Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen

ausländerfeindlich motivierte Angriffe am 22. bis 26. August 1992
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Der Rostocker Stadtteil Lichtenhagen erlangte im August 1992 traurige Berühmtheit, nachdem es dort zu den größten ausländerfeindlichen Pogromen der deutschen Nachkriegsgeschichte kam.

Vorgeschichte

Lichtenhagen ist ein Stadtteil im Nordwesten der Stadt Rostock. Er wurde benannt nach dem gleichnamigen Dorf, das heute zur Gemeinde Elmenhorst/Lichtenhagen im Landkreis Bad Doberan gehört. Der Stadtteil war eine der ersten Plattenbausiedlungen Rostocks. Wegen seiner Nähe zum Seebad Warnemünde ist er auch heute noch eine beliebte Wohngegend.

Die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber für Mecklenburg-Vorpommern (ZASt M-V) befand sich in einem elfgeschossigen Plattenbau in dem Rostocker Neubauviertel, der wegen seiner Fassadengestaltung "Sonnenblumenhaus" genannt wurde. Das Haus war berüchtigt für die menschenunwürdigen Bedingungen, in denen die Asylbewerber dort untergebracht waren. Eine Betreuung der Bewohner fand so gut wie nicht statt. Die Behörden ignorierten die zahlreiche Beschwerden der Anwohner und Bewohner über die hygienischen Zustände und die menschenunwürdigen Bedingungen im Wohnhaus.

Die Übergriffe

Nachdem es zuvor schon zu mehreren ausländerfeindlichen Übergriffen gegen einzelne Bewohner des "Sonnenblumenhaus" gekommen war, versammelten sich am 22. August 1992 zahlreiche Jugendliche in der Nähe des Hauses. Sie begannen, Bewohner des Hauses, die sich vor dem Gebäude aufhielten, mit Steinen zu bewerfen. Nachdem diese in das Haus geflüchtet waren, begann der Mob, die Fensterscheiben des Hauses einzuwerfen. Die Polizei griff nur zögerlich ein und zog sich zurück, als die anwesenden Jugendlichen und Anwohner Widerstand leisteten.

In den folgenden Nächten kamen immer mehr Menschen, die sich entweder an den Attacken gegen das Haus oder auch an den Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligten. Viele Menschen verfolgten das Geschehen ohne einzugreifen, ein Teil bejubelte die sogar Täter oder skandierte ausländerfeindliche Parolen.

Am dritten Tag der Übergriffe, den 24. August, wurde früh morgens die ZASt evakuiert. Die Räumung eines daneben liegenden Wohnheimes unterblieb jedoch, weil man im Rostocker Rathaus geglaubt hatte, hier würden nur Deutsche leben. Tatsächlich befanden sich zu diesem Zeitpunkt in dem Gebäude noch 115 Vietnamesen, auf die sich nun die Angriffe richteten. Jugendliche aus der Antifa-Bewegung, die versuchten, die Gebäude und seine Bewohner zu beschützen, und sich mit den Demonstranten Gefechte lieferten, wurden am Abend von der Polizei festgenommen. Durch diesen Schritt waren die Bewohner und Bewohnerinnen wieder dem ausländerfeindlichen Mob ausgesetzt.

In der Nacht des 24. August warfen unter den anfeuernden "Ausländer raus"-Rufen der umstehenen Schaulustigen mehrere meist jugendliche Täter wiederum Steine und Molotowcocktails in das Gebäude. Der Eingangsbereich wurde von rechtsextremistischen Skinheads mit Baseballschlägern gestürmt, das Licht und die Einrichtung zerschlagen und unter Rufen wie "Wir kriegen Euch alle, jetzt werdet Ihr geröstet" Benzin ausgeschüttet und angezündet.

Zu den über 100 Eingeschlossenen zählt auch ein Fernsehteam des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Der Augenzeuge Thomas Euting, Leiter des ZDF-Landesstudios Sachsen in Leipzig, berichtet: "Die Notausgänge zum Nachbarhaus sind allesamt von den deutschen Nachbarn verrammelt und mit Ketten gesichert. Man will verhindern, dass die lästigen Ausländer etwa rüberkommen könnten." Auch Euting schrieb in dieser Lage einen Abschiedsbrief an seine Frau.

Den vietnamesische Familien und dem Fernsehteam gelang es jedoch, auf das Dach des Hauses zu fliehen. Die Feuerwehr konnte auf Grund der Gewaltbereitschaft der Anwesenden nicht zum Löscheinsatz ausrücken. Die Polizei weigerte sich, der Feuerwehr den Weg zu bahnen, da sie sich angeblich kräftemäßig dem Mob unterlegen fühlte. Erst in der nächsten Nacht wurde unter Hinzuziehung von auswärtigen Polizeieinheiten die Situation unter Kontrolle gebracht.

