Homosexualität bzw. gleichgeschlechtliche romantische Liebe oder sexuelles Begehren ist in Japan aus alten Zeiten überliefert und wird auch heute wie in nur wenigen Ländern der Welt toleriert. In früheren Zeiten wurde Liebe zwischen Männern sogar als die reinste Form der Liebe überhaupt betrachtet. Zu keiner Zeit wurde Homosexualität in der japanischen Gesellschaft und Religion als eine Sünde angesehen; noch gab oder gibt es Gesetze gegen Homosexualität. Jedoch hat die moderne Sexualwissenschaft und der Wunsch, "zivilisiert" zu erscheinen, auch in Japan die Auffassungen von gleichgeschlechtlicher Liebe beeinflusst.

Begriffswandel
Ursprünglich waren Shudo, Wakashudo und Nanshoku die bevorzugten Termini. Gegenwärtig sind Dōseiai (同性愛) – Anfang des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an das deutsche Wort Homosexualität geprägt – und davon abgeleitet Dōseiaisha (wörtlich: "gleichgeschlechtlich liebende Person") neben dem englischen Fremdwort Gay die einzigen verfügbaren Begriffe geworden.
Der Ausdruck Gay wird fast nie benutzt, wenn antike und historische Quellen diskutiert werden, weil das Wort mit modernen, westlichen und politischen Konnotationen befrachtet ist und eine besondere Identität nahelegt – eine, mit der sich sogar die Homosexuellen im modernen Japan nicht unbedingt identifizieren mögen.
Vergleiche mit dem Westen
Anders als im Westen betrachtete man in Japan Sex nicht in moralischen Begriffen, sondern vielmehr in solchen des Vergnügens, des gesellschaftlichen Status und der sozialen Verantwortung. Obgleich sich sonst viel verändert hat, trifft diese Aussage größtenteils auch heute noch zu. Jedoch wurde im alten im Unterschied zum modernen Japan nur der Geschlechtsakt als "homosexuell" oder "heterosexuell" betrachtet, nicht die Menschen, die ihn vollziehen. Darin zeigt sich eine wesentliche Veränderung, die einer Anpassung an westliche Vorstellungen entspricht.
Das moderne Japan
Die japanische Sexualmoral ist weltweit eine der offensten überhaupt. Den meisten Japanern sind Mitmenschen, einschließlich ihres Sexuallebens, völlig gleichgültig. Die Offenheit der japanischen Gesellschaft gegenüber Homosexualität entspringt also nicht unbedingt einer besonders liberalen, durchdachten Aufgeklärtheit, sondern eher einer allgemeinen Indifferenz.
Aber genau deswegen haben auch Schwule und Lesben in Japan keine Probleme, nach "ihrer Facon glücklich zu werden". Während der Kampf mit der eigenen (Homo)Sexualität Ursache Nummer zwei für Selbstmord unter Jugendlichen in westlichen Ländern ist, scheinen solche Probleme hier unbekannt zu sein. Auch Schwulen-Bashing kommt überhaupt nicht vor.
Schwule werden in der Gesellschaft allerdings oft einseitig auf ein Tuntenimage reduziert, so sehr, dass bei okama (jap. オカマ), eines der Alltagswörter für "schwul" auch immer gleich das Bild einer Tunte mitschwingt. Ein Hauptgrund ist sicher, dass Tunten mit ihrer Kleidung und Gehabe allgemein als kawaii ("putzig") gelten, was in dieser von Kritikern oft als infantilisiert beschriebenen Gesellschaft ein positives Urteil darstellt. Mehrere Tarentos im japanischen Fernsehen sind offen schwul; alle tendieren zur Tuntenhaftigkeit.
Das größte und einzig explizite Schwulenviertel Japans ist Shinjuku ni-chome in Tokio (siehe dort für Besonderheiten des schwulen Nachtlebens).
Anime und Manga
Viele Anime und Manga enthalten schwule Inhalte, die Shōnen Ai, Boys Love, BL oder JUNE genannt werden, wenn sie eher zu romantischen, und Yaoi, wenn sie eher zu sexuellen Motiven tendieren. Sie werden primär an weibliche Kundinnen vermarktet, die von Schulmädchen bis zu Hausfrauen reichen, und fallen in Buchhandlungen nicht weiter auