Pietismus

Reformbewegung
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Der Pietismus (v. frz.: piété = Frömmigkeit) ist nach der Reformation die wichtigste Reformbewegung im deutschen Protestantismus.

Begriff

Das Wort "Pietismus" ist eine lateinisch-französisch-griechische Hybridbildung. Zum französischen Wort "piété", das seinerseits aus dem Akkusativ "pietatem" des lateinischen Wortes "pietas" ("Pflichtgefühl") gebildet ist, tritt die Latinisierung der griechischen Endung "-ismós" für intensivierte Denkhaltungen oder übersteigerte Ideologien. Ursprünglich diente das Wort als spöttische Bezeichnung für "Frömmelei". Als positive Selbstbezeichnung bedeutet es das Streben nach intensivierter, vertiefter Frömmigkeit.

Eigenart

Der Pietismus war eine Reaktion auf die Aufklärung. In dieser Zeit wurde das traditionelle Weltbild durch neue Erkenntnisse der Naturwissenschaft erschüttert und die offizielle Theologie wurde von der aufklärerischen Philosophie angegriffen. Die Theologie reagierte darauf mit einer zunehmenden Verwissenschaftlichung, wurde aber für die normalen Gemeindeglieder immer unverständlicher. Außerdem verlangte der absolutistische Staat ein Bekenntnis zum offiziellen Dogma, das er in den Vordergrund stellte, hielt aber persönliche Frömmigkeit für störend. Der Pietismus kritisierte beide Entwicklungen, die er für rein äußerlich hielt und stellte ihnen sein Ideal einer persönlichen, gefühlsbetonten Frömmigkeit entgegen.

Der Pietismus ist eine Bibelbewegung, Laienbewegung und Heiligungsbewegung. Er betont die subjektive Seite des Glaubens, entwickelte aber auch einen starken missionarischen und sozialen Grundzug. In der pietistischen Praxis haben Hauskreise mit gemeinsamem Bibelstudium und Gebet oft größere Bedeutung als Gottesdienste.

Der Pietismus hat das Priestertum aller Gläubigen betont und deshalb neben Theologen auch Laien ohne akademische Bildung, vorrangig Männer, zum Predigtamt geführt: als Redner, "redende Brüder", in den Hauskreisen ("Stunden", das heißt Erbauungsstunden / Bibelbesprechstunden). Zinzendorf hat gesagt:

"Gesegnet sei die Gnadenzeit,
In der auch ungeübte Knaben
Befehl und Macht erhalten haben
Zu werben für die Seligkeit."

Strömungen

"Pietismus" ist eine Sammelbezeichnung für viele unterschiedliche Strömungen. Neben dem lutherischen Pietismus, als dessen "Vater" der Elsässer Philipp Jacob Spener (1635-1705) gilt, entwickelte sich der reformierte Pietismus, zu dessen Vertretern Theodor Undereyck und Gerhard Tersteegen gehören. Als Programmschrift des lutherischen Pietismus gilt Speners 1675 erschienenes Werk Pia desideria (Fromme Wünsche), in denen er für eine persönliche Frömmigkeit eintrat. Als neue Form der Zusammenkünfte entwickelten sich die Privatversammlungen (Konventikel, Versammlungen, in Württemberg "Stunden", dazu die schweizerdeutsche Bezeichnung "Stündeler" für "Frömmler"), in denen man die Predigt des Pfarrers noch einmal besprach, christliche Erbauungsbücher las, betete und sang. Aber Spener forderte auch eine Reform der Theologenausbildung.

Mit der Verwirklichung dieser Forderungen wies der Pietismus den Gläubigen eine eigenständige religiöse Autorität zu. Zudem förderte er die Individualisierung der Persönlichkeit, indem er die persönliche Glaubensüberzeugung in den Mittelpunkt rückte. Auch die Lesefähigkeit wurde durch das Lesen und Hören der oftmals nicht einfachen Texte aus den Erbauungsbüchern stimuliert.

Gründerväter des Pietismus wie Michael Hahn, Johann Albrecht Bengel und Friedrich Christoph Oetinger vertraten die Allversöhnung, später wurde sie in der Öffentlichkeit nur noch als eine mögliche Bibelauslegung dargestellt.

Sowohl beim lutherischen als auch beim reformierten Pietismus ist jeweils eine kirchliche und eine kirchenkritische Strömung (Radikaler Pietismus) zu unterscheiden.

Lutherischer Pietismus

Der lutherische Pietismus des Barock im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert war eine Reaktion auf Erstarrungserscheinungen innerhalb der orthodoxen lutherischen Kirche; der Pietismus konnte allerdings auch an Erneuerungsbestrebungen innerhalb dieser Institution anknüpfen, wie sie zum Beispiel bei Johann Gerhard sichtbar werden.

