Der Roman ist − gegenüber der pointierteren Novelle und der Kurzgeschichte − im Spektrum der literarischen Gattungen, das sich seit dem 17. Jahrhundert herausbildete, die Langform der schriftlich fixierten Erzählung.

Definition
Die nachfolgenden Definitionskriterien lassen sich am besten als Fragen verstehen, unter denen Romane diskutiert werden und in der jeweiligen Auseinandersetzung Qualitäten erweisen:
Fiktionalität
ist ein offensichtlich nicht hinlängliches Kriterium. Fiktion, Erfindung macht eine Historie nicht bereits zum Roman: Lügen, Geschichtsfälschungen, Irrtümer bleiben genau dies, während „realistische“, „historische“ und autobiographische Romane selbst dann Romane bleiben, wenn sie geschichtliche Ereignisse durchweg korrekt wiedergeben. Romane führten wiederholt durch schonungslose Geschichtsschilderungen in einen Streit über herrschende Geschichtsdarstellungen. Sie blieben dabei selbst im Bereich der Kunst (menschlicher Erfindung) verortet durch das Angebot
- „tieferer“, „zeitloser“ (außerhalb der Geschichtswissenschaft zu diskutierende) Wahrheiten
- einer den privaten Leser ansprechenden Erzählkunst (die Geschichtsschreibung bietet sich dagegen seit dem 17. Jahrhundert einer öffentlichen, auf strikte kritische Verifikation ausgerichteten und vom Erzählen abkehrenden Debatte an),
- (gegenüber der öffentlichen Geschichtsschreibung) vergleichsweise subjektiv motivierter Sujets, wobei die private Dimension von Liebesgeschichten historisch im Zentrum stand.
Länge, epischer Zugriff auf das Leben
wurden erst Mitte des 18. Jahrhunderts zu Qualitätskriterien des Romans. Für das 17. Jahrhundert ist gerade eine Drängen zu notieren, den Roman allein auf Fiktionalität zu verpflichten, und Kurzgeschichten und Novellen als kurze Romane zuzulassen – die Diskussion, in der im Spanischen und Englischen die Worte für die kurzen Erzählgattungen „novela“ und “novel“ auf die ehemalige Langform übertragen wurden. Der Roman nahm in diesem Prozess im Lauf des 17. Jahrhunderts neue Geschichtenverläufe, ein komplexeres Spiel mit Erzählpositionen der Novellistik (wie den Wechsel von Rahmen und Binnenhandlungen) auf – sie stehen heute neben dem Totalitätsanspruch, den der Roman vom Epos bezog (und der ihn von der auf den Moment konzentrierten Kurzgeschichte und der auf eine einzelne Geschichte konzentrierten Novelle absetzt).
Prosa
wurde in Westeuropa im 16. Jahrhundert ein Gattungsmerkmal. Das Wort „Roman“ entstand indes gerade im Blick auf die in „romanischer“ Sprache verfassten Versdichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts. Über die altfranzösische Artus-Epik verlief im 14. Jahrhundert in Europa der Schritt vom Vers- in den Prosaroman. Der Siegeszug der Prosa wird in Westeuropa zum Teil damit zusammenhängen, dass Verse sich auf dem bereits vor dem Druck expandierenden Buchmarkt schlecht verbreiten lassen: sie müssen in anderen Sprachen von Dichtern bearbeitet werden, während sich Prosa bei Fixierung auf die Wahrung der Aussagen übersetzen lässt. Prosa bewährte sich im selben Moment im historischen Lautwandel: man kann sie dem neuen Lautstand anpassen, währen Reime und Versrhythmen in Phasen des Lautwandels brechen.
Schriftliche Fixierung und Nutzung von Papier als Trägermedium
Deutlich band sich der Siegeszug der Prosa (im Japan des frühen 11. wie im Europa des 15. Jahrhunderts) an die schriftliche Fixierung und an die Nutzung von Papier als Trägermedium. Mit der Prosa und dem Papier-gebundenen Buch ging die Ausrichtung auf die stille Lektüre einher, in der Prosa leichter rezipierbar ist als Vers. Die stille, private Lektüre setzt Leseobjeke voraus, die der Rezipient privat und im Extremfall allein für sich erwirbt. (Wissenschaftliche Prosa wird von Fachbibliotheken erworben, Versromane auf zirkulierten, in teuren Pergament-Manuskripten, in Prachthandschriften, die im Moment des lauten Vortrags vor anwesendem Publikum sich zu Repräsentationszwecken nutzen ließen). Die Romanproduktion griff mit schmucklosen Büchern um sich, die sich handlichen Ausgaben (die meisten Romane wurden in Doudez oder Oktav gedruckt) vom Leser in den Privatraum entführen ließen.
Intimität der Lektüre und ihre partielle Öffentlichkeit im Moment des Buchdrucks
Der Roman entfaltete als stille Privatlektüre ein besonderes Potential für Intimität: Der für sich Lesende kann sich unbeobachtet Erzählungen widmen, von denen er sich unter Zeugen der Mitzuhörer unter Umständen distanzieren müsste. Romane konzentrierten sich mit Aufkommen der Prosa auf intime Schilderungen von Gefühlen, vor allen solchen der Liebe.
Mit dem Buchdruck] entstand hier ein spezielles Potential: Man liest Romane bis in das 19. Jahrhundert, um zu erfahren, was andere Leser soeben privat lesen (der Roman bleibt bis in das mittlere 18. Jahrhundert hinein vom öffentlichen Rezensions- und Besprechungswesen unberührt, seine moralische Reform in den 1740ern basiert ganz wesentlich auf dem Aufkommen der Literaturbesprechung, die hier die private Lektüre der öffentlichen Rechtfertigung unterzieht).
Literarizität der Schreibweise
Der Roman stieg im 17. Jahrhundert innerhalb des Feldes potenziell skandalöser Historien zur modischen Produktion eleganter belles lettres auf. Im 18. Jahrhundert gelangte er von hier aus in das Spektrum der „literarischen Gattungen“, zu denen von nun an daneben die dramatische und poetische Produktion zu rechnen war. Die intendiert kunstvolle „literarische“ Schreibweise wurde Definitionskriterium neben der Frage, wie sich Kunst (als Feld der Erfindung) der gesellschaftlichen Realität stellt.
Prestigeträchtige Preise wie der Nobelpreis für Literatur oder der Booker Prize gehen seit dem 20. Jahrhundert gezielt an Romanautoren, und festigen damit die Stellung der Gattung. Eine neue Verantwortung des Autors für die Kunst in der Gesellschaft steht mit der Literaturdiskussion im Raum. Nationale Literaturgeschichten legen seit dem 19. Jahrhundert eine Gattungsgeschichte nahe, in der sich der Roman von jeher im behaupteten Geflecht literarischer Gattungen entwickelte.
Geschichte
Außereuropäische Traditionen
Blicke auf außereuropäischen Traditionen des Romans hängen von der jeweiligen Romandefinition ab wie davon, wie weit hier eine Suche nach historischen Entwicklungslinien bestimmend wird. Man kann mit einem offenen Konzept der Entwicklungslinien den modernen Roman, wie Pierre Daniel Huet es 1670 vorschlug, in eine Gesamtgeschichte des weltweiten Umgangs mit Fiktionalität einbetten. Die Epik des Mittelalters wie der Antike, narrative Kurzformen mündlicher Erzählkunst, Gleichnisse, Legenden, religiöse Bildlichkeit, all dies gehört im selben Moment in einem weltweiten Netz von Austausch zum europäischen Roman. Legt man schlicht Gattungsmerkmale wie "längere Prosaerzählung" fest, so ergeben sich demgegenüber isolierte Befunde. Man kann sie als zufälliges Entstehen ein und derselben Gattung notieren, muss jedoch letztlich offen lassen, wieso man von ein und derselben Gattung spricht. Wichtige Titel sind hier die Genji Monogatari, deutsch Die Geschichte des Prinzen Genji, vefasst von Murasaki Shikibu zu Beginn des 11. Jahrhunderts, das arabische Hayy ibn Yaqdhan Ibn Tufails aus dem 12. Jahrhundert, Ibn al-Nafis' paralleler philosophischer Roman des 13. Jahrhunderts wie die Die Geschichte der Drei Reiche, (chinesisch 三國演義 / 三国演义, Pinyin Sānguó Yǎnyì), Luo Guanzhongs aus dem 14. Jahrhundert.
