Die indogermanische Sprachfamilie ist die mittlerweile vor allem auf Grund der Kolonisation meistverbreitete Sprachfamilie der Welt.
Der Begriff "indogermanisch"
Bei der Bildung des Begriffs "Indogermanisch" im 19. Jahrhundert gingen die Sprachforscher von den beiden damals räumlich am weitesten auseinanderliegenden Sprachgruppen, der indischen und der germanischen aus. Diese Bezeichnung wurde im deutschen Sprachraum, der in dieser Forschungsdisziplin weltweit immer noch führend ist, beibehalten und hat nichts mit irgendeiner Überlegenheit der Germanen in Europa oder der Inder in Asien zu tun. Viele andere Sprachen verwenden hingegen die politisch korrekte Bezeichnungen indo-europäisch.
Ungefähr die Hälfte der Menschheit hat eine indogermanische Muttersprache.
Ursprung und Entwicklung
Die indogermanischen Sprachen sind nach Meinung der Indogermanistik im linguistischen Sinne genetisch verwandt; dass ihre Ähnlichkeit nur auf typologischer Angleichung nach Art eines Sprachbunds zustande gekommen ist, kann heute ausgeschlossen werden.
Ende des 18. Jahrhunderts erkannte der englische Orientalist William Jones aus Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit und einigen europäischen Sprachen, dass es für diese Sprachen eine gemeinsame Wurzel geben muss. Der Deutsche Franz Bopp brachte 1816 in seinem Buch Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache den methodischen Beweis für die Verwandtschaft dieser Sprachen und gilt, zumindest im deutschsprachigen Raum, als Entdecker des Indogermanischen.
Diese indogermanische Ursprache ließ sich sprachwissenschaftlich rekonstruieren, obwohl aus dieser Zeit keine Schriftdokumente vorliegen. Für die Sprachen, die auf das Indogermanische zurückgehen, lässt sich auf der Grundlage der Forschungsergebnisse des deutschen Linguisten August Schleicher ein „Stammbaum“ darstellen, der den Ursprung und die Verwandtschaftsstruktur dieser Sprachen wiedergibt. In diesem „Stammbaum“ gibt es sowohl gesicherte als auch spekulative Verzweigungen; letztere betreffen insbesondere ausgestorbene Sprachen, die keine Nachfolgesprachen hinterlassen haben. Schleicher versuchte das hypothetische Protoindogermanische zu rekonstruieren, indem er sich ursprünglicher Formen diverser indogermanischer Sprachen bediente. Daraus entstand eine Übersetzung der Fabel „Das Schaf und die Pferde“ als „Avis akvasasca“. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass solche Rekonstruktionen in der Regel zu Wortwurzeln führen, aus denen durch Erweiterung einzelsprachliche Wörter entstanden sind. Eine Grundsprache im Sinne eines kommunikativen Verständnisses ist dies nicht.
Ausgehend von Wortstämmen, die allen indogermanischen Sprachen gemeinsam sind, wurde weiterhin in Zusammenarbeit mit der Archäologie versucht, das Ursprungsgebiet der Indogermanen zu bestimmen. Dabei wurden sowohl Ostanatolien, Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres oder Südosteuropa vorgeschlagen. Von den zahlreichen Hypothesen über diese Urheimat der Indogermanen, z. B. Kurgan-These, Anatolien-These ist keine allgemein akzeptiert. Einige Wissenschaftler stellen den Migrationsmodellen die Konzeption eines ausgedehnten indogermanischen Sprachkontinuums gegenüber. Es ist sogar strittig, ob eine 'Urheimat' überhaupt definiert werden kann, weil schon deren Existenz nicht gesichert werden könne, geschweige denn eine auch nur mehr als vage zeitliche und räumliche Ansetzung möglich sei.
Auch die Methodik der Glottochronologie liefert nur vermeintlich exakte Daten. Sie versucht an Hand einer geeichten Liste von fundamentalen Begriffen, von denen man annimmt, dass alle Sprachen ein Wort dafür haben, Verwandtschaftsbeziehungen von Sprachen festzustellen: je größer der Prozentsatz an verwandten Wörtern der Liste, desto enger sind die Sprachen verwandt. Im Vergleich zu der erschlossenen Ursprache ergibt sich die Menge des beibehaltenen Wortschatzes, die zwischen verwandten Sprachen differeriert. Aus der Differenz kann wiederum der zeitliche Abstand der Trennung der Schwestersprachen bestimmt werden. Kritisiert an dieser Methodik wird nicht die statistische Verfahrensweise an sich, sondern die Überzeugung, dass für die verschiedenen Stufen der Ausgliederung eine absolute Chronologie bestimmt werden könne. Dies gilt auch für die in der Presse stark beachtete Berechnung von Gray/Atkinson von der Universität Auckland (Neuseeland) aus dem Jahr 2003, die mit computergestützten Methoden der Evolutionsbiologie arbeitet.
Wahrscheinlich lassen sich sprachliche Rekonstruktionen nur in der Zusammenarbeit von Sprachwissenschaft und Archäologie erarbeiten.
Ob die Humangenetik dabei eine Rolle spielen kann, ist umstritten. Populationsgenetiker wie Luigi Cavalli-Sforza versuchen nachzuweisen, dass sich zwischen der genetischen Verwandtschaft auch weit auseinander lebender Bevölkerungsgruppen und sprachlicher Verwandtschaft Parallelen ziehen lassen.
Vermutungen zu entfernter Verwandtschaft wurden zu beinahe allen Sprachen der Welt angestellt. Die engste Verwandtschaft wird auf Grund grammatisch-morphologischer Gemeinsamkeiten mit den uralischen Sprachen angenommen. Darüber hinaus wird eine lose Verwandtschaft mit u.a. Afro-Asiatischen Sprachen, sowie mit den altaischen Sprachen angenommen und unter dem Begriff Nostratisch untersucht.
Eine überholte Unterteilung der indogermanischen Sprachen erfolgte früher nach dem Zahlwort für "hundert" in Centumsprachen als westliche Gruppe (nach lateinisch centum, altgriechisch he-katón) und Satemsprachen als östliche Gruppe (nach avestisch satem, altiranisch satam, altkirchenslawisch sato, litauisch simtas). Im Tocharischen steht für "hundert" känt, känte; das Tocharische müsste demnach, obwohl es im östlichen Tarimbecken beheimatet ist, den Centumsprachen zugerechnet werden. Die Sprache der kleinasiatischen Hethiter konnte ebenfalls als zur Centum-Gruppe zugehörig identifiziert werden.
Aus diesen Gründen verlor diese Unterteilung an Bedeutung.
Untergruppen
Zu den indogermanischen Sprachen gehören die folgenden Gruppen:
- Albanisch (eventuell verwandt mit dem Illyrischen)
- Anatolische Sprachen ausgestorben
- Hethitisch ausgestorben
- Luwisch ausgestorben
- Lydisch ausgestorben
- Lykisch ausgestorben
- Palaisch ausgestorben
- Armenisch (unklare Herkunft, mehrere Theorien: 1. indoiranische Sprache, 2. verwandt mit dem Phrygischen und Thrakischen)
- Baltische Sprachen
- Altpreußisch ausgestorben
- Lettisch
- Litauisch
- Dako-thrakische Sprachen ausgestorben
- Dakische Sprache ausgestorben
- Thrakische Sprache ausgestorben
- Phrygische Sprache (Zugehörigkeit zu den Thrakischen Sprachen vermutet, aber nicht gesichert) ausgestorben
- Germanische Sprachen
- Nordgermanische Sprachen (u. a. Schwedisch)
- Ostgermanische Sprachen (u. a. Gotisch) ausgestorben
- Westgermanische Sprachen (u. a. Englisch, Deutsch)
- Griechisch (mit den verschiedenen Dialekten)
- indoiranische Sprachen
- Indische Sprachen (u. a. Hindi, Bengali)
- Iranische Sprachen
- Keltische Sprachen
- p-keltische Sprachen (britannische Sprachen)
- q-keltische Sprachen (gälische Sprachen)
- Illyrisch ausgestorben
- Italische Sprachen
- Latein
- Faliskisch ausgestorben
- sabellische Sprachen (auch "Oskisch-Umbrisch" genannt)
- Oskisch ausgestorben
- Umbrisch ausgestorben
- Südpikenisch ausgestorben
- Slawische Sprachen
- Ostslawische Sprachen (u. a. Russisch)
- Westslawische Sprachen (u. a. Polnisch)
- Südslawische Sprachen (u. a. Serbokroatisch)
- Tocharisch ausgestorben
- Venetisch (verwandt mit, eventuell sogar zugehörig zu den illyrischen Sprachen) ausgestorben
Literatur
- Frederik Bodmer: Die Sprachen der Welt. Parkland-Verlag, Neuauflage ISBN 3880598800
- August Schleicher: Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. (2 Bde. 1861/62), Minerva GmbH, Wissenschaftlicher Verlag, ISBN 3810210714
- Reinhard Schmoeckel: Die Indoeuropäer, ISBN 3-404-64162-0
- James P. Mallory: In Search of the Indo-Europeans: Language, Archaeology and Myth. London: Thames & Hudson 1991 ISBN 0500276161
- Michael Meier-Brügger: Indogermanische Sprachwissenschaft. 7. völlig neubarbeitete Auflage der früheren Darstellung von Hans Krahe. Unter Mitarbeit von Matthias Fritz und Manfred Mayrhofer. Berlin - New York 2000: Walter de Gruyter. ISBN 3-11-017243-7
- "The Kurgan Culture and the Indo-Europeanization of Europe: Selected Articles Form 1952 to 1993" von Marija Gimbutas u.a., ISBN 0941694569
- "Das Ende Alteuropas. Der Einfall von Steppennomaden aus Südrussland und die Indogermanisierung Mitteleuropas" von Marija Gimbutas, in "Archeolingua", series minor 6. Budapest 1994
- "dtv-Atlas Deutsche Sprache" von Werner König u.a., ISBN 3423030259
- Colin Renfrew: Die Indoeuropäer - aus archäologischer Sicht, in: Spektrum der Wissenschaft. Dossier: Die Evolution der Sprachen, 1/2000, ISSN 09477934, S. 40-48.
- ders.: Archaeology and Language: The Puzzle of Indo-European Origins. Cambridge 1990 ISBN 0521386756
- Thomas W. Gamkrelidse und Wjatscheslaw Iwanow: Die Frühgeschichte der indoeuropäischen Sprachen, in: Spektrum der Wissenschaft. a.a.O., S. 50-57.
- Luigi Luca Cavalli-Sforza: Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation, Darmstadt: WBG 1999
- Comparative Indo-European Linguistics: An Introduction von Robert S.P. Beekes, ISBN 1556195052
- Encyclopedia of Indo-European Culture von James P. Mallory (Herausgeber), D. Q. Adams (Herausgeber), ISBN 1884964982
Weblinks
- http://www.hjholm.de - Mögliche Urheimat der Indogermanen
- http://www.weikopf.de/body_indoeuropaisch.html
- http://www.unibas.ch/klaphil/idg-ie.html - Indogermanisch oder Indoeuropäisch?
- http://www.zeit.de/archiv/2001/51/200151_sprachgen.xml - Wie Gene die Lippen spitzen
- http://www.wissenschaft-online.de/abo/spektrum/archiv/7007 - Sprachstammbaum im Computer
- http://www.civisdigitalis.de/em/info/archive_article.asp?article=121003 - Das große Rätsel der indoeuropäischen Sprache – neuer Disput um Alter und Herkunft
- http://www.geschichte.hu-berlin.de/bereiche/ufg/heft39_1.html#Ursprung - Zum Ursprung der Indoeuropäer. Archäologische, anthropologische und sprachwissenschaftliche Gesichtspunkte