Die Queer Theory (Queer-Theory oder Queer-Theorie) ist eine besondere Form des Dekonstruktivismus, in der das biologische Geschlecht, die Geschlechterrollen (engl. Gender) und die sexuelle Orientierung und die damit verbundenen Identitäten, Machtformen und Normen untersucht und kritischer Betrachtung unterzogen werden. Sie geht davon aus, dass alles, was mit geschlechtlicher und sexueller Identität zu tun hat, nicht naturgegeben, sondern Erscheinung und Produkt eines sozialen und kulturellen Konstruktionsprozesses ist.
Die neuere Queer Theory beschäftigt sich nicht nur mit der Dekonstruktion von Sexualität, sondern mit allen Aspekten der Kultur.
Vorgeschichte
Ein wichtiger, aber von vielen englischsprachigen Autoren ignorierter Vordenker ist Magnus Hirschfeld, der um 1900 herum noch von einem biologisch-medizinischen Standpunkt aus versucht, die Dichotomie, also die strikte Zweigliedrigkeit der Geschlechter, zu widerlegen. Die Anthropologin Margaret Mead weist durch ihr Studium anderer Kulturen ab 1931 die Variabilität der Geschlechterrollen nach. In seiner Geschichte der Sexualität argumentiert später der Philosoph Michel Foucault, dass zweigeschlechtliches Denken, die Auffassungen über Homosexualität und Sexualität aufgrund sozialer und historischer Gegebenheiten entstehen, also nicht auf natürlichen Gegebenheiten beruhen.
Wichtige Vertreter
In ihrem Essay "The straight mind" greift Monique Wittig diese Gedanken auf und kritisiert traditionelle und feministische Denkmodelle über das Geschlechterverhältnis gleichermaßen, da sie beide auf der heterosexuellen Grundannahme (straight mind bedeutet 'heterosexueller Geist') beruhten, dass es zwei deutlich voneinander zu trennende Geschlechter gäbe; Geschlechtergrenzen seien vielmehr zu verwischen, da sie nur konstruiert seien (Heteronormativität).
Diese Auffassung, die von Judith Butler aufgegriffen und ausgebaut wird, entlarvt auch die in Deutschland immer noch zu beobachtende Sichtbarmachung des weiblichen Geschlechts als eine dem straight mind entsprungene Idee.
Weitere wichtige Vertreter/innen sind David Halperin, der sich mit der Geschichte der Homosexualität befasst, Eve Kosofsky Sedgwick, die das Phänomen der Homophobie untersucht, sowie Teresa de Lauretis und Gayle Rubin.
Queer Theory in Deutschland
Im deutschsprachigen Raum führt die Queer Theory (verglichen mit den USA) eher ein Schattendasein. Viele der grundlegenden englischsprachigen Texte sind bisher unübersetzt. 2001 publizierte die AG LesBiSchwule Studien / Queer Studies des AStA der Universität Hamburg die erste deutschsprachige Aufsatzsammlung zur Queer Theory unter dem Titel Jenseits der Geschlechtergrenzen. In Hamburg existiert auch - bislang einmalig in Deutschland - seit 2003 das interdisziplinäre Studienprogramm Gender und Queer Studies. Die Vertretungsprofessur für Queer Theory (angebunden an die Soziologie) war zwei Semester lang besetzt durch Antke Engel. Im Sommersemester 2005 lehrt Engel in Hamburg als erste von insgesamt drei Gastprofessorinnen zu Queer Theory.
Weiterhin bedeutsam sind die Publikationen von Sabine Hark zur Dekonstruktion lesbisch-feministischer Identitäten bedeutsam (v.a. deviante Subjekte) und die Herausgabe einiger grundlegender amerikanischer Basistexte durch Andreas Kraß 2003 (Queer Denken).
Kritik
Genetische Grundlage
Die Queer Theory tendiert dazu, genetische Faktoren des Geschlechterverhaltens zu ignorieren. Diese wurde in den 1960er bis 80er Jahren (Behaviorismus) von der Forschung fast vollständig ausgeblendet und wird seit den 1990er Jahren (von Seiten der Genforschung) in ihrer Bedeutung wieder stärker gewürdigt. Aufgrund kommerzieller Interessen fliessen verstärkt Gelder in Genforschungsprojekte.
Wissenschaftskritik?
Die Queer Theory kritisiert an der traditionellen Wissenschaft, Übergänge in der Wirklichkeit zu ignorieren und die Wirklichkeit in konstruierte diskrete Einzel-Phänomene zu zerlegen. Dabei übersieht sie, dass dieses Problem in der Wissenschaft schon immer klar war: Die Wissenschaft arbeitet lediglich mit Modellen der Wirklichkeit, weil die Wirklichkeit nur so erfassbar ist. Das kann letztlich auch die Queer Theory nicht anders tun.
Siehe auch: Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus, Kritische Theorie
Weblink
Literatur
- Foucault, Michel: Histoire de la sexualité 3 Bde. Paris: Gallimard 1994. ISBN 2070740706, ISBN 2070746739, ISBN 2070746747
- Jagose, Annamarie: Queer Theory. An Introduction. New York University Press 1996. ISBN 0814742343
- deutsche Übersetzung: Jagose, Annamarie: "Queer Theory. Eine Einführung." Berlin: Querverlag GmbH 2001. ISBN 3-89656-062-X
- Kraß, Andreas (Hrsg.): Queer Denken : Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt a. M. 2003. ISBN 3518122487.
- Wittig, Monique: The straight mind and other essays Beacon Press 1992. ISBN 0807079170
- U. Heidel, S. Micheler & E. Tuider (Hrsg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Hamburg: MännerschwarmSkript. 2001.
- Bruce Bawer (Hrsg.): Beyond Queer. Challenging Gay Left Orthodoxy. New York 1996. ISBN 0684827662.
Belletristik
- Concic-Kaucic, Gerhard Anna: "Semeion Aoristicon", Bde. 1-4, Wien, Passagen Verlag, 1993-2002. ISBN 3851651669, ISBN 3851650395, ISBN 3851652029, ISBN 3851654889.