Die Folgen der ausländerfeindlichen Attacken

Zahlreiche Medien im In- und Ausland berichteten bereits während dieser Tage intensiv vom Ort des Geschehens. Besonders bekannt wurde das Bild eines Rostocker Einwohners vor dem brennenden Haus auf den Titelseiten der Weltpresse, im schwarz-rot-goldenen Trikot des Deutschen Fußball-Bundes, mit Urin befleckter Jogginghose, in der einen Hand eine Bierdose, mit der anderen den Hitlergruss zeigend.

Nach den ausländerfeindlichen Attacken wurde der Seite der Bundes- und der Landesregierung stets betont, dass es sich um die Taten Einzelner handeln würde, die die Missbilligung der Mehrheit auf sich ziehen. Diese Behauptung ließ sich nach den Bildern der jubelnden und ausländerfeindlichen Parolen grölenden Menschenmenge nur schwer aufrechterhalten. Auch wurde die Behauptung aufgestellt, dass Neonazis aus Westdeutschland die Attacken koordiniert hätten, die sich jedoch ebensowenig belegen ließ.

Sicher ist, dass die örtlichen Behörden eine Mitschuld an den Attacken tragen. Erst nachdem das Pogrom nationale und internationale Aufmerksamkeit erreicht hatte, forderte die Polizei ausreichende Verstärkung an und verhinderte weitere Attacken. Zu diesem Zeitpunkt hatte der ausländerfeindliche Mob sein Ziel erreicht: Die ZASt M-V in Lichtenhagen wurde geschlossen und später nach Boizenburg/ Elbe verlegt. Dort existiert sie noch heute in einer ehemaligen Kaserne der Grenztruppen der DDR, außerhalb der Stadt.

Die Debatte um Ursachen der Geschehnisse wurde schnell mit der Diskussion um das deutsche Asylrecht verknüpft. Nur wenig später und von einigen Politikern mit der Begründung, in Zukunft Attacken wie in Lichtenhagen zu verhindern zu wollen, wurde das Asylrecht so geändert, dass es für politische Flüchtlinge quasi unmöglich ist, Asyl in Deutschland zu bekommen (Drittstaatenregelung).

Die juristische Aufarbeitung der Gewalttaten von Lichtenhagen kam einem Skandal gleich. Der Verfolgung der Straftäter wurde von Seiten der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes eine so niedrige Priorität eingeräumt, dass sich einige Verfahren bis zu zehn Jahren verschleppten und mit der Begründung, dass seit der Tat schon sehr viel Zeit verging nur verhältnismäßig niedrige Strafen von bis zu zweieinhalb Jahren ausgesprochen und sogar Verfahren wegen Verjährung abgebrochen wurden.

Inzwischen gibt es ein überparteiliches Aktionsbündnis "Bunt statt Braun", die sich zum Ziel gesetzt hat, dass sich die Vorfälle von 1992 nie wiederholen und dass das "Image" von Lichtenhagen, von Rostock und von Deutschland insgesamt korrigiert wird. Das Motto "Bunt statt Braun" entspringt einer Aktion des Herbstes 1998, als sich in Rostock ein parteiübergreifendes Bündnis gegen eine Demonstration der NPD vor dem ehemaligen Asylbewerberheim bildete und im September schließlich über 20.000 Rostocker für eine weltoffene und friedliche Gesellschaft demonstrierten.

Für seine "Kennzeichen D"-Reportage wurde Thomas Euting mit dem Journalistenpreis der IG-Medien, dem "Tele-Star" von ARD und ZDF und mit der Carl von Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet.

Literatur

  • K. Althoetmar, M. Diezsch, M. Jäger, S. Jäger, H. Kellershohn, J. Pfennig, H.-P. Speer, F. Wichert, N. Räthzel: Schlagzeilen. Rostock: Rassismus in den Medien, 2. Auflage, Duisburg: DISS, 1992, ISBN 3-927388-32-7
  • Jochen Schmidt: Politische Brandstiftung : warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging. Berlin : Ed. Ost, 2002. ISBN 336001040X (siehe auch Rezensionen in Junge Welt und Süddeutsche Zeitung vom 17. September 2002)

Filme

  • Mark Saunders - The Truth lies in Rostock - Die Wahrheit liegt (lügt) in Rostock. August 1992. (BRD, Großbritannien, 78 min.)
  • www.dradio.de/ Deutschlandfunk - Beifall für Brandsätze (rtf)
  • www.heute.t-online.de/ ZDF heute - Mittendrin im Ausländerhass
  • www.zdf.de/ ZDF Politik und Gesellschaft - Zusammenstellung von Beiträgen zu dem Pogrom in Rostock
  • www.zeit.de/ Liane von Billerbeck: "Ich war Teil der Meute". Zehn Jahre nach dem Pogrom von Lichtenhagen: Täter, die zu Märtyrern gemacht werden, eine Mordanklage und ein ungewisses Urteil. (2002)
  • www.buntstattbraun.de Aktionsbündnis "Bunt statt Braun"
  • www.nadir.org/ Wahlkampf mit Pogrom (September 1998)