Niederdeutsche Sprache
Die Niederdeutschen Sprachen (Eigenbezeichung: Nederdüütsch) gehören zu den westgermanischen Sprachen, aus denen sich eine Gruppe von Germanischen Sprachen durch die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung (mittel- und oberdeutsche Mundarten des Hochdeutschen) geschieden hat (südlich der Benrather Linie). Sie weisen unter anderem Ähnlichkeiten mit der hochdeutschen, der englischen Sprache und der Friesischen Sprache auf. Die Niederdeutsche Sprache wurde in der Frühzeit der Germanistik in die zwei Gruppen geteilt: die Niederfränkische Sprache und die Niedersächsische Sprache, welche ugs. als Plattdeutsch (plattdüütsch) bezeichnet wird.
Die Niederländische Sprache, zu der auch die flämischen Dialekte der Nordhälfte Belgiens gehören, hat sich wie das Niedersächsische aus einem Zweig des Westgermanischen entwickelt. Die altsächsische Sprache geht wie die sächsischen Anteile der Angelsächsischen Sprache auf den Stamm der Sachsen zurück, wie er vor der Völkerwanderung an der Elbmündung sesshaft war.
Durch die Völkerwanderung breitete sich der Sachsenstamm, und damit auch seine Sprache, nach England und andererseits nach Süden und Südwesten aus. Die auf dem Kontinent verbliebenen Sachsen wurden von Beda Venerabilis als Altsachsen bezeichnet, daher der Name Altsächsisch für die älteste Stufe der niederdeutschen Sprache. Durch die Völkerwanderung breitete sich die altsächsische Sprache über ein Gebiet aus, das die heutigen Regionen Holstein (ohne Ostholstein), Stormarn, Niedersachsen, Westfalen und die östlichen Niederlande umfaßte. Im Wendland (Wenden wurden die Slawen von den Sachsen genannt) gab es noch jahrhundertelang ein slawisch-sächsisches Mischgebiet.
Erst durch die Ostsiedlung (Ostkolonisation) breitete sich die altsächsische bzw. altniederdeutsche, dann seit etwa 1225 mittelniederdeutsche Sprache weit nach Osten aus. Neue große Sprachlandschaften enstanden: Mecklenburgisch, Pommersch, Südmärkisch (Brandenburgisch), Niederpreußisch (nicht zu verwechseln mit der baltischen altpreußischen Sprache) und das Niederdeutsche in den Städten und auf den Gutshöfen im Baltikum und in Skandinavien. Außerdem verzeichnete das Mittelniederdeutsche Gebietsgewinne in Schleswig und in Ostfiresland. All diese neuen Sprachgebiete des Niederdeutschen sind sogenannte Kolonisationsschreibsprachen oder Kolonisationsmundarten, die einige Besonderheiten in der Grammatik und im Wortschatz aufwiesen. So lautet der Einheitskasus der Verben noch heute in den Dialekten des Altlandes (bereits in altsächsischer Zeit niederdeutsches Sprachgebiet) lautgesetzmäßig -(e)t, also anstelle des hochdeutschen wir mach-en, ihr mach-t, sie mach-en im westniederdeutschen: wi maak-t, ji maak-t, se maak-t. Im Ostniederdeutschen, im Schleswiger Platt und im ostfriesischen Platt lautet er hingegen -en, also wi mak-en, ji mak-en, se mak-en.
Während das Niederfränkische in den Niederlanden (tüütsche taal der neederen Landen) und Belgien - bedingt durch die Eigenstaatlichkeit nach dem westfälischen Frieden - Schrift- und Kultursprache wurde bzw. blieb, sind die niederdeutschen Mundarten (in Deutschland und in den Niederlanden) gegenüber der hochdeutschen Sprachform bzw. der hochniederländischen Sprachform auf dem Rückzug. Historische Gründe in Deutschland dafür sind die jahrhundertelange kulturelle Überlegenheit des oberdeutschen Raumes, die Vorbildfunktion des Kaiserhofes, der seit der Zeit der Salier Hausmacht und Schwerpunkt im Süden hatte, und die Bibelübersetzung Martin Luthers. - Allerdings wurde die Luther-Übersetzung der Bibel sofort ins Niederdeutsche übersetzt. Dies ging so schnell vor sich, daß die Gesamtbibel zunächst in niederdeutscher und erst wenige Monate später in hochdeutscher Übersetzung erschien. - In einem langen Prozess wurde das Niederdeutsche aus Kirche, Schule (Einführung von Hochdeutsch als verbindl. Unterrichtssprache nach Gründg. des DR 1871 durch Bismark), Politik, Literatur und Wissenschaft, ab dem 20. Jahrhundert auch aus den meisten Familien, verdrängt. Aber auch durch massive Zuwanderungen von Menschen aus anderen Dialekträumen nach dem II. Weltkrieg haben zur Errosion der Sprache in den vergangenen 50 jahren beigetragen. Regionale Wiederbelebungsversuche können diesen von den Massenmedien zusätzlich beschleunigten Vorgang nicht aufhalten.
Stammbaum
Niederdeutsch, Nederdüütsch, Nederduytsch, Nederduitsch, Nederduits
- Niederfränkisch, besser bekannt als Niederländisch (Niederlande, Belgien - für die niederländische Nordhälfte Belgiens verwenden Deutsche häufig den Ausdruck Flämisch -, Deutschland - die niederfränkischen Dialekte am Niederrhein - und Frankreich) - in der äußersten Nordostecke bei Dünkirchen
- Niedersächsisch, in Norddeutschland besser bekannt als Plattdeutsch (Plattdüütsch)
- Westniedersächsische Mundarten, auch Westnedersäksisch oder Westnedersässisch (Niederdeutschland, Niederlande
- Ostniederdeutsch (Deutschland und aussterbend in Polen und in Litauen im Memelgebiet sowie in Rußland im Gebiet Kaliningrad/Königsberg)
- Plautdietsch oder auch niederpreußische Sprache (entstanden an der Weichselmündung bei Danzig, durch mennonitische Auswanderer weit verbreitet, so heute insbesondere in Deutschland und Amerika)
In Deutschland wird der Begriff Niederdeutsch häufig als Synonym für die Niedersächsische Sprache ("die sächsische Sprache des niederen Landes") - die niederen Lande (vgl. noch Niederlande) wurden etwa bei Köln von den oberen Landen bzw. Niederdeutschland von Hochdeutschland abgetrennt entsprechend der Rheinschifffahrt, die eine Niederrhein- und eine Oberrheinfahrt kannte - benutzt. Die Niederdeutsche Sprache im Sinne des sprachwissenschaftlichen Terminus Niedersächsische Sprache ist seit 1998 als Regionalsprache anerkannt und durch die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen geschützt. In der Wissenschaft hat sich eine Niederdeutsche Philologie bereits in den Anfängen von der übrigen Deutschen Philologie verselbständigt. Die Mehrzahl der Sprecher des Niederdeutschen waren immer von der Eigensprachlichkeit des Niederdeutschen überzeugt.
Der niederdeutsche Dialekt Plautdietsch wird unter anderem von den Mennoniten in Amerika und mennonitischen Spätaussiedlern gesprochen.
Merkmale
Lautstand
Die niederdeutschen Sprachen haben - wie auch die weiteren westgermanischen Sprachen: das Niederländische, das Friesische und das Englische - die zweite germanische oder hochdeutsche Lautverschiebung nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil mitgemacht. Daher sind viele Worte der niederdeutschen Sprachen ähnlich den entsprechenden englischen, dänischen, schwedischen, norwegischen und isländischen Worten, z.B.
- nd. Water; engl. water; dän. vand (Wasser)
- nd. Vader, Vadder; engl. Father; dän. far (Vater)
- nd. Pann, Panne ; engl. pan (Pfanne)
- nd. Salt; engl. salt; dän. salt (Salz)
- nd. Melk; engl. milk; dän. melk (Milch)
In der niederländischen Sprache, sowie in einigen westniedersächsischen Dialekten wird das g als hartes ch gesprochen (für das weiche ch wird ǧ geschrieben), im Westfälischen als weiches ch.
Grammatik
- Artikel haben nur zwei Geschlechter (anders als im Deutschen), geschlechtlich und sächlich
- de Mann / de Man (der Mann)
- de Fru / de vrouw (die Frau)
- dat Kind / het Kind (das Kind)
- Die Personalpronomina sind einander ähnlich, insbesondere hat die dritte Person Singular eine andere Wurzel als im Hochdeutschen (he statt er)
- Singular: Ik, du/je, he/hij, se/ze, dat/et,het (ich, du, er, sie, es)
- Plural: Wi/wij, ji/jullie, se/ze (wir, ihr, sie)
- Possesivpronomina
- Singular: mien/mijn, dien/dijn, hüm/em, hör/ehr/har (mein, dein, sein, ihr)
- Plural: uns/onz, jem
- Demonstrativpronomina (hier gibt es - anders als im Deutschen- nur zwei Genera: geschlechtlich und sächlich)
- Singular: de, dit, de/die, dat (dieser/diese, dieses, jener/jene, jenes)
- Plural: düsse/dese/deze, de/die (diese, jene)
Das Präfix ge- für die Charakterisierung des Partizips Perfekt und davon abgeleiteter Substantive ist - ähnlich, wie in der hochdeutschen Sprachentwicklung - zunächst in die Schriftsprache (mittelniederdeutsch und mittelniederländisch integriert worden, im nordniedersächsischen und ostniederdeutschen Raum (Nordniedersächsisch und Mecklenburgisch) jedoch nicht vollständig. Dort ist dieses Sprachmerkmal, vermutlich auch unter Einfluss der schwedischen und dänischen Regentschaft in Teilen Norddeutschlands sowie der Beziehungen zu Skandinavien in der gesprochenen, später auch der geschriebenen Sprache nicht mehr aufzufinden. Dementsprechend findet man dieses Präfix im Niederländischen, Westfälischen und Ostfälischen, aber nicht im Ostfriesischen, Nordniedersächsischen und Mecklenburgischen. Im Weserplatt findet sich das Präfix abgeschwächt wieder, obwohl es dem Nordniedersächsischen zugerechnet wird.
- ndl. gekocht, westf. gekoopt, weserpl. 'ekofft, nnds. kööpt, dän. købt (gekauft)
- ndl. geslapen, nnds. slapen, weserpl. 'eslapen, engl. slept (geschlafen)
Das Perfekt und Plusquamperfekt wird - ähnlich wie im Deutschen - mit dem Hilfsverb hebben gebildet.
Das Futur wird - anders als im Deutschen und ähnlich wie im Englischen mit dem Hilfsverb sallen/schallen/zullen (verwandt, aber nicht bedeutungsidentisch mit dem Deutschen sollen gebildet
- Ik schall na School gahn kann sowohl Ich werde zur Schule gehen als auch Ich soll zur Schule gehen bedeuten.
Das Kasussystem ist - parallel zum Englischen und den skandinavischen Sprachen auf drei Fälle - vereinfacht, Akkusativ und Dativ sind zum Objektiv vereinigt:
- Ik kiek den Mann an (Ich sehe den Mann an, Akkusativ)
- Ik geev den Mann Geld (Ich geben dem Mann Geld, Dativ)
Diese Entwicklung setze zunächst im Norden des niederdeutschen Sprachgebiets ein, setzte sich dann aber nach Süden (Niederländisch, Westfälisch) weiter durch.
Siehe auch
Altniederdeutsch und Mittelniederdeutsche Sprache; Volkssprache