Industrie- und Betriebssoziologie
Als spezielle Soziologien beschäftigt sich
- die Industriesoziologie mit der Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Industriebetrieben und Gesellschaften, mit der sozialen Struktur und Dynamik von Industriebetrieben, mit der Entstehung und Geschichte der Industrialisierung sowie mit deren Auswirkungen auf Arbeitswelt und Gesellschaft und
- die Betriebssoziologie mit Strukturen und Ordnungen in privaten und öffentlichen Leistungsorganisationen mit wirtschaftlicher Zwecksetzung. Ihr Fokus sind weniger die Wechselwirkungen zwischen Organisation und Gesellschaft als die Binnenstrukturen und -verhältnisse in den Organisationen selbst.
Da sich ihre jeweiligen Forschungsgebiete überschneiden, werden beide gewöhnlich zusammen als eine spezielle Soziologie betrachtet. Gemeinsame Schnittmengen haben sie auch mit der Arbeitssoziologie.
Entwicklung und Ansätze
Die Entwicklung der Industriesoziologie war zunächst stark geprägt durch Analysen und gesellschaftspolitische Bewertungen der neuen industriekapitalistischen Produktionsweise (paradigmatisch in "Das Kapital" Band I von Karl Marx) sowie der sozialen Struktur der Industriearbeit und deren häufig negativ bewerteten Folgen.[1] Mit der Abgrenzung der Soziologie von der Geschichts- und Sozialphilosophie bestimmten vermehrt reine Tatsachenanalysen die soziologischen Untersuchungen, so dass die Betriebssoziologie aufgrund der analysierten Tatbestände konkrete betriebliche oder gesellschaftspolitische Maßnahmen vorschlagen konnte. Die Betriebssoziologie entwickelte sich zudem in der Auseinandersetzung mit der "wissenschaftlichen Betriebsführung" (siehe Taylorismus), welche vorwiegend von Effizienzgesichtspunkten bestimmt wurde. Die zunehmende sozial- und arbeitsrechtliche Verankerung einer Betriebsverfassung erleichterte es schließlich der Betriebssoziologie, sich auf positivistische Tatsachenanalyse zurückzuziehen, während die Industriesoziologie ihren (meist kritischen) gesellschaftspolitischen Bezug nicht aufgab.
Worin unterscheiden sich Industrie- und Betriebssoziologie?
Eine klare Grenzziehung zwischen Industrie- und Betriebssoziologie ist aus zwei Gründen nicht immer sinnvoll und möglich: Einerseits besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Problemen der gesamtgesellschaftlichen strukturellen Veränderungen zur Industriegesellschaft. Andererseits lässt die Einordnung des Menschen in den rationalisierten Industriebetrieb mit allen seinen Konsequenzen in organisatorischer und sozialer Sicht eine klare Trennung gar nicht zu. Zu beachten bleibt jedoch, dass die "Industriesoziologie" auch nicht-betriebliche Erscheinungen untersucht, etwa die sozialpsychologische Komponente der "Industrialisierung" (auch der "De-Industrialisierung") als Einstellung (Haltung); anderseits gibt es zahlreiche nichtindustrielle Betriebe (z.B. Bauernhöfe, Handwerksbetriebe, Kindergärten, Hospitäler, Räuberbanden).
Neue Herausforderungen der Industriesoziologie bilden die säkularen Tendenzen zur Dienstleistungsökonomie und Wissensgesellschaft, die sich in der paradoxen Begriffsbildung der "postindustriellen Industriesoziologie" (Deutschmann) widerspiegeln.
