Geschichtsbild
Unter einem Geschichtsbild versteht man die Summe der Vorstellungen, mit denen Geschichte verstanden wird. Es ist Teil des umfassenderen Weltbildes eines Menschen.
Verschiedene Geschichtsbilder
Hierunter versteht man die Vorstellung, dass die Geschichte einem bestimmten Endzweck zustrebt. Häufig handelt es sich um religiöse Vorstellungen, etwa die, dass die Geschichte mit einem "Jüngsten Gericht" Gottes ende. Auch die "Klassenlose Gesellschaft" als Endzweck gesellschaftlicher Entwicklungen definiert ein teleologisches Geschichtsbild.
Zyklisches Geschichtsbild
Diese besonders in Asien verbreitete Vorstellung geht davon aus, dass sich alles wiederholt. Zwar gibt es eine eindeutige Bewegungsrichtung - vorgestellt als Bewegung auf einem Kreis -, aber die Bewegung, die nie endet, kommt nach einiger Zeit wieder da an, wo sie herkam. Häufig werden dabei bestimmte auffallende Ereignisse als Kennzeichnung des Beginns eines neuen Zyklus gesehen, etwa die Erleuchtung eines neuen Buddha. Auch in Europa gibt es zyklische Geschichtsvorstellungen, etwa bei Oswald Spengler.
"Alles bleibt gleich"
Dass sich "sub spezie aeternitatis" nichts ändert und lediglich die Akzidentien unterscheidbar sind, ist die Vorstellung eines Geschichtsbildes, das Gesetzmäßigkeiten der Geschichte empirisch ermittelt und für die jeweilige Gegenwart übernimmt. Ganz besonders wurde diese Vorstellung bei Niccolo Machiavelli deutlich. Diesem Standpunkt der Konstanz der wesentlichen Elemente der Politik folgt die Möglichkeit des Lernens aus Geschichte. Machiavelli abstrahiert von den Einzelereignissen und stellt Gesetzmäßigkeiten auf, die zeitlos gültig sind.
Unter diesem Begriff versteht man die Vorstellung, dass sich die Welt stets zum Besseren wendet. Er ist manchmal, aber nicht immer, mit einer teleologischen Vorstellung verbunden. Die Vergangenheit erscheint so als das überwundene Schlechte. Häufig sind es sogenannte "fortschrittliche" politische Theorien, die die Vorstellung einer stetigen Verbesserung der Welt beinhalten. Ein Lernen aus der Geschichte wird hier sehr schwierig; allenfalls eine Extrapolation der gegenwärtigen Bewegungsrichtung wird als empirische Lern- und Prognosemeöglichkeit zugelassen.
Das Gegenteil ist die Vorstellung, dass sich die Welt ständig zum Schlechteren hin entwickelt. Die Vorstellung wird durch die christliche Vorstellung der Vertreibung aus dem Paradies unterstützt. Mit einem kulturpessimistischen Geschichtsbild wird die Vergangenheit geradezu verklärt. Ein extremer Vertreter des Kulturpessimismus ist der italienische Kulturphilosoph Julius Evola.
Vorbestimmtheit
Häufig wird unterstellt, dass der Ablauf der Geschichte vorbestimmt ist und vom einzelnen gar nicht wesentlich beeinflusst werden kann. Viele, aber nicht alle kulturoptimistischen Theorien gehen davon aus. Unser heutiges Geschichtsbild ist ganz wesentlich von der Vorbestimmtheit geprägt. So sprechen wir von "Entwicklung", was die Vorstellung beinhaltet, dass der Geschichtsverlauf vorher aufgewickelt wurde und sich jetzt ent-wickelt. In dieser Vorstellung kann man mit der Entwicklungsrichtung mitgehen ("fortschrittlich" sein) oder als Bremser ("konservativ" oder "reaktionär" sein) dazu verurteilt sein, dass die Geschichte über einen hinweg geht. Auch der historische Materialismus, der von "ehernen Gesetzen" ausgeht, erlaubt einen Blick in die Zukunft durch Kenntnis eben dieser Gesetze. Anhänger der Vorbestimmtheit - welcher Art auch immer - kennen daher Einzelpersönlichkeiten oder Institutionen, die durch intensives Studium in der Lage sind, den Verlauf der Geschichte zu erkennen.
Vorsehung und Gott
Die Vorbestimmtheit wird oft verstärkt oder modifiziert, indem Gott mit in die Vorstellung eingeführt wird. Dies kann sowohl die Vorstellung eines handelnden (allmächtigen) Gottes sein, der Einfluss auf das Geschehen nimmt, als auch die Vorstellung sein, dass der allwissende Gott die Entwicklungsrichtung kennt und sie daher "vorhersieht". In der Antike ging man davon aus, daß es bestimmten Menschen möglich ist, die Zukunft vorherzusehen. Das Orakel von Delphi ist die berühmteste Institution dieser Art, in der Pythia Weissagungen macht. In unserer aufgeklärten Zeit genießt der Rat von Weissagern einen geringen Ruf. Gleichwohl soll es auch Politiker geben, die sich Horoskope machen lassen oder auf andere Weise sich die Zukunft sagen lassen. In diesem Fall geht es darum, durch Kenntnis der Zukunft sich besser an diese anzupassen oder günstige Zeitpunkte für Aktionen zu wählen.