Den genannten Titeln ist gemein, dass sie eine längere Erzählung in Prosa anbieten. Sie kosten im selben Moment Potentiale späterer europäischer Romane aus. Murasaki Shikibus Geschichte des Prinzen Genji ist durchaus frühmodernen europäischen Romanen vergleichbar im intimen Umgang mit Innensichten ihrer Helden. Ibn Tufails Hayy ibn Yaqdhan bietet im Handlungsverlauf (der Titel kursierte auf englisch in zuvor in mehrern Ausgaben) Vorskizzen zu Defoe's Robinson Crusoe (1719) mit seinem Helden, der auf einer Insel als einziger Mensch groß wird, und dabei gleichwohl menschliche Kultur bis hinauf zur Gotteserkenntnis entwickelt. Das Buch ist auf der anderen Seite weit eher eine religionsphilosophische Lehrdichtung als ein Roman, falls man für den Roman eine spezifische Verbreitungsform privater Lektüre veranschlagt. Alle bis hier hin genannten Titel wurden nur indirekt zu Wurzeln des heutigen Romans: Forschung des ausgehenden 17. Jahrhundert brachte sie in den heute bestehenden Traditionszusammenhang. Die Suche nach weltweiten Wurzeln des Romans beginnt aus europäischer Perspektive im wesentlichen mit Huets Roman-Traktat.
Ein breiterer Markt für Fiktionen der Welt entstand aus europäischer Perspektive zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Publikation der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht in französischer Sprache 1706-1708. Die englische Übersetzung setzte (wie alle Ausgabe der Zeit der französischen folgend) 1706 ein, die deutsche 1712. Die Bände frappierten Westeuropa unverzüglich sowohl, da hier Novellistik im Zentrum stand, die islamische Welt aktuellen Geschmack bewies, wie da hier der unchristliche Kulturraum sich unerwartet moralisch, wenn nicht von naiver Gutmütigkeit, zeigte. Imitationen und eine Suche nach weiteren Texten folgten in Wellen eines europäischen Intereses an außereuropäischer Kultur, in denen Europa sich selbst kulturell wie historisch neu definierte: Die Kulturen Ostasiens und des islamischen Raums gewannen hier europäische Hochachtung. Die Entwicklung des afrikanischen Romans setzte demgegenüber symptomatisch spät erst im 20. Jahrhundert ein. Das Aufkommen von Romanen ist in jeder solchen Geschichtsschreibung vor allem ein sekundärer Indikator für das Vorhandensein einer Alltagskultur, in der ein günstiges wie transportables Trägermedium – Papier – sich der stillen Privatlektüre anbietet.
Der Roman der Antike
Als antiken Roman bezeichnet man einen freierfundenen Prosatext aus der Zeit des 1. bis 3. Jahrhunderts, in dem sowohl erotische Motive als auch Reiseabenteuer auftauchen. Diese Prosaerzählungen entwickelten sich in hellenistischer Zeit auf dem Boden verschiedener Texttraditionen. Dazu gehören utopische und phantastische Reiseberichte (z.B. Lukian von Samosatas Wahre Geschichten), romanhafte Biografien von Herrschern (z.B. Xenophons Kyrupädie oder die Alexander-Biografie des Pseudo-Kallisthenes), fiktive Briefsammlungen als Vorläufer des Briefromans und pseudo-historiographische Erzählungen von Troja (z.B. die vorgeblichen Augenzeugenberichte des Dares und des Diktys). Als antiken Roman im engeren Sinne bezeichnet man vor allem die griechischen und lateinischen Liebes- und Abenteuerromane des 1. bis 3. Jahrhunderts n. Chr.: Erzählungen, in denen erotische Motive und eine Serie von meist auf Reisen bestandenen Abenteuern das Geschehen bestimmen. Prominente Vertreter dieser Gattung sind die Kallirhoe des Chariton, die Ephesiaka des Xenophon von Ephesos, die Satyrica des Petron, der Goldene Esel (bzw. Metamorphoses) des Apuleius, Daphnis und Chloe des Longos und die Aithiopika des Heliodor.
Die fiktionale Prosaerzählung, mithin das, was später einmal Roman heißen würde, hatte in der klassischen Literatur- und Gattungstheorie der Antike noch keinen Raum, ja noch nicht einmal einen Namen. Das liegt zum einen an der erst späten Entstehung einer griechischen Erzählprosa, zum anderen wohl auch an der fehlenden kultisch-kulturellen Legitimierung dieser „leichten“ Lektüre - noch die Klassische Philologie des 19. Jahrhunderts hielt diese Texte für literarästhetisch nahezu wertlos. Auch die überwiegend schlechte Überlieferungslage - viele Romane sind nur fragmentarisch erhalten, viele ganz verloren gegangen - zeigt, dass es sich eher um Lesefutter für eine bürgerliche Schicht als um akademisch-aristokratische „Literatur“ handelte.
Schwer nachvollziehen lässt sich heute noch, welchen Einfluss die Erzähltraditionen der Antike auf die Neubegründung des Romans im Mittelalter ausübten. Am ehesten dürfte dieser (schmale) Einfluss im Bereich der Erzählstoffe spürbar sein, weniger dagegen der Erzähltechnik und Erzählhaltung. So basiert der altfranzösische Apolloniusroman (um 1150) auf der spätantiken Historia Apollonii regis Tyri. Erst mit dem Humanismus setzte ein neues gelehrtes Interesse an der antiken Literatur ein; vor allem die humanistische Novelle profitierte vom erneuten Zugriff auf lateinische und griechische Erzähltraditionen. Die antiken Geschichtsschreiber beeinflussten im 17. Jahrhundert den Roman stark. Deutlicher noch ließ sich an die fiktionale Produktion anschließen: Mit den Romanen Heliodors, Longos' und Lukians hinterließ die Spätantike Romane, an die das 17. Jahrhundert anknüpfte. Welchen Einfluss diese Traditionslinien über die Wirren der Völkerwanderungszeit hinweg auf Nordeuropa hatten, beschäftigte bereits Pierre Daniel Huet in seinem Traitté de l’origine des romans 1670.
Tradition des Heldenlieds, 1100–1600
Das altfranzösische Wort „Romanz“ kam im 12. Jahrhundert in Gebrauch, um bei Erzählstoffen und Themen, die bislang der lateinischen Kultur angehört hatten, auf die neuen Fassungen in „romanischer“ Sprache zu verweisen, die nun entstanden. Vor allem Verserzählungen mit antiker Thematik (Troja, Alexander, Apollonius) gehörten zur ersten Generation des Romans; nordeuropäische und christliche Märchen-, Legenden- und Sagenstoffe (Tristan, Artus, Gral) kamen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts dazu. Sie alle wurden im 12. und 13. Jahrhundert europäische Mode. Mit einer im Milieu des Adels und der Ritter angesiedelten Liebesbeziehung als Sujet, mit rhetorisiertem Ausdruck, einem Interesse an Veränderungen der Protagonisten sowie einem neuen Autorbewusstsein setzten sie sich vom Heldenepos nördlicher Tradition ab. Anlehnungen an den Roman der Antike zeigen sich dabei insbesondere in den Artusromanen. Ihr Standard wird ein Kurs von Bewährungsproben, den Aventiuren (von lateinisch advenire, ankommen, verballhornt später im deutschen Wort „Abenteuer“), die auf den planlos sich Gottes Rat aussetzenden Helden als Reisestationen zukommen. Als beliebte Grundstruktur etablierte sich dabei der „Doppelkursus“ (auch „Doppelwegstruktur“): In einer ersten Runde von Proben verdient der zentrale Protagonist vorschnell, was ihm effektiv zusteht: die Hand einer Frau, Aufnahme in den Kreis der Artusritter, bevor ein Fehler oder Versäumnis ihn in einen zweiten Kursus von Bewährungsproben stellt, in dem er seine Würdigkeit endgültig unter Beweis stellen muß.[1]
Der Artusroman wurde in der Form, die Chrétien de Troyes ihm gab, gattungsbestimmend. Die Ende des 12. Jahrhunderts vorliegenden französischen Versromane wurden die Grundlage der mittelhochdeutschen Artusromane Hartmann von Aues und Wolfram von Eschenbachs. Dessen Parzival-Roman kostete in der ersten Jahren des 13. Jahrhunderts bereits exemplarisch die Optionen der schriftlichen Komposition aus, Komplexität zu schaffen, von Reihungen der Abenteuer und Erzählstandards abzukehrern: Die Aventuirenfolge wird hier von einem immenses Netz an Begegnungen durchdrungen, das symbolische Bedeutung im Prozess gewinnt, den der Held durchstehen muss, und das gleichzeitig politische Implikationen birgt, da der Held sich in diesem Netz zu christlichen und islamisch-heidnischen Beziehungsgeflechten stellen muss.
