Die begriffliche Unterscheidung des Pfades zur Linken Hand (sanskrit: "Vama Marga") und des Pfades zur Rechten Hand (sanskrit: "Dakshina Marga") stammt ursprünglich aus dem Hindu-Tantra. "Vama" kann sowohl mit "linke (Hand)" als auch mit "Frau" übersetzt werden, "Marga" mit "Weg" oder "Pfad". Auch bekannt unter dem englischen Terminus Left Hand Path (LHP).
Vama Marga
Etymologisch läßt sich der Begriff des Vama Marga primär auf zwei bestimmte Aspekte zurückführen:
- In Indien besteht nicht immer die Möglichkeit, sich die Hände zu waschen. Deshalb werden dort gemäß der Tradition alle schmutzigen bzw. unhygienischen Tätigkeiten mit der linken Hand ausgeführt. Die rechte Hand bleibt sauber bzw. "rein", weshalb sie zur Nahrungsaufnahme usw. verwendet werden kann.
- Die Energie des Weiblichen wird im Tantra der linken Seite zugeordnet. Bei tantrischen Sexualriten, welche im originären LHP von entscheidender Wichtigkeit sind, wird die Frau daher zur linken Seite des Mannes positioniert.
Aus diesem Grunde wird die linke Seite in Indien sowohl mit der Überschreitung gesellschaftlicher Tabus als auch der dynamischen Energie der Shakti assoziiert. Neben den bereits erwähnten Sexualriten sind im indischen LHP z.B. der Konsum von Fleisch, Alkohol und Cannabis oftmals fester Bestandteil der religiösen Praxis. Es lassen sich jedoch auch in anderen Kulturen Parallelen finden. So bedeutet etwa das lateinische Wort "sinister" sowohl "links" als auch "dunkel, finster".
Der LHP steht im Gegensatz zum stärker verbreiteten "Right Hand Path" (RHP) für die Bejahung der weltlichen Existenz und der Vergöttlichung des individuellen Ichs. Da die linke Hand ein interkulturell verständliches Symbol sein kann, ist der LHP gut als Universalbegriff geeignet, um westliche Strömungen wie etwa Satanismus, Setianismus oder Saturngnosis unter einer gemeinsamen Kategorie einzuordnen. Die im Westen stark verbreitete Polarisierung LHP = Böse und RHP = Gut ist jedoch unzureichend und kann primär auf Madame Blavatsky zurückgeführt werden.
Stephen Flowers
Dr. Stephen Flowers skizziert in seiner Abhandlung Lords of the Left-Hand Path ein interkulturelles Modell des LHP, welches wie folgt aufgebaut ist:
Das Universum ist die Gesamtheit allen Seins. Für das menschliche Subjekt untergliedert es sich in das Erkennbare und das Unerkennbare. Dieses komplexe Modell gestattet zumindest zwei basale Unterscheidungskategorien:
- Das Objektive Universum (OU) ist der Kosmos bzw. die Weltordnung. Der Mensch ordnet ihm für gewöhnlich bestimmte Gesetze bzw. Konstanten in Raum und Zeit zu. Das OU kann sowohl mit der "Natur", als auch – in pantheistischen Strömungen – mit "Gott" identifiziert werden. Orthodoxe Religionssysteme postulieren die Möglichkeit der Vereinigung eines Subjekts mit dem OU mittels mystischer Riten, während die modernen Naturwissenschaften eine präzise, rationale Erfassung des OU`s anstreben. Das OU ist der Ursprung aller Materie.
- Das Subjektive Universum (SU) ist die "Welt" einer jeden empfindsamen Entität. Es gibt so viele subjektive Universen, wie es empfindsame Wesen gibt. Eine Erfahrung des Objektiven Universums ist in der Regel nur indirekt (gefiltert durch die Wahrnehmung des Subjektiven Universums) möglich. Das SU scheint nicht den selben Gesetzen wie das OU unterworfen zu sein, da es auf mentalen Prozessen basiert. In diesem Sinne ist das SU "unnatürlich" bzw. "akosmisch".
Die "Unnatürlichkeit" des Subjektiven Universums wird besonders dort explizit, wo menschliche Subjekte eine künstliche Veränderung in der physikalischen Welt herbeiführen – Bauwerke, Kunst, politische Strukturen, Literatur usw. Dies erfordert ein reflexives Bewußtsein. Obgleich an die selben materiellen Grundlagen des Objektiven Universums gebunden, gibt es keine völlig identischen Subjektive Universen.
Wir finden in allen Subjektiven Universen eine universelle Gemeinsamkeit – die Separation vom Objektiven Universum, welche durch das Bewußtsein eingeleitet wurde. Dieses Prinzip der Separation ist zugleich eine Qualität des Objektiven Universums. Wir können hier von einem ontologischen Prinzip der "Isolierten Intelligenz", dem separaten Subjektiven Universum "an sich", sprechen.
Religiöse Strömungen des Pfades zur Linken Hand identifizieren die "Isolierte Intelligenz" als Archetyp mit einer bestimmten göttlichen Entität. Personifiziert kann die "Isolierte Intelligenz" auch als "Fürst der Finsternis" bezeichnet werden. Mythologische Ausformungen des "Fürsten der Finsternis" sind z.B. Seth, Shakti, Satan, Tezcatlipoca oder Odin.
Adepten des Pfades zur Linken Hand erfüllen zwei Hauptkriterien: Apotheose und Antinomismus:
- Apotheose basiert auf den Unterkategorien Individualismus bzw. Selbstbewußtsein, Initiation und Magie.
- Antinomismus schließt die heterogenen Elemente eines jeweiligen Sozialsystems ein. Ein Adept des LHP strebt eine ethische Position jenseits von Gut und Böse (vgl. Friedrich Nietzsche) an.
LHP-Systeme können entweder auf eine souveräne Position in der materiellen Welt ("objektivistisch") oder auf eine absolute Separation vom Objektiven Universum ("transzendent") ausgerichtet sein. Es gibt natürlich auch Positionen, welche sich zwischen diesen beiden Extremen befinden.
Literaturverweise
- Stephen Flowers: Lords of the Left-Hand Path. Smithville, Texas 1997, ISBN 1-885972-08-3,
- Julius Evola: Die Grosse Lust. Metaphysik des Sexus., Bern 1998, ISBN 3-85681-406-X
- Robert Svoboda: Aghora - At the Left Hand of God. Albuquerque 1999, ISBN 0914732-21-8,
- Nikolas Schreck / Zeena Schreck: Demons of the Flesh. New York 2002, ISBN 1-84068-061-X,
- Frank Lerch: Ouroboros Files. Schlangengedanken zum linken Pfad. Lübeck 2002, ISBN 3-89094-353-5