Freier Wille
Im Gegensatz dazu gibt es Vorstellungen, die Geschichte grundsätzlich als menschengemacht ansehen. Hier werden Einzelpersönlichkeiten herausgegriffen, die Geschichte "gestalten". Der "starke Mann" und die zahlreichen historischen Persönlichkeiten mit dem Beinamen "der Große" sind Beispiele für die Annahme, dass ein starker Wille die Menschen auf ein Ziel hin ausrichten und damit die Welt (oder zumindest ein Land) gestalten kann. Eine Prognosemöglichkeit ergibt sich bei strenger Annahme des freien Willens nicht. Auch ein Lernen aus Geschichte ist nur beschränkt möglich, jedenfalls lange nicht so intensiv wie bei den Anhängern von Gesetzmäßigkeiten.
Wirkungen des Geschichtsbildes
Je nach dem, welches Geschichtsbild zugrunde gelegt wird, wird Geschichte sehr unterschiedlich dargestellt. Wer vom freien Willen ausgeht, wird Geschichte vor allem als Handlungsfolgen starker Einzelpersönlichkeiten darstellen. Wer hingegen mehr von Gesetzmäßigkeiten ausgeht und damit die handelnden Personen im Extremfall als Protokollanten der geschichtlichen "Ent-wicklung" betrachtet, der wird den Personen einen geringeren Stellenwert beimessen.
Einige Beispiele sollen dies zeigen:
Bei Napoleon Bonaparte wird häufig als ein Mensch gesehen, der durch seine Ausstrahlung die Menschen in seine Gewalt zwang. Besonders deutlich wird dies an der Rückkehr aus der Verbannung, als er durch seine bloße Ansprache die Truppen, die ihn aufhalten sollten, für sich gewann ("Ich bin´s, Euer Kaiser!"). Im Gegensatz dazu ist von Georg Wilhelm Friedrich Hegel überliefert, daß er beim Anblick Napoleons "Der Weltgeist zu Pferde" ausrief. Dahinter steckt die hegelianische Vorstellung, daß Napoleon nur ausführendes Organ des Weltgeistes ist, der sich in Napoleon verwirklicht.
Ein anderes Beispiel ist Adolf Hitler. Er wird in den üblichen heutigen Geschichtsdarstellungen als eine Persönlichkeit angesehen, die aufgrund eigenen Willens den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Andere Darstellungen, die den Zweiten Weltkrieg als Ergebnis von Konstellationen ansah, die sich wesentlich aus nicht gelösten Fragen des Ersten Weltkriegs ergaben, gelten heute als politisch nicht korrekt, waren aber in den fünfziger Jahren weit verbreitet.
Die heutige Sichtweise in Europa wird wesentlich bestimmt von einem durch den Liberalismus geprägtes Menschen- und damit auch Geschichtsbild. Es geht von einem freien Willen aus, was eine sehr persönlichkeitsorientierte Geschichtsdarstellung zur Folge hat. Diese Vorstellung ist erst seit kurzer Zeit so dominant. Zur Zeit des Kalten Krieges konkurrierte sie mit dem marxistischen Geschichtsbild, das von gesellschaftlichen Strukturen ausging und daher den Zweiten Weltkrieg auch nicht dem Wirken einer Einzelperson, sondern einer geschichtsnotwendigen Phase, dem Faschismus als Höhepunkt des Kapitalismus, zuschrieb. Hitler hat in diesem Geschichtsbild eine eher symbolische Bedeutung; er wird als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen, aber nicht als der Mann, der seiner Zeit den Stempel aufdrückte.
Derzeit gewinnt der Islamismus an Kraft. Er geht von einer viel stärker schicksalsgebundenen Geschichte aus als der liberalistisch geprägte Westen. Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts hingegen war in Deutschland von der Vorstellung geprägt, daß sich Kulturen wie Organismen entwickeln und daher entstehen und vergehen. Eines der bedeutendsten Werke dieses Geschichstbildes war "Der Untergang des Abendlandes" Oswald Spenglers. Wiederum anders war das Geschichstbild des Nationalsozialismus. Dort vermischten sich solche organischen Vorstellungen mit denen, dass sich der Stärkere und Vitalere durchsetzt, und mit den Elementen der Vorbestimmung. "Vorhersehung" war ein häufig gebrauchtes Wort Hitlers.
Es gibt daher eine These, daß sich das Geschichtsbild mit jeder Generation ändert und Geschichte daher immer wieder neu geschrieben wird.