Prosavarianten der neuen Romane – der Prosa-Lancelot, der Prosa-Perceval, der Prosa-Tristan – entstanden ab dem frühen 13. Jahrhundert. Zum Durchbruch kam die Prosa noch vor dem Buchdruck mit dem Aufkommen einer kommerziellen auf Papier als Trägermedium gestützten Buchproduktion. Der Vorteil der Prosa lag in der Sprache, die sich still schneller lesen lässt und die zudem dem laufenden Sprachwandel bei jeder Abschrift neu angepasst werden konnte (Verse brechen bei Lautverschiebungen wie bei Veränderungen der Worte und ihrer Betonungsmuster).
Im 13. Jahrhundert kamen Satiren auf das Muster hoher Heldenbewährung auf. Sie setzten gefestigte Gattungserwartungen voraus und führten gleichzeitig in die Kritik am Ritterroman, dessen Muster wiederkehrender Bewährungsproben und dessen Stilisierungen von Helden zu Klischees zu erstarren schienen. Als mit dem Buchdruck die bestehende Romanproduktion eine Trivialisierung erfuhr – die Kompilation von Texten, die Kürzung zwecks Verbilligung, wie die monotone Aneinanderkettung zu mehrbändigen Serien – kam zur bestehenden Romankritik Seitens der Autoren von Novellen und Parodien auch noch die Kritik von Historikern, die eine Bereinigung der Geschichtsschreibung anstrebten. Typisch für die nun rückblickend als Mittelalter apostrophierte Epoche schienen Historien, in denen die Autoren ihren Helden frei Abenteuer andichteten.
Entwicklungslinien führten vom Vers-Roman des Mittelalters
- in einen eigenen Markt der Billigversionen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückblickend als „Volksbücher“ eingestuft wurden,
- in die Novellistik, die zunehmend als alternatives Erzählformat diskutierbar wurde,
- in Romane, die ein erstes Massenpublikum mit eleganten ausufernden Trivialisierungen erreichten - hier setzte der Amadis de Gaula, den Garci Rodríguez de Montalvo zu Beginn des 16. Jahrhunderts vorlegte, und der zahllose Imitationen fand, auf dem europäischen Markt Maßststäbe.
Die Novelle, 1300-1600
Damit dass die Autoren von Epen sich (in Nordeuropa etwa dem Jahr 1000)[2] der schriftlichen Fixierung bedienten, entwickelten sich hier rasch Kunstformen, die auf die Möglichkeit, den Text zu schrittweise zu komponieren essentiell angewiesen waren. Der soziale Ort der Epik legte sich im selben Moment fest: Handschriften benötigten bis zum Aufkommen des Papiers finanzstarke Auftraggeber. Ab dem 13. Jahrhundert traten hier reiche städtische Handelsherren[3] neben die adligen Auftraggeber als neue Interessentenschicht; sie erwarben mit Liederhandschriften von Rittern eine Kultur, an der sie selbst vom Stand keinen Anteil haben konnten.
Eine Vielzahl von Erzählformen blieb gegenüber der Epik in der Tradition mündlicher Überlieferung: Bis heute bewahrte sich von ihnen allen der Witz seinen Ort mitsamt festgelegten Erzählmustern von Fragen und kuriosen Antworten oder dem Dreierschritt,[4] bei dem der letzte Schritt die Pointe birgt. Der Witz selbst zirkulierte bis in das 19. Jahrhundert neben Langformen mündlichen Erzählens wie dem Schwank, der Fabel, dem Märchen, dem Exempel (mittelhochdeutsch bîspel), das in Historien wie in Predigten Einschub finden konnte, um eine jeweilige moralische Sentenz zu illustrieren.
Zur Kunst stiegen die kurzen Erzählformen mit den berühmten Erzählzyklen auf – in Europa wie im islamischen Raum. Nezāmis Die sieben Bildnisse ( هفت پيكر , 1198), die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht ( هزار و يک شب , älteste überlieferte Handschrift c. 1450), Boccaccios Decamerone (zwischen 1349 und 1353) und Chaucer’s Canterbury Tales (zwischen 1386 und 1400) teilen das Muster der Präsentation: In einem Zyklus werden die einzelnen Erzählungen von Erzählern und Erzählerinnen abgeboten, die selbst in einer Rahmenhandlung agieren. Die narrative Brechung erlaubt es dem Autor Boccaccio oder Chaucer, sich den Erzählern seiner Sammlung beliebig zu distanzieren. Er gibt im Zweifelsfall wieder, was diese Binnenerzähler von sich gaben: Erzählungen, die nicht ihn, sondern diese selbst und die Situation, in der erzählt wurde, charakterisieren. Verschiedene Stoffe und divergierende Sentenzen ließen sich so nebeneinander platzieren. Die einzelnen Erzählungen gewannen in den Zyklen eine eigene Erzählkunst:
- sie waren anlassorientiert: in dieser Situation, nachdem jene Person dies gesagt hatte, nahm dieser Erzähler das Wort auf und erzählte eine Geschichte zu diesem Zweck
- sie liefen auf eine illustrative Pointe zu – die in der Erzählrunde Zuhörenden erwarten vom Erzähler, dass er im Verlauf seiner Geschichte seinen Punkt macht und mit dem Exempel genau das demonstriert, was er mit seiner Geschichte illustrieren wollte
- sie ersetzten des Abenteuer durch die Intrige, den Streich: einen Plan, den die Protagonisten in der Regel ohne Wissen ihrer Gegner in der Geschichte verfolgen und der sie in missliche Lagen bringt, zumeist auch in eine überraschende Schlusssituation
- sie führten in die Erzählung selbst eine kritische Reflexion ein: Zuhörer der Binnenhandlung kommentieren schlecht gemachte Erzählungen, langweilige Passagen, eine fragwürdige Moral
- sie wandten sich klarer als das Epos der Gegenwart zu: Chaucer’s Canterbury Tales nutzen die Option exemplarisch Erzähler unterer Schichten gegeneinander auftreten zu lassen mit Schwänken in denen Helden von Stand und Beruf derer, die sie angreifen, schlecht abschneiden.
Mit dem ausgehenden 13. Jahrhundert behauptete sich die Novelle, so der übergeordnete Gattungsbegriff, der sich in der frühen Neuzeit herauskristallisierte, als ernstzunehmende Alternative zur Versromanze. Kritik am Heldentum antiquierter Heldenlieder, an der Erzählform des Epos, seiner Reihung von Kampfesproben, seinem Mangel an klug geplanten Interaktionen wurde erstmals in Novellenzyklen formuliert und von ihnen aus im 16. und 17. Jahrhundert zum Standard weiterführender Romankritik wie zum Plädoyer für die Novelle als einziger realistischer Alternative zum antiquierten Roman.
Zwischen Trivialisierung und Reformversuchen: der Roman auf dem frühen Buchmarkt, 1480-1700
Der moderne Roman – heute eine Gattung, in der zentral über die Stellung der Kunst in der modernen Gesellschaft verhandelt wird – entwickelte sich aus einer Verteidigungsposition heraus zum Ort der aktuellen Kontroversen. Eine wesentliche Problemstellung war dabei die Frage, wie sich die Geschichtsschreibung der Fiktionalität stellen sollte, eine zweite galt dem Publikum, das Romane zur puren und Unterhaltung las.
In der Geschichtsschreibung stand bis in das frühe 18. Jahrhundert die gänzliche Diskreditierung des Romans zur Diskussion. Erfundene Historien waren Lügen und darum verderblich. Mit Pierre Daniel Huets Traitté de l’origine des romans (1670) gewann gegenüber dieser Verdammung die Würdigung der Fiktionalität Interesse. Romane erlaubten als Produkte menschlicher Erfindung kulturelle Interpretationen. Dem Roman wurde die Fiktionalität gestattet, die Historie rückte dagegen vom Ziel ab, das sie mit dem Roman teilte: moralisch zu unterrichten. In der Pyrrhonismusdebatte des 17. Jahrhunderts diskutierten Historiker über eine Geschichtsschreibung, in der die selbstkritische Analyse historischen Wissens im Vordergrund stünde. Auf dem Weg ins 19. Jahrhundert entwickelte sich die Historik weiter zur Leitwissenschaft unter den neuen Geisteswissenschaften: Auf ihrem Terrain wird seitdem über Verantwortung für die Gegenwart verhandelt. Der Roman gewann demgegenüber in einer Literaturbetrachtung Rang, die sich nun, nach 1750 zentral auf die Analyse von Fiktionen ausrichtete.
Die Trennung der Bereiche Historik und Literatur und der Positionswechsel des Romans zeigt sich besonders deutlich mit den Artusromanen, zu Beginn des Buchdrucks als Historien herauskamen, dort vernichtende Kritik erfuhren, bevor sie im 19. Jahrhundert wiederentdeckt werden konnten als größte Werke der mittelalterlichen Literatur.
Billige Romane, spätere Volksbücher
Für den Roman barg der Buchdruck erst einmal die Möglichkeit, beliebte Historien nun endlich breiten Publikumsgruppen zugänglich zu machen. Die Verleger suchten Handschriften zusammen und überführten sie mit nachlassender Sorgfalt in gedruckte Fassungen, von denen sich weiter nachdrucken ließ. Mitte des 16. Jahrhunderts lag auf dem Feld der populären Historien mit Ritterhistorien, Schelmengeschichten wie Till Eulenspiegel, Heiligenlegenden, und erbaulichen allegorischen Fiktionen wie den Sieben weisen Meistern ein Segment billiger Bücher vor, das über die nächsten drei Jahrhunderte hinweg kaum noch Veränderungen erfuhr. Die Titel wurden mit groben Holzschnitten ausgestattet, lieblos tradiert, und verabschiedeten sich in diesem Design im Lauf des 18. Jahrhunderts vom Markt. In den 1830ern setzte die romantische Neuentdeckung dieser Ware ein, die nun als Volksbücher auffielen.
Elegante Romane vom Amadis zum höfisch galanten Roman des 17. Jahrhunderts
Gegenüber dem Markt der billigen Historien formierte sich ab dem frühen 16. Jahrhundert ein Bereich eleganter Bücher, die weder wissenschaftliche Leser adressierten, noch sich als altvertraute Historien gelesen sein wollten. Bahnbrechend nutzte der Amadis[5] diesen Markt mit Liebesgeschichten, die nahe dem arthurischen Stoffbereich lokalisiert blieben, denen jedoch Dialoge und Gefühlsschilderungen neue Bedeutung gewannen. Moden propagierten sich mit der neuen Ware. Übersetzungen in verschiedene europäische Sprachen, nationale Anknüpfungen, Schmuckausgaben und drastisch zusammengestückelte Kompilationen machten den Amadis binnen weniger Jahre zum Erzroman, auf den sich jeder Kritiker der Gattung beziehen konnte, ohne dass man ihn noch gelesen haben musste.
Reformierte heroische Romane nahmen im 17. Jahrhunderts als neue Stofftradition gegenüber der prekären mittelalterlichen die antike Geschichtsschreibung auf. Die Biographistik Herodots, Plutarchs, Suetons machte hier die Vorgaben mit ihren Charakterschilderungen und politischen Analysen. Die Romane Heliodors boten passende Erzählmuster. Die Autoren gestalteten mit Vorliebe Randgeschichten antiker oder asiatischer Historie aus. Ritterkämpfe wichen der Darstellung politischer Karrieren. Liebesgeschichten spielten sich mit politischen Implikationen zwischen Reichen ab. Höfische Protagonisten begegneten einander in Intrigen. Die Romane, die von Honoré d'Urfés L'Astrée (1607-27) über John Barclays Argenis (1625-26), zu denen der Scudéry und Anton Ulrichs Römischer Octavia (1679 bis 1714) geschrieben wurden, gewannen im Streben nach psychologischem Realismus Aktualität, indem sie sich gegenwärtiger hoher Skandalgeschichte widmeten. Verschlüsselt arbeiteten sie Geschichte des persönlichen Umfelds der Verfasser wie europäischen Hofklatsch ein. Die aktuelle Mode galanter Conduite wurde zum Verkaufsargument der neuen Ware: man las sie, um Muster für Komplimente zu erhalten, Briefe, Reden, übernahmefertige Dialoge des höfischen Umgangs zwischen den Geschlechtern.
Als Gattung verlor der heroische Großroman trotz dieser Aktualisierungen Ende des 17. Jahrhunderts an Bedeutung. Eine kommerzielle Produktion opernhafter „Asiatischer Romane“ von antiken Prinzen und Prinzessinnen, die keine größeren Verschlüsselung boten, stand am Ende der Entwicklungslinie und am Anfang des Trivialromans mehr oder minder großer historischer Tiefe, der bis heute fortbesteht. (Beliebteste deutschsprachige Autoren dieser Produktion waren Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts August Bohse alias „Talander“ und Christian Friedrich Hunold, „Menantes“.) Die entscheidenden Reformangebote machte gegenüber der hohen Produktion in das 18. Jahrhundert hinein der satyrische Roman, die Novellistik und eine eigene Sparte aktueller politischer Titel.
Satirische Romane und Romansatiren 1500-1780
Satirische Prosa knüpfte mit dem Buchdruck an die novellistische Schwankproduktion an. Die Eulenspiegel-Historien sind hier typisch in ihrer Sammlung kurzer Geschichten, die sich nicht wirklich zu einer Vita des Helden auswachsen. Vergleichbare Titel des 16. und 17. Jahrhunderts schufen Lebensgeschichten, deren Helden sich als nationale Charaktere niederen Standes verkauften. Zum Spanischen Lazarillo de Tormes kam Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch der Roman, der die aktuelle deutsche Geschichte erschloss. Richard Heads English Rogue kam als englischer simplizianischer Roman auf den deutschen Markt. Der „wundernswürdige Neapolitaner“ Rozelli ergänzte das Spektrum mit einem Italiener (französischer Verfasserschaft) in deutscher wie englischer Übersetzung. Entwickeln ließ sich das Nationalkolorit der niederen Helden vor allem, da ihnen die europäische galante Conduite der hohen souveränen Helden verwehrt blieb.
Zu den Helden, die mit ihren Streichen, Geschicken und Missgeschicken grassierende Laster entlarvten, kam eine eigene Tradition von Romanhelden, die gezielt Romanhelden angriffen. Rablais Gargantua et Pantagruel steigerte die Helden zu Riesen, die jedoch nur Bauerntölpel waren. Das derbdreiste Heldenepos begeisterte intellektuelle Leser mit Lust an der Zerstörung eleganter populärer Lesestoffe. Die weiterreichende Satire auf den Amadis erschien 1605 und 1615 mit Cervantes Don Quixote, dem Roman des Mannes, den die Lektüre von Ritterromanen mit kauzigen Fehlwahrnehmungen der realen Welt gegentreten ließ. Scarrons Roman Comique nutze eine Truppe reisender Schauspieler zur dezidierter französischen Reflexion über die Welt und die Dichtung nach Cervantes und seiner Romansatire. Fieldings Joseph Andrews (1742) und Tom Jones (1749), Diderots Jacques le Fataliste (1773, gedruckt 1796) wurden Ausläufer der Traditionslinie.
„Petit Histoires“, die Novelle als Alternative
Eine Diskussion der Novellistik als Alternative zum Roman beeindruckender Helden lässt sich zwar in Chaucer’s Canterbury Tales hinab verfolgen. Erst mit Cervantes Novelas Exemplares (1613) und Scarron’s Roman Comique, der das Auftauchen der neuen Romanmode für Spanien notiert und für Frankreich fordert, entsteht hier jedoch eine eigene Diskussion.
In Frankreich entwickelt sich in der Debatte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine eigene Mode der „petit histoires“.[6] England und Spanien gehen einen Schritt weiter mit einem Terminologiewechsel. „Novela“, „novel“ werden hier die neuen Gattungsbegriffe für den Roman. Der Vorteil der Novelle, deutsch: des Romans von (curieusen) Begebenheiten, lag so die Verfasser zum einen in der Kürze, zweitens in der Abkehr von unrealistischem Heroismus und drittens in der Ausrichtung des Erzählens darauf, moralische Exempel zu geben. Die Helden der neuen Romane konnten dabei alltägliche Charaktereigenschaften aufweisen; ihre Aktionen mochten gerade nicht zur Nachahmung anregen. Ihre Geschichten begannen im selben Moment durch den jeweiligen Ausgang der Pläne zu lehren.
War der hohe Roman bis hierhin in seiner amadisischen wie in seiner an der Antike geschulten Variante international, so näherte sich der neue Kurzroman menschlicher Interaktion dem satirischen in seiner nationalen Ausprägung. Die Novellistik lebte seit dem Mittelalter von Geschichten mit lokalem Kolorit, sie hatte mit den Novelas Exemplares ein dezidiert spanisches Genre gefunden. Marie Madeleine de La Fayettes Zayde (1670) nahm als „Spanische Geschichte“ dieses Genre auf. Mit der Princesse de Clèves (1678) fand der Roman spektakulärer menschlicher Begebenheiten ein spezifisches französisches Genre höfischer Empfindungstiefe (statt spanischer Eifer- und Ehrsucht). Deutsche Romane zeigten sich von denen Hunolds (1701-1710) über Schnabels Wunderliche Fata einiger See-Fahrer (1731-1743) zu Gellerts Schwedischer Gräfin G*** (1747/48) von der aktuellen Hinwendung zur Novellistik beeinflusst. Novellen firmierten hier wie im französischen jedoch schlicht unter dem Gattungsbegriff "Roman". Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert fand nach der vorübergehenden Konvergenz der Gattungen, mit der eine Reform der gesamten Gattung proklamiert wurde, in den verschiedenen Europäischen Sprachen eine neue begriffliche Trennung statt. "Roman"/"Novelle" wurde das deutsche Begriffspaar, "Novel"/"Novella" das parallele englische. (Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass man in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung eine Lücke der Novellistik vor dem 19. Jahrhundert hat; sie existiert effektiv nur, da man die novellistische Produktion der Jahrzehnte zwischen 1640 und 1800 insgesamt dem Roman zuschlägt, und dort als aus heutiger Sicht nicht romantypische vernachlässigt).
Der Roman wird „Literatur“, Reformschritte 1670-1780
Skandalöse Ausgriffe in die Historie
Der Roman des frühen 18. Jahrhunderts blieb in der Historie eingebettet – Kataloge boten ihn unter dieser Rubrik. Das hat zum Teil damit zu tun, dass Kritiker den Roman nicht mehr für so gefährlich hielten wie zu Beginn des Drucks und dass sie gerne für Titel eintraten, deren Verfasser sich des Romans bedienten, um geschützt in die aktuelle Geschichtsschreibung auszugreifen. Die Schlüsselromane der Scudéry hatten hier Terain erprobt; romanhafte Briefsammlungen kamen im späten 17. Jahrhundert hinzu, DuNoyer machte sich dabei als politische Beobachterin einen Namen, „curieuse“ Memoires lasen sich romanhaft; populäre Journale wie der Mercure Gallant boten gering anonymisierte novellistische Klatschgeschichten an. Die politische Propagandistik wie die Regimekritik entdeckte den Roman als Gattung, deren Autoren sich darauf zurückziehen konnten, doch lediglich zu erfinden. Gatien de Courtilz de Sandras (1644-1712) revolutionierte diesen Markt mit seinen romanhaften Historien wie jener des Mannes "mit der eisernen Maske", dem geheimen Erben des frannzösischen Throns, den Ludwig XIV angeblich versteckt hielt – die Geschichte, die Alexandre Dumas, mit den Drei Musketieren im 19. Jahrhundert berühmt machte.
Für den Ausgriff des Romans in die wahre Historie hatten sich zwei Optionen herausgebildet: Titel konnten vorgeben, Romane zu sein, sich jedoch bei der Lektüre zunehmend als Schlüsselromane erweisen. Sie konnten auf der anderen Seite wie Defoes Robinson Crusoe (1719) als wahre Historie auf den Markt kommen, die allerdings zunehmend nach Roman aussah. Hier wie dort unterschied der Markt zwischen privaten und öffentlichen Angeboten.
3.1 Heroische Romane: Fénelons Telemach (1699) |
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1 Angeblich Erfindung, Roman, tatsächlich wahre öffentliche Historie? Manleys New Atalantis (1709) |
2 Angeblich Erfindung, Roman, tatsächlich wahre private Historie? Menantes' Satyrischer Roman (1706) |
3.2 Klassiker der Novelle und des Romans von den Geschichten aus 1001 Nacht bis zu M. de La Fayettes Princesse de Clèves (1678) |
4 Angeblich wahre private Historie, tatsächlich jedoch Erfindung, Roman? Defoes Robinson Crusoe (1719) |
5 Angeblich wahre öffentliche Historie, tatsächlich jedoch Erfindung, Roman? La Guerre d'Espagne (1707) |
3.3 Satirische Romane: Cervantes' Don Quixote (1605) |
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Den Romanverdacht erzeugte ein Titel wie Defoes Robinson Crusoe (1719) durch das aufdringliche Leugnen aller Romanhaftigkeit, durch das Aufgebot grober Unwahrscheinlichkeiten und durch optische Anklänge an veritable Romane. Im Falle Robinson Crusoes stand der berühmteste aktuelle heroische Roman – Fénelons Telemach (1699/1700) − bei der Titelformulierung "The Adventures of" und im alternativen Design des Titelkupfers Pate. Defoes Robinson Crusoe avancierte in den letzten 200 Jahren vom Roman, den 1719 eine der Londoner Zeitungen als möglicherweise wahre Historie nachdruckte, zum bahnbrechenden Werk der Geschichte der Fiktionalität, zum ersten bürgerlichen Roman, der ersten modernen „novel“ [8] – ungeachtet der Tatsache, dass das Wort „novel“ 1719 der Novelle vorbehalten war, ungeachtet auch der Tatsache, dass der Title sich in seinem angeblichen Realismus an weit realistischere und dubiosere Titel wie Constantin de Rennevilles Bericht seiner Gefangenschaft in der Bastille Inquisition Françoise (1715) hielt.[9]
Im Zentrum der Gattungsdiskussion stand das frühe 18. Jahrhundert hindurch mit weit mehr Bedeutung Fénelons Telemach als der Roman, dem es gelungen war, an das Epos der Antike, an Vergil und Homer anzuschließen. Die Moderne würde, so die romantheoretische Botschaft, nicht zum Epos zurückkehren. Der Roman würde stattdessen in seiner Prosa die leere Position einnehmen. Mitte des 18. Jahrhunderts geschah genau dies: der Roman wurde unter die poetischen Gattungen aufgenommen. Mit dem Schritt verband sich jedoch die Neudefinition des gesamten Feldes: statt von einer „poetischen“ Gattung würde man von einer „literarischen“ sprechen. Seine Schreibweise würde Maßstäbe „literarischer“ Prosa setzen.
Aufkommen des Klassikermarktes in den 1670ern
Der Aufstieg des Romans von einer nach Geschmack und Kundenschicht mehr oder minder gehobenen Unterhaltung in jedem Fall fragwürdiger Historizität zum Gegenstand eines Interesses an Literatur wurde wesentlich von Pierre Daniel Huets Traitté de l’origine des romans (1670) eingeleitet. Huets Vorrede zur Zayde Marie de LaFayettes stattete die Romanliebhaber vor allem mit neuen Legitimationsmustern aus. Musste der Romanleser sich bislang dem Vorwurf stellen, in eine nutzlose Realität zu entfliehen oder neuerer Ware aus skandalöser Neugier zu lesen, so legte Huet mit seinem Aufsatz eine neue Romanlektüre nahe: Verschiedene Epochen und Kulturen hatten, so seine Analyse, Romane aus ganz unterschiedlichen Gründen hervorgebracht. Man las sie mit einer aus der Theologie bezogenen Interpretationstechnik neu, um über die Kulturen mehr zu erfahren, die solche Fiktionen hervorbrachten und konsumierten. Die neue Romanlektüre setzte wissenschaftliche Expertise voraus, sobald man die weltweiten Traditionslinien rekonstruierte, in denen sich Fiktionalität verbreitete.
Mit dem späten 17. Jahrhundert mehren sich Ausgaben fiktionaler Literatur mit Verweisen darauf, dass Huet diese Bücher in seiner Weltgeschichte der Fiktionen notierte. Die Romane Heliodors, die Geschichten aus 1001 Nacht, Petron und Lucian wurden antike und internationale Klassiker.
In den 1720ern kamen im englischen Sprachraum die ersten Anthologien des Romans in seiner an der Novellistik reformierten modernen Produktion hinzu mit der bahnbrechenden Select Collection of Novels (1720-22). Sie umfasste die aktuelle Novellistik mit Autoren von Machiavelli über Cervantes zur La Fayette (deren Identität noch verdeckt war). Gleichzeitig mehrten sich Versuche von Autoren der Gegenwart sich mit bürgerlichen Namen um Ruhm auf dem Gelände des Romans zu bewerben. In Etappen bekannte sich Delarivier Manley zu ihren Büchern. Eliza Haywood trat 1719 spektakulär als Jungautorin mit wahrem Namen auf. Dem Roman fehlte in dieser Etappe ein eigenes Besprechungswesen. Literaturzeitschriften blieben den Wissenschaften vorbehalten und rezensierten Romane nur in Ausnahmefällen. Die Auseinandersetzung mit Romanen blieb in dieser Situation auf Vorreden beschränkt, in denen Autoren und Herausgeber Bezüge innerhalb der sich zunehmend etablierenden Produktion vornahmen. Der öffentlichen Romandiskussion waren damit enge Grenzen gesetzt; sie weitete sich schrittweise aus durch die Moralische Wochenschriften, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf den Markt kamen, und in einem zweiten Schub durch eine neue Generation von Literaturzeitschriften, die sich ab den 1750ern gezielt der Belletristik, den belles lettres zuwandten.
Empfindsamkeit und Aufklärung, Reform des Romans und Anschluss an das bürgerliche Trauerspiel
Während Romane des frühen 18. Jahrhunderts fast durchweg von Konfrontationen zwischen den Geschlechtern lebten, eine junge moderne Generation gegen eine alte, bornierte in Intrigen der Jungen gegen die Alten ausspielten, wandten sich Romane des mittleren 18. Jahrhunderts der Gesellschaft mit neuen Tugendbegriffen zu. Der Wandel betraf vor allem die weiblichen Romanheldinnen, die sich bislang in Intrigen gegen Widersacherinnen, die eigenen Eltern und Schicksalsschläge durchsetzen mussten. Die neuen Heldinnen agierten mit einer neuen Mode der Empfindsamkeit, die es ihnen unmöglich machte, Geheimnisse aggressiv zu verteidigen und die Einblicke in ihre Seeelenstimmungen gaben, auch wenn sie damit riskierten zu Opfern geheimer Pläne anderer zu werden. In den neuen Romanen schieden sich die Guten von den Bösen dort, wo es galt mit geheimen Plänen Wünsche andere auszustechen. Zwanzig Jahre zuvor zeichneten sich Romanheldinnen in Intrigen noch als stark und gewitzt aus. Die neue Moral wurde nicht nur in Romanen propagiert. Sie wurde mit ihnen zudem der aktuellen Diskussion der öffentlichen Moral vorgelegt. Samuel Richardsons Pamela or Virtue Rewarded spielte 1740/41 eine zentrale Rolle in diesem Prozess. Der Titel suchte nicht mehr das Zwielicht zwischen wahrer und womöglich fingierter Historie. Der Roman war definitiv moralische Fiktion: „Now first published in order to cultivate the Principles of Virtue and Religion in the Minds of the Youth of Both Sexes, A Narrative which has the Foundation in Truth and Nature; and at the same time that it agreeably entertains…“
Die Romandiskussion richtete sich mit diesen Vorlagen auf die Frage der natürlichen Darstellung aus: Hatte man zuvor diskutiert, ob Unterstellungen wahr waren, mit denen Delarivier Manley Politiker der Gegenwart belastete (falls diese hinter ihren Romanhelden standen), so warf der Roman des mittleren 18. Jahrhunderts die Frage auf ob seine Erfindung die tieferen Wahrheiten menschlichen Verhaltens und der menschlichen Seele erfasste. Romanautoren konnten dabei von der aktuellen Realität entschieden abweichen, Menschen skizzieren, wie sie sich erst in einem seltenen Prozess menschlicher Bildung auf das gezeigte Bild hin entwickelten. Romane des 17. und frühen 18. Jahrhunderts waren weitgehend ohne persönliche Entwicklungen und Bildungswege ausgekommen – allenfalls satirische Helden wurden mit Kindheiten ausgestattet, an denen sie schwer trugen und für die sie Mitleid und Spott verdienten. Romane des neuen Zuschnitts entdeckten die Kindheit und Jugend als Phase, in denen Individuen spezifische Empfindsamkeiten wie Stärken entwickelten. Die Romane Jean Jacques Rousseaus stehen hier mit ihrem Blick auf menschliche Entwicklungs- und Reifungsprozesse neben den empfindsamen Lebensperspektiven, mit denen Laurence Sterne und Henry Mackenzie in den 1760ern und 1770ern ihre Helden ausstatteten. Die Entwicklung läuft von ihnen in die Bildungsromane deutscher Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts und in die sozialkritischen Titel, in denen fatale Entwicklungen in den Blick kommen und die dem Optimismus herkömmlicher Romane so deutlich brechen wie Goethes Werther (1774).
In ihren Entwicklungsschritten stehen die Romane der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr im Feld der aktuellen Geschichtsschreibung oder, wenn sie klassische heroische Aktionen wagen, neben der aktuellen Opernproduktion. Verwandt ist ihnen ab den 1740ern vielmehr eine neue dramatische Produktion bürgerlicher Trauerspiele, mit der zusammen sie Literatur im modernen Wortsinn werden.
Die Aufteilung des Romanmarkts in einen hohen anspruchsvollen und einen niedrigen trivialen Bereich
Bis in die 1750er erschienen pro Jahr 20-50 Romane auf Französisch, Englisch oder Deutsch. Die Produktion in französischer Sprache lag über der anderer Sprachen. Das hatte vor allem damit zu tun, dass der gesamte Markt französischer Sprache sich in einen innerfranzösischen Markt und einen von den Niederlanden ausgehenden spaltete, mit dem sich bei Bedarf die französische Zensur umgehen ließ und auf dem sich zugleich billig für den Europäischen Markt nachdrucken ließ, was in Frankreich auf den Markt kam. Die gesamte Buchproduktion lag im Zeitraum 1600 bis 1800 in Sprachen wie Deutsch und Englisch bei 1.500 bis 3.000 Titeln. Bis in die 1750er war dieses Angebot dominiert von der wissenschaftlichen Produktion an „Literatur“, der „Theologie“ und einer politischen Produktion, zu der Pamphlete, Journale und Zeitungen gehörten. Literatur im Wortsinn, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildete: Romane, Dramen und Gedichte, hatten an der gesamten Buchproduktion bis in die 1750er hinein einen marginalen Anteil von 5-10%.
Der Aufstieg des Romans verband sich auf dem europäischen Buchmarkt mit dem Aufstieg der belles lettres zu einem Feld aktueller Moden und nichtakademischer Bildung. Mit der schrittweisen Aufwertung der belles lettres vom Feld, in dem Frauen und Bürger neben Adligen sich über Geschmack mehr denn über Wissen austauschten, zu einem Feld, das sich als aktuelle Bildung in Geographie, Politik, Kultur und Charakter unterrichten ließ, war die Suche nach nationalen Bildungsfeldern einhergegangen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brach die alte Landschaft der Wissenschaften unter den neuen Angeboten auseinander: Im System, das mit dem 19. Jahrhundert Gestalt annahm, gab es Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften neben einer technischen Ausbildung. Die neue Aufteilung der Wissenschaften bot sich neuen nationalen Bildungsträgern an. Die nationale Literatur wurde neu formiert zum Bereich der Texte, die die nationale Geistesgeschichte prägten. Fiktionale Texte gewannen dabei zentralen Rang. Über sie erschloss eine neue, Texte interpretierende Literaturwissenschaft geschichtliche Formationen, ihre Werthaltungen, die Einflüsse, denen sie vordringlich ausgesetzt war, epochale Unterdrückungen und nationale Selbstbefreiungen. In sukzessiven Schritten wurden in den europäischen Nationen Kanonbildung betrieben und Literatur entdeckt. Zu den großen Entdeckungen der Phase zwischen 1760 und 1840 gehörte dabei die Entdeckung des Mittelalters und des seit den 1720ern nicht weiter tradierten 17. Jahrhunderts.
Mit der Kanonbildung in Literaturgeschichten und der Besprechung der aktuellen Landschaft in neuen Literaturzeitschriften verdrängte eine neue Differenzierung zwischen prestigeträchtiger und niederer Ware die alte zwischen Volksbüchern (so der neue Begriff) und Romanen der belles lettres. In der neuen Marktgliederung gab es Romane, die Anspruch darauf erhoben als Literatur analysiert und bewertet zu werden und einem sich nun rasch verbreiternden Massenmarkt. Auf dem Massenmarkt lebten die Genres der Vergangenheit fort mit Liebes- und Abenteuerromanen als prominente Produktion. Auf dem gehobenen Markt setzte sich eine Produktion durch,
- die Diskussionsthemen ausweist
- deren Verfasser sich dem neuen Literaturbetrieb stellen und persönlich in diesem Auftreten (mit Autorenlesungen etc.)
- die sich in die nationale Literaturgeschichte einschreibt mit der Teilnahme an einer laufenden Epochendiskussion
- die sich der wissenschaftlichen Erschließung anbietet durch Aspekte, die sich literaturwissenschaftlich interpretieren lassen
- die sich durch den Blick auf Moral wie durch den Umgang mit individuellen sich persönlich bildenden Lesern dem Schulunterricht anbietet
Mit den neuen Verwendungs- und Verbreitungsformen anspruchsvoller wie trivialer Romane explodierte die Romanproduktion. Es wurde interessant, Titel dezidiert als Romane herauszugeben. Die skandalträchtige Beheimatung in der Historie wich einer neuen Skandaloption. Sie war mit Titeln gegeben, die die gesellschaftliche Aufgabe der Kunst als den neuen Ort der anspruchsvollen Produktion in Frage stellten, wie jene Titel, die Diskussionen beanspruchten, jedoch aktuelle Wertmaßstäbe dabei gezielt in Frage stellten.
Der Roman seit dem 19. Jahrhundert
Der Romanmarkt, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelte, gliedert sich in eine neue hohe und eine neue niedere Produktion. Was zur hohen gehört, wird in der Literaturdiskussion entschieden: die Werke, die Anspruch darauf erheben können, für Literatur erachtet zu werden. Sie werden nach nationalen Traditionslinien sortiert, wo sie bislang Gegenstand eines internationalen Marktes der belles lettres waren. Der niedere Markt bildet dagegen international bestückte Genres aus, die weitgehend dem Muster der Genres folgen, das sich im 17. Jahrhundert ausbildete.
Einem ganz erheblichen Wandel war die Position des Autors in diesem Geschehen unterworfen. Der moderne Autor kann sich auf den breiten Markt und seine Genres ausrichten oder die Interaktion mit der Literaturkritik suchen. Die Grenzlinien zwischen den Märkten entwickelten sich unter nationalen Gegebenheiten unterschiedlich. Spät führte der angelsächsische Buchmarkt die Unterscheidung in eine literarische und eine triviale Produktion ein – hier fiel die Differenzierung nicht sehr spektakulär aus, zumal sich der kommerzielle Buchmarkt, der sich in England und den USA entwickelt hatte, gegen die Aufgliederung in hohe und niedere Produktionen verwehrte. Im deutschen Sprachraum und Frankreich waren die Interessen am Debattengegenstand hoher Literatur entschieden größer. Frankreich suchte mit der Französischen Revolution nach Feldern einer neuen nationalen Öffentlichkeit; in Deutschland gab die nationale Bewegung, die im 19. Jahrhundert zur Reichseinigung führte, dem Austausch über die Nationalliteratur, der sich über das Schulsystem etablierte, Rückenwind. Hier fielen die Unterschiede zwischen den diskutablen hohen und dem undiskutablen niederen Markt des kommerziellen Buchangebots weit härter aus. Bestimmte Begrifflichkeiten lassen sich heute in der Folge kaum vom Deutschen ins Englische übersetzen „anspruchsvolle Literatur“, „Höhenkammliteratur“, „Trivialromane“ etc.
Ein Spiel der Strömungen, Richtungen und Gruppenbildungen erfasste die hohe Produktion von Romanen, in ihren Versuchen, sich auf die Diskussion auszurichten. Die größere Frage, die alle Strömungen im 19. Jahrhundert beschäftigte, war: Inwieweit sollte man sich auf die neuen Diskussionen einlassen? War man auf die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit verpflichtet? Stand die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft notwendigerweise im Vordergrund oder gab es jenseits dessen eine Autonomie der Kunst - einen Roman, der „Kunst um der Kunst“ willen sein durfte, und den die Debatten als eben dies würdigen mussten? Um die Rolle der Kunst in der Gesellschaft geht es in diesen Diskussionen. Neue Verantwortungen zogen in sie ein: Verantwortung für die Öffentlichkeit der Nation und für die Rolle der Kunst in der modernen Gesellschaft.
Neue Modelle von Autorschaft entwickelten sich auf dem hohen Markt, und bei ihnen gewann gerade der Roman Bedeutung: Anders als Dramen werden Romane erst einmal individuell und privat gelesen. Gleichzeitig sind sie im Moment der Veröffentlichung öffentliche Diskussionsgegenstände von gesellschaftsweiter Bedeutung – es kann der Gesellschaft nicht gleichgültig sein, was hier im Stillen gelesen wird. Anders als Dramen erlauben Romane in diesem Spannungsfeld dem Autor eine sehr intime Kommunikation mit dem Publikum. Autobiografische Genres boten und bieten sich hier an. Die Welt und der persönliche Blickwinkel auf sie stehen im Zentrum des Romans, wo das Drama Aufführungsbedingungen und bei weitem komplexeren Interaktionen des Theaterbetriebs unterliegt.
Autoren von Romanen rückten mit dem 19. Jahrhundert ins Rampenlicht, wo der Romanmarkt bis in das späte 18. Jahrhundert hinein als weitgehend anonymer Markt funktionierte. Den Namen, die mit dieser Wendung von Goethe, Dickens, Balzac, Zola, Tolstoi, Dostojewski, Thomas Mann, Joyce zu Solschenizyn Rang gewannen, entspricht kaum ein Äquivalent vor den 1770ern. Der Romanautor als „Gewissen der Nation“, als Mahner, Seher und Beobachter, als Mensch, der für die Themen seiner Zeit in herausragendem Maße empfänglich ist, all dies sind Rollen des späten 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Verständlich werden sie nur zum Teil im Blick auf die neuen Werke, die in dieser Produktion entstanden. Sie müssen eben so sehr im Blick auf den Austausch mit der Gesellschaft verstanden werden. Vom Wandel im Gebrauch zeugt am Ende nicht nur das Produktionsvolumen des Romanmarkts selbst - ein Volumen, das mit der gesellschaftlichen Achtung des Romans als Gattung anschwoll.
Da die Auseinandersetzungen um den Roman seit den 1750ern zunehmend mit nationalem Anspruch stattfanden, wird es übersichtlich sein, die Romangeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, soweit sie die hohe Literatur betrifft, eingehender unter dem Feld der Literaturen nach den dort eröffneten nationalen Traditionssträngen anzusprechen.
Quellenangaben
- ↑ Die Strukturanalyse geht auf Hugo Kuhn zurück; siehe seine Ausführungen zum Erec von 1948 in seinem Buch Dichtung und Welt im Mittelalter (Stuttgart, 1959). S. 133-150, siehe ebenso: Hans Fromm: "Doppelweg", in: Werk-Typ-Situation, hg. von Ingeborg Glier u.a. Festschrift Hugo Kuhn (Stuttgart 1969), S. 64-79. Die Strukturanalyse fand in den letzten Jahren Kritik mit Elisabeth Schmid, "Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung", in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. v. Friedrich Wolfzettel (Tübingen, 1999), S. 69-85. und in Friedrich Wolfzettel, "Doppelweg und Biographie" in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. v. Friedrich Wolfzettel (Tübingen, 1999), S. 119-141.
- ↑ Die Handschrift, in der das altenglische Beowulf-Epos überliefert ist, stammt aus den ersten Jahren des 11. Jahrhunderts.