Württemberg

Als besonders pietistisch geprägt gilt neben Westfalen das Gebiet des einstigen Herzogtums Württemberg, wo es heute noch eine starke pietistische Strömung gibt (repräsentiert im Gesprächskreis "Lebendige Gemeinde" innerhalb der Württembergischen Landessynode) (vergleiche Württembergischer Pietismus). Allerdings ist der Einfluss des Pietismus gerade in diesem Land häufig überschätzt worden, weil man allgemeine Verhaltensweisen ungeprüft pietistischen Einflüssen zuschrieb. Im frühen 19. Jahrhundert kam es zur Gründung der beiden pietistischen Gemeinden Korntal[1] (1819) und Wilhelmsdorf (Württemberg)[2] (1824), die mit religiösen Sonderrechten ausgestattet wurden.

Neupietismus

Im 19. Jahrhundert entstanden Erweckungsbewegungen im Siegerland, in Wuppertal, in Minden, im Ravensberger Land und in Pommern, die als Neupietismus bezeichnet werden.

Wirkung

Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung des Pietismus für die deutsche Literatur in der Epoche der Aufklärung. Pietisten waren gehalten, ihr Inneres genau zu beobachten und ein etwaiges Erweckungserlebnis im Kreise der pietistischen Brüder und Schwestern zu berichten. Dies führte zu einem sensibleren Umgang mit seelischen Entwicklungen, durch den auch in der Literatur das Innenleben der Helden größere Bedeutung gewann. Ein Beispiel für das Zusammenspiel von Pietismus, Psychologie und Literatur ist Karl Philipp Moritz' Roman Anton Reiser. Goethes Wilhelm Meister diskutiert im 6. Buch der Lehrjahre ("Die Bekenntnisse einer schönen Seele") unter anderem den Pietismus Zinzendorfs und der Herrnhuter, mit dem er sich in seiner Jugend stark auseinandergesetzt hatte.

Auch das soziale Engagement des Pietismus (unter anderem die daraus erwachsenen Diakonissenanstalten und Sozialwerke) hat nachhaltige Veränderungen in Gesellschaft und Politik hervorgerufen. Viele soziale Anstalten (Waisenhäuser, Krankenhäuser), die heute vom Staat geführt werden, sind auf den Pietismus zurückzuführen.

Kritik am Pietismus

An Kritik an pietistischen Lehrinhalten und pietistischer Frömmigkeitspraxis hat es zu keiner Zeit seit seiner Entstehung gemangelt.

Vor allem aus Kreisen der so genannten Dialektischen Theologie wurde eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Pietismus geboten. Hauptkritikpunkt war dabei, dass sich die Pietisten auf die Widerspruchsfreiheit der Bibel beriefen, während Vertreter der Dialektischen Theologie dies nicht glaubten.

So hat der Berliner Theologe Dietrich Bonhoeffer den Pietismus als letzten Versuch bezeichnet, den christlichen Glauben als Religion zu erhalten. Bei seiner negativen Beurteilung der Religion - er wurde gleichsam als Gegenbegriff zur Offenbarung Gottes angesehen - wiegt diese Kritik schwer. Ebenso verwarf Bonhoeffer gerade als biblisch-reformatorischer Theologe das Grundanliegen des Pietismus, beim Menschen eine 'erwünschte Frömmigkeit' erwirken zu wollen.

Außenstehende Christen wie auch Nichtchristen kritisieren an Pietisten, dass diese sich zu sehr auf die eigene geistliche Entwicklung konzentrierten (die Kritiker sehen die Gefahr eines "Heilsegoismus"), weswegen sie der Verantwortung des Menschen in der Gesellschaft nicht gerecht werden könnten.

Schon in der Aufklärung, aber auch heute wird von Außenstehenden den Pietisten Intoleranz vorgeworfen, da diese nicht von ihrem Ausleben des Christentums gemäss ihrer spezifischen Bibelauslegung abrücken wollen und auch andere von dieser Lebensform überzeugen wollen.

Spannungen

Heute grenzen sich manche Kirchen und Gruppen in pietistischer Tradition oft speziell von charismatischen Kirchen und Gruppen ab.

Die heutigen Pietisten werden zu den Evangelikalen gerechnet.

Freikirchen und Gruppen in pietistischer Tradition

Herausragende Vertreter des Pietismus

Vom Pietismus beeinflusste Denker / Theologen

Vom Pietismus beeinflusste Politiker

Genannt seien exemplarisch

Literatur

  • Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990. (Rascher, umfassender Überblick)
  • Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. (umfassender Forschungsbericht)
  • Geschichte des Pietismus. 4 Bände. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993-2003. (Standardwerk)
  • Reinhard Breymayer: Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding, Bd. 6. Tübingen: Niemeyer 2003, Sp. 1191-1214. (Verhältnis Pietismus-Redekunst (Rhetorik))
  • Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 18). Tübingen 2003. (Über den radikalen Pietismus in Württemberg)
  • Pietismus und Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (Mit der aktuellen Pietismus-Bibliographie, hg. von Udo Sträter)
  • Eberhard Busch: Karl Barth und die Pietisten. Die Pietismuskritik des jüngeren Barth und ihre Erwiderung, München 1978. (Zur Auseinandersetzung von Karl Barth mit dem Pietismus)

Siehe auch: