deutsche Schuld am Holocaust verlängern wollten. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex brachte dieses Phänomen so auf den Punkt: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.
  • Die "Neue Rechte" pflegt bis in etablierte Parteien hinein eine Art "sanften" Rassismus, der nichts gegen "die Juden" hat, aber auf kulturelle "Eigenarten" pocht und multikulturelle oder kosmopolitische Entwürfe ablehnt.
  • Die "Schlussstrich"-Mentalität ist seit der Deutschen Einheit enorm gewachsen: Nach einer Forsa-Umfrage von 2003 mochten 61% aller Deutschen nicht mehr an die damaligen Verbrechen erinnert werden.

Ein genaues Abgrenzen antisemitischer Tendenzen ist heute erschwert, weil gerade die letztgenannten Punkte in die gesellschaftliche "Mitte" hineinreichen. All diese Tendenzen werfen die Frage auf, ob die "Berliner Republik" die mit dem Verblassen der Erinnerung an den Holocaust einhergehende Neubelebung antisemitischer Strömungen in der Gesellschaft und die Ausbreitung neuer Aggressionen gegen Juden hinzunehmen bereit ist oder nicht.

Literatur

  • AG Antifa / Antira im StuRa der Uni Halle (Hg.): Trotz und wegen Auschwitz. Nationale Identität und Antisemitismus nach 1945. Rezension, Münster 2004, ISBN 3897714280 [1]
  • Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.[2]
  • Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, 2 Bände, Stuttgart 1980.
  • Wolfgang Benz /Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma: Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002.
  • Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
  • Eric Stephen Bronner: Ein Gerücht über die Juden: die "Protokolle der Weisen von Zion", Berlin 1999.
  • Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965.
  • Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. Luchterhand-Verlag, München 2000, ISBN 3630880037
  • Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und 'Wilden' in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Wochenschau Verlag, Schwalbach/Taunus 1999, ISBN 3879204853
  • Steven Alan Carr, Hollywood and anti-semitism : a cultural history up to World War II, Cambridge University Press 2001
  • Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1987.
  • Detlev Claussen (Hrsg.), Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt 1988.
  • Friedrich Engels: Über den Antisemitismus (1890) [3]
  • Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983.
  • Ferdinand Hitzig: Art. Semitische Völker und semitisches Recht, Bluntschli / Brater, Band. 9 (1865.
  • Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien, 1997.
  • Norbert Kampe: Studenten und "Judenfrage" im Deutschen Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1988 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76).
  • Abraham Leon: Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung. Essen, 1995
  • Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus, München 2003.
  • Thomas Nipperdey/ Reinhard Rürup: Antisemitismus, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1972.
  • Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus - Ein theoretischer Versuch. In: Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch : Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main, 1988, S.242-254. [4]
  • Peter G. J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914,Gütersloh 1966.
  • Jean Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage (1944). Reinbek bei Hamburg, 1994.
  • Michael Selzer (Hrsg.), "Kike!" : A documentary history of anti-semitism in America, New York 1972
  • Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code, Verlag C. H. Beck, München 2000 (zweite Auflage)
  • Gustav Weil: Art. Semitische Völker, Rotteck/Welcker, 3. Aufl., Band. 13 (1865).
  • Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen, Frankfurt a. M. 2003
  • Nach 1945:
  • Joachim Perels: Antisemitismus in der Justiz nach 1945?. In: "Beseitigung des jüdischen Einflusses ..." / Fritz-Bauer-Institut (Hg.) - Frankfurt [u.a.]. - S. 241 - 252. - (Jahrbuch ... zur Geschichte und Wirkung des Holocaust ; 1998/99
  • S. Jäger/M. Jäger: Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus. LIT Verlag, Münster 2003.
  • Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. LIT Verlag, Münster 2004.

Siehe auch

Vorlage:Wikiquote1

Vorlage:Navigationsleiste Judenfeindlichkeit