- ↑ Die bedeutendste mittelhochdeutsche Liederhandschrift, der Codex Manesse, weist als Auftragswerk diese bürgerliche Herkunft auf.
- ↑ Typisch etwa in Witzen von der Art "Ein deutscher ein Amerikaner und ein Pole reisen zusammen..."
- ↑ Überblick über die Verbreitung des Amadis auf dem europäischen Buchmarkt gibt Hilkert Weddige, Die "Historien vom Amadis auss Franckreich": Dokumentarische Grundlegung zur Entstehung und Rezeption (Beitrage zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts ; Bd. 2) (Wiesbaden: Steiner, 1975).
- ↑ Siehe: Ellen J. Hunter-Chapco, Theory and practice of the “petit roman” in France (1656-1683): Segrais, Du Plaisir, Madame de Lafayette (University of Regina, 1978), sowie die zwei Bände von La Nouvelle de langue française aux frontières des autres genres, du Moyen-Âge à nos jours, vol. 1 (Ottignies: 1997), vol. 2 (Louvain, 2001).
- ↑ Schema nach Olaf Simons, Marteaus Europa (Amsterdam, 2001), S. 194.
- ↑ Ian Watts Buch The Rise of the Novel (1957) bot erstmals diese These.
- ↑ Eine sehr frühe Arbeit zum Einfluss des Markets französischer dubioser Historien auf Defoe ist: Wilhelm Füger, Die Entstehung des historischen Romans aus der fiktiven Biographie in Frankreich und England, unter besonderer Berücksichtigung von Courtilz de Sandras und Daniel Defoe (München, 1963).
Gattungen und Genres des Romans
- Abenteuerroman
- Ankunftsroman
- Antikriegsroman
- Asiatischer Roman
- Bildungsroman
- Briefroman
- Campus-Roman
- Detektivroman
- Dokumentarroman
- Entwicklungsroman
- Erotikroman
- Experimenteller Roman
- Familien- oder Generationenroman
- Fantasyroman
- Gesellschaftsroman
- Großstadtroman
- Handyroman
- Historischer Roman
- Kriegsroman
- Kriminalroman
- Künstlerroman
- Kulinarischer Roman
- Liebesroman
- Mitmachroman
- Postmoderner Roman
- Schauerroman
- Schelmenroman
- Schlüsselroman
- Science-Fiction-Roman
- Spionageroman
- Staatsroman
- Studentenroman
- Tatsachenroman
- Utopischer Roman
- Verführungsroman
- Wissenschaftsroman
- Wildwestroman
- Zeitroman
Literatur
- 1651: Paul Scarron, The Comical Romance, Chapter XXI. „Which perhaps will not be found very Entertaining“ (London, 1700). Aufruf an Frankreichs Autoren, statt großer Romane kurze exemplarische Geschichten zu schreiben, wie sie die Spanier als „Novels“ propagieren. Marteau
- 1670: Pierre Daniel Huet, „Traitté de l’origine des romans“, Vorrede zu Marie-Madeleine Pioche de La Vergne comtesse de La Fayette, Zayde, histoire espagnole (Paris, 1670). Weltgeschichte des Romans und des Fiktionalen überhaupt. pdf-edition Gallica France
- 1683: [Du Sieur,] „Sentimens sur l’histoire“ aus: Sentimens sur les lettres et sur l’histoire, avec des scruples sur le stile (Paris: C. Blageart, 1680). Würdigt die Romane der LaFayette als Romane im neuen Stil kurzer exemplarischer Erzählungen. Marteau
- 1702: Abbe Bellegarde, „Lettre à une Dame de la Cour, qui lui avoit demandé quelques Reflexions sur l’Histoire“ aus: Lettres curieuses de littérature et de morale (La Haye: Adrian Moetjens, 1702). Paraphrase des Textes Du Sieurs nun mit knapperer Debatte der Vorteile der exemplarischen Geschichten gegenüber den langen Romanen. Marteau
- 1705/ 1708/ 1712: [Anon.] Auf Englisch, Französisch und Deutsch das Vorwort zur Secret History of Queen Zarah and the Zarazians (Albigion, 1705) bietet Bellegarde’s Artikel plagiiert. Marteau
- 1713: Deutsche Acta Eruditorum, Rezension der französischen Übersetzung von Delarivier Manleys New Atalantis 1709 (Leipzig: J. L. Gleditsch, 1713). Debatte eines politischen Skandalromans in einer Literaturzeitschrift. Marteau
- 1715: Jane Barker, Vorrede zu Exilius of the Banish’d Roman. A New Romance (London: E. Curll, 1715). Aufruf „Romances“ nach dem Muster des Telmach, statt der modernen novels zu schreiben. Marteau
- 1718: [Johann Friedrich Riederer,] „Satyra von den Liebes-Romanen“, aus: Die abentheuerliche Welt in einer Pickelheerings-Kappe, 2 ([Nürnberg,] 1718). Satire über die in allen Schichten der Bevölkerung umsichgreifenden Romanlektüre Marteau
- 1742: Henry Fielding, Vorrede zu Joseph Andrews (London, 1742). Poetologie des „comic epic in prose“ Munseys
- 1774: Christian Friedrich von Blankenburg, Versuch uber den Roman (Leipzig/ Liegnitz: D. S. Wittwe, 1774).
- 1819: Carl Nicolai, Versuch einer Theorie des Romans (Quedlinburg, 1819)
- 1876: Erwin Rohde, Der Griechische Roman und seine Vorläufer (1876).
- 1883: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (Leipzig: Staackmann, 1883). Nachdruck, mit einem Nachwort von Hellmuth Himmel (Göttingen: Vandenhoeck, Ruprecht, 1967).
- 1920: Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [verfasst 1914-1916] (Berlin: Cassirer, 1920).
- 1934/35: Michail Michailowitsch Bachtin, Слово в романе [1934/35], deutsch: Das Wort im Roman
- 1941: Michail Michailowitsch Bachtin, Эпос и роман. О методологии исследования романа [1941], deutsch: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung.
- 1957: Ian Watt, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson, and Fielding (London, 1957). Bespricht Robinson Crusoe als erste moderne „novel“ und den Aufstieg des modernen - realistischen - Romans als Errungenschaft der englischen Literatur, die mit Kapitalismus und Entwicklung des Individuums neuen Einflüssen ausgesetzt war.
- 1963: Burgess, Anthony, The Novel To-day (London: Longmans, Green, 1963).
- 1987: Michael McKeon, The Origins of the English Novel 1600-1740 (Baltimore, 1987).
- 1996: Doody, Margaret Anne, The true story of the novel (London: Fontana Press, 1996). ISBN 0-00-686379-5
- 1999: Rolf Vollmann, Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer 1800 bis 1930, btb verlag 1999, ISBN 3-442-72297-7
- 2000: McKeon, Michael, Theory of the Novel: A Historical Approach (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2000).
- 2001: Niklas Holzberg, Der antike Roman. Eine Einführung. Düsseldorf, Zürich 2001. ISBN 3-538-07115-2
- 2001: Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde (Amsterdam/ Atlanta: Rodopi, 2001). ISBN 90-420-1226-9. Eine Marktstudie mit Blick auf die Geschichte des Romans 1500-1750.
- 2004: Karimi, Kian-Harald: Des contes qui sont sans raison, et qui ne signifient rien - Vom ‚Roman der französischen Philosophen’ zum philosophischen Roman. In: Christiane Solte-Gressner u. Margot Brink (Hrsg.): Écritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie. Tübingen: Stauffenburg, 2004, S. 71-88, ISBN 3-860-57694-1.
- 2005: Bode, Christoph, Der Roman. Eine Einführung, A. Francke Verlag (UTB), Tübingen und Basel. ISBN 3-8252-2580-1
- 2006: Mentz, Steve, Romance for sale in early modern England: the rise of prose fiction (Aldershot [etc.]: Ashgate, 2006). ISBN 0-7546-5469-9
- 2008: Theo Breuer, Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Geschichten, Monographie zur zeitgenössischen Prosa und Lyrik nach 2000, Edition YE 2008.
Siehe auch
- Zu den nationalen Entwicklungssträngen und zur Geschichte des Romans seit 1800: siehe Linkliste unter dem Stichwort Literatur.
- Romancier
- Erzähltheorie