Die Hindubewegung steht für den zusammenfassenden Namen für das unter den gebildeten Indern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Bestreben nach Fortschritt auf religiösem, sozialen und politischem Gebiet. Insbesondere verfolgte die Bewegung die Gleichstellung der Inder (den Hindu, Parsen, Mohammedanern usw., im engeren Sinne den Hindu allein) mit der seinerzeit herrschenden Klasse der Briten.
Solche Bestrebungen lassen sich bereits weit früher zurückverfolgen, insbesondere sind sie jedoch auf religiösem Gebiet entstanden.
Religiöse Bestrebungen
Der theistische Reformator Kabir (soviel wie "Führer") wirkte zwischen 1380 und 1420 und kam sowohl den Hindu als auch den Mohammedanern in gleicher Weise entgegen. Der Stifter der Sikh-Religion und der Sekte Nanakyanthis, Nanak Schah (oder Baba Nanak; * 1469) übernahm manche Lehren Kabirs in das heilige Buch der Sikh. Der tolerante Kaiser Akbar der Große (1556-1605) war der Stifter der Ilahi mazhab (der "göttlichen Religion") und des Sulh-e kull (des "friedlichen Zusammenlebens Aller").
Von besonderer Bedeutung war zwischenzeitlich die unter europäischem Einfluss um 1830 gestiftete montheistische Religionsform des Brahmasamadsch (nach bengalischer Aussprache "Brahmosomadsch". Hier bildeten sich verschiedene Parteien:
- der eher konservative Adi Brahmosomadsch unter Debendra Nath Tagors Nachfolger Radsch Narain Bos
- der ursprünglich mehr fortschrittliche "Brahmosomaj of India" des Keschab Chander Sen (seit 1866) und die durch dessen Initiative daraus hervorgegangene mehr mystische Bewegung "Neue Offenbarung" (new disüensation), einer Art Verschmelzung von [[Hinduismus, Islam und Christentum]
- seit Mai 1878 der mehr demokratische Sadharan Brahmosomadsch
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind in Indien zahlreiche Somadsch-Kirchen entstanden, bis Ende des Jahrhunderts etwa 170. Hier wurde die Abschaffung des Kastenwesens und der Polygamie gefordert und zu mehr Mäßigkeit aufgerufen.
Einfluss auf den Westen
Diese Bewegungen beeinflußten auf der anderen Seite auch wieder das europäische Geistesleben. Dies äußerte sich in der Gründung der Theosophischen Gesellschaft durch Helena Petrovna Blavatsky, die in England, Frankreich und Deutschland Anhänger fand. Ihr Schüler, der buddhistische Oberst Henry Steel Olcott verbreitete die Lehre auch in den USA. Sie bildet ein Gemisch aus der Philosophie des Buddhismus, der Mystik des Hinduismus und dem amerikanischen Spiritismus.
Soziale Bestrebungen
In engem Zusammenhang mit den religiösen Ansichten stehen die sozialen Bestrebungen, insbesondere im Brahmosomadsch. Wesentliche Punkte sind dabei:
- die Frauenfrage
- die Arbeiterfrage
Frauenfrage
Die Hindubewegung setzte mit Erfolg einige Verbesserungen für die Stellung der Frau durch. Zunächst forderte man die obligatorische Zivilehe, die Abschaffung der Kinderehe, die Einführung und Verbreitung des Unterrichts auch für Mädchen (insbesondere in eigenen Mädchenschulen), die Zulassung der Wiederverheiratung von Hindu-Witwen und die Hebung der äußerst schlechten sozialen Stellung dieser Witwen.
Am 22. März 1872 wurde tatsächlich ein Gesetz über die fakultative Zivilehe erlassen, der "Native Marriage Act", das alle vor dem Standesbeamten ("registrar") abgeschlossene Ehen für gültig erklärt, unabhängig von anschließenden religiösen Zeremonien; dies gilt auch für Angehörige unterschiedlicher Religionen und Kasten. Das Mindestalter des Bräutigams lag bei 18, das der Braut bei 14 Jahren. Es verlangt dann aber die schriftliche Zustimmung der Eltern Unmündiger zur Ehe. Bigamie wurde verboten, ebenso wie die Verheiratung von Blutsverwandten bestimmter Grade. Das Gesetz gestattete auch die Wiederverheiratung von Witwen.
Trotz dieses Gesetzes hingen die Hindus weiter an ihrer Sitte, Mädchen bereits im Alter von 8 bis 10 Jahren zu verheiraten.
Hinduwitwen zählen zu den allerniedrigsten Gliedern der Hindu-Gesellschaft. Sie werden von allen Hausangehörigen verächtlich behandelt außer von ihren Kindern, müssen an vielen Tagen des Jahres 24 Stunden total fasten und gelten als niedrigste Dienstmagd im Haus der Schwiegereltern. Ihr Los wurde dadurch bestimmt, daß sie sich nach der Sitte hätten mit ihrem toten Gatten verbrennen lassen sollen. Auf Betreiben der Hindubewegung fanden mehrere Konferenzen statt, die sich mit dem Los der Witwen beschäftigten und schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts zu einigen Erfolgen führten. Es bildeten sich Vereine zur Förderung der Witwenehen.
Arbeiterfrage
Bei der Kastenstruktur der Hindugesellschaft kann man von Arbeitern nur im ländlichen Raum sprechen, die Kleinbauern und Pächter (so genannte raijat, englisch verderbt zu "ryot") sind. Die Lage dieser Arbeiter war sehr elend und ist es in vielen Teilen des Landes auch heute noch.
Der Nationalkongress
Nachdem 1858 Großbritannien Indien aus der Hand der Britische Ostindien-Kompagnie nahm, bildete sich der Indische Nationalkongress aus Hindu, Moslems, Sikh, Parsi und anderen. Seine Ziele waren seinerzeit vor allem im politischen Bereich angesiedelt:
- Zulassung der Inder auch zu den höheren Stellungen in der Landesverwaltung
- vollständige soziale und politische Gleichstellung der Inder mit den Engländern
- Schaffung eines nationalen indischen Parlaments
Als dessen Vorläufer wurde von den Indern seinerzeit der Nationalkongress angesehen, zu dem seit 1885 jährlich einmal für etwa drei bis vier Tage 500 bis 1000 Delegierte zusammenkamen und in einem der größeren Städte des Landes tagten. Dabei beteiligten sich gelegentlich auch englische Parlamentarier.
Gegenstand der Beratungen waren unter anderen:
- Aufnahme von Einheimischen in den Council (den Rat, der den Gouverneuren in den verschiedenen Präsidentschaften zur Seite stand)
- stärkerer Einfluß des Council auf die Festsetzung des Etats
- Regelung der indischen Anleihen, Zölle und Steuern
- Regelung und Trennung des Verwaltungs- und Justizdienstes
- Einführung und Erweiterung von Schwurgerichten
- Verbesserung des Polizeiwesens
- Förderung des öffentlichen Unterrichtswesens
Diese Ziele wurden auch durch in England lebende Inder in der National Indian Association in London gefördert.
Aus dem Nationalkongress ist die spätere indische Kongresspartei entstanden.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war abzusehen, daß ein einheitlicher indischer Staat (das heutige Indien, Pakistan und Bangla Desh) alleine keinen Bestand haben würde, da sich Hinus und Moslems zu schroff gegenüberstünden. Dies wurde auch bei allen wichtigen Fragen in den Beratungen des indischen Nationalkongresses deutlich.