Forschungsrichtungen
Betriebssoziologie
In der Betriebssoziologie lassen sich folgende Forschungsrichtungen unterscheiden:
- Das Human-Relations-Model
- Die formale Organisationstheorie
- Die Personality and Organisation Theory
- Das Industrial-Relations-Modell
- Der Fallstudien-Ansatz (SOFI Göttingen; Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München)
Industriesoziologie
Die Industriesoziologie beschäftigt sich dazu mit:
- Fragen der Macht- und Autoritätsverhältnisse im Industriebetrieb
- Organisations- und Gruppenstrukturen im Industriebetrieb und deren Auswirkungen auf den Menschen
- Das Verhältnis des Industriebetriebes zu seiner Umwelt
- Auf Ebene der Entwicklungssoziologie mit der Frage nach Voraussetzungen und möglichen Folgen einer möglichst sozial verträglichen und ökologisch angepassten Industrialisierung in Entwicklungsgesellschaften.
- Auf der Ebene der sozialen Akteure mit den Einstellungen zu Industriebetrieben und -arbeit
Siehe auch
Literatur
- Beckenbach, N. [1991]: Industriesoziologie, de Gruyter, Berlin u.a., ISBN 3-11-012153-0
- Dahrendorf, R./Burisch, W. [1973]: Industrie- und Betriebssoziologie, 7., verb. Aufl., de Gruyter, Berlin u.a., ISBN 3-11-005898-7
- Deutschmann, C. [2002]: Postindustrielle Industriesoziologie, Juventa, München ISBN 3779914719
- Fürstenberg, F. (Hrsg.): Industriesoziologie I: Vorläufer und Frühzeit 1835-1934, Neuwied 1959; Industriesoziologie II: Die Entwicklung der Betriebs- und Arbeitssoziologie seit dem Zweiten Weltkrieg, Neuwied 1974; Industriesoziologie III: Industrie und Gesellschaft, Neuwied 1975
- Hälker, J. [2004]: Betriebsräte in Rollenkonflikten. Betriebspolitisches Denken zwischen Co-Management und Gegenmacht, Hampp, München/Mering ISBN 3-87988-800-0.
- Hirsch-Kreinsen, H. [2006]: Wirtschafts- und Industriesoziologie. Grundlagen, Fragestellungen, Themenbereiche, Juventa, München, ISBN 3779914816.
- Littek, W. [1973]: Industriearbeit und Gesellschaftsstruktur. Zur Kritik der Industrie- und Betriebssoziologie, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main
- Littek, W./Rammert, W./Wachtler, W. (Hrsg.) [1982]: Einführung in die Arbeits- und Industriesoziologie, 2. erw. Aufl., Campus, Frankfurt am MainISBN 3-595-32548-9.
- Miller, D.C./Form, W.H. [1967]: Industrial Sociology, Harper & Row, New York
- Mikl-Horke, G. [1995]: Industrie- und Arbeitssoziologie, 3. Aufl., Olenbourg, München
- Minssen, H. [2006]: Arbeits- und Industriesoziologie. Eine Einführung, Campus, Frankfurt am Main
- Müller-Jentsch, W. [1997]: Soziologie der Industriellen Beziehungen, Eine Einführung, 2. Aufl., Campus, Frankfurt am Main
- Rosenstock-Huessy, E. [1922]: Werkstattaussiedlung. Untersuchungen über den Lebensraum des Industriearbeiters, (Nachdruck 1997) ISBN 3-87067-629-9
- Schelsky, H.: Industrie- und Betriebssoziologie, in: A. Gehlen und H. Schelsky (Hrsg.) [1968]: Soziologie, 7.Aufl., Diederichs, Düsseldorf, S. 159-203
- Schumann, M. [2003]: Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein. Kritische Industriesoziologie zwischen Taylorismusanalyse und Mitgestaltung innovativer Arbeitspolitik, VSA-Verlag, Hamburg, ISBN 3-89965-008-5
- Weyrather, I. [2003]: Die Frau am Fließband. Das Bild der Fabrikarbeiterin in der Sozialforschung 1870–1985, Campus, Frankfurt am Main
- Zündorf, L. (Hrsg.) [1979]: Industrie- und Betriebssoziologie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, ISBN 3-534-06841-6
Anmerkungen
- ↑ Vgl. die Quellenauszüge in: Friedrich Fürstenberg (Hrsg.): Industriesoziologie I: Vorläufer und Frühzeit 1835-1934, Neuwied 1959.