Chiralität (Chemie)

räumliche Anordnung von Atomen
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Die Chiralität (griechisches Kunstwort, die Händigkeit, abgeleitet vom Wortstamm χειρ~, ch[e]ir~ - hand~) nennt man die Eigenschaft bestimmter Gegenstände oder Systeme, die sich wie Bild und Spiegelbild zueinander verhalten. Gängige Beispiele sind beispielsweise unsere Hände oder rechts- beziehungsweise linksgewundene Schneckenhäuser. Diese können durch eine Spiegelung nicht auf sich selbst abgebildet werden; eine Spiegelung ergibt vielmehr das jeweilige Enantiomer, also das Gegenstück bezüglich der Spiegelung.

Datei:Chirales Molekuel.jpg
Chirales Molekül

In der Physik spricht man von Chiralität (auch Helizität), wenn die Gesetzmäßigkeiten in zwei zueinander spiegelbildlichen Systemen nicht gleich sind. Beispiel: Paritätsverletzung des Betazerfalls.

In der Chemie wird ein asymmetrisch substituiertes Atom Stereozentrum bzw. Chiralitätszentrum genannt. Beispielsweise ein Kohlenstoffatom, das vier unterschiedliche Substituenten trägt. Allerdings bedingen vorhandene Chiralitätszenten nicht zwangsläufig eine Chiralität des Moleküls:

Ein einzelnes Chiralitätszentrum erzeugt immer ein chirales Molekül. Existieren zwei zueinander spiegelbildliche Stereozentren innerhalb des Moleküls, entsteht die achirale Meso-Verbindung.

Um auf das Beispiel der Hände zurückzukommen: Es ist klar, dass nur der rechte Handschuh zur rechten Hand passt. Versucht man den rechten Handschuh auf die linke Hand zu ziehen, so wird man damit scheitern oder nur ein sehr dürftiges Ergebnis erzielen. Deswegen versucht man heute bei chemischen Synthesen nur noch das Enantiomer mit der gewünschten Wirkung herzustellen und als Wirksubstanz einzusetzen, während man das andere Enantiomer mit seiner möglicherweisen unerwünschten Wirkung von Anfang an ausschließen möchte (Stereoselektive Synthese).

Auf die unterschiedliche Wirkung von verschiedenen Enantiomeren der sonst selben Substanz ist die Öffentlichkeit durch den Contergan-Skandal aufmerksam geworden. Vom Thalidomid, dem Wirkstoff des Arzneimittels Contergan, gab es zwei Enantiomere. Eines davon entsprach der gewünschten Wirkung, das andere nicht. Letzteres jedoch rief schwerste Missbildungen bei Kindern von mit Contergan in der Schwangerschaft behandelten Frauen hervor. Obwohl damals bekannt war, dass eines der Enantiomere eine medizinisch bedenkliche Wirkung hatte, hatte der Hersteller Grünenthal zunächst das Medikament am Markt belassen. Eine Racematspaltung hätte dieses Problem lösen können. Dieses häufig verwendete Verfahren erwies sich im Falle des Thalidomid jedoch als nutzlos, da sich die Enantiomere in einem dynamischen chemischen Gleichgewicht befinden und innerhalb kurzer Zeit automatisch wieder das Racemat bilden. Aus diesem Grunde hat Thalidomid, das heute zur Behandlung von Lepra und AIDS Anwendung findet, noch immer eine teratogene Wirkung.

Allgemeine Formel (R1 bis R4: verschiedene Reste)       Beispiel
      R1                   R1                               COOH
       |                   |                                |
    R2-C-R3             R3-C-R2                         H-O-C-CH3
       |                   |                                |
       R4                  R4                               H
    Enantiomer 1         Enantiomer 2

Verbindungen mit Stereozentren (asymmetrischen C-Atomen) kommen als Stereoisomere vor, verhalten sich zwei Stereoisomere wie Bild und Spiegelbild, so bezeichnet man dieses Paar als Enantiomere. Zu ihrer Unterscheidung bedient man sich der CIP-Konvention oder der R-S-Nomenklatur, mit der die räumliche Anordnung der Substituenten beschrieben wird.

Enantiomere unterscheiden sich nicht in ihren physikalischen Eigenschaften, mit Ausnahme ihrer optischen Aktivität. Auch ihre chemischen Eigenschaften sind identisch, bis auf ihr Reaktionsvermögen in stereoselektiven Reaktionen.

Chemisch reine Enantiomere sind optisch aktiv, drehen also die Schwingungsebene des linear polarisierten Lichts nach links oder rechts (linksdrehende Form und rechtsdrehende Form). Im Namen einer Verbindung macht man dies durch Voransetzen von "(-)-" beziehungsweise "(+)-" deutlich; zum Beispiel (-)-Weinsäure oder (+)-Milchsäure.

Ein 1:1-Gemisch der Enantiomere nennt man Racemat. Es ist optisch nicht aktiv und hat den Drehwinkel 0°, da sich die Anteile rechtsdrehender und linksdrehender Form gerade aufheben. Liegen in einem Gemisch die beiden Enantiomere nicht zu je 50 % vor, zeigt sich eine restliche optische Aktivität, deren Drehwinkel kleiner ist als der maximal mögliche des reinen Enantiomers. Aus dem Verhältnis des gemessenen Drehwinkels zum maximalen Drehwinkel des reinen Enantiomers ergibt sich der so genannte Enantiomerenüberschuss (EE - enantiomeric excess) dieses Enantiomerengemisches. Das ausgelieferte Medikament im Contergan-Fall war also ein Racemat.

Viele biologisch wichtige Substanzen sind chiral, nicht nur die kleineren Moleküle von Aminosäuren und Zuckern, sondern auch biologische Makromoleküle wie Enzyme oder Rezeptoren. Bei einigen Substanzklassen überwiegt oft ein Chiralitätssinn, so herrschen beispielsweise bei den natürlichen Aminosäuren die L-Form vor. Chiralität als Folge des räumlichen Baus von Molekülen hat entscheidende Bedeutung für das Funktionieren biologischer Systeme, die alle selbst chiral sind. So sind viele Enzymreaktionen auf ein Enantiomer, entweder das linksdrehende oder das rechtsdrehende, spezialisiert, die Reaktionsgeschwindigkeit mit dem spiegelbildlichen Enantiomer als Substrat ist dann deutlich geringer. Gar nicht so selten entfaltet das "falsche" Enantiomer auch eine völlig andere biologische Wirkung. Beispielsweise schmeckt bei einer bestimmten Verbindung das eine Enantiomer süß, während sein Partner bitter ist. Auch Wirkstoffe, zum Beispiel Arzneimittel können solche Effekte haben. Bei einigen Betablockern wirkt das eine Enantiomer selektiv auf das Herz, das andere an den Zellmembranen des Auges.

Zur Notation der Chiralität eignet sich besonders die Fischernomenklatur.


Literatur

  • Adam Sobanski, Roland Schmieder, Fritz Vögtle: Topologische Stereochemie und Chiralität. Chemie in unserer Zeit 34(3), S. 160 - 169 (2000), ISSN 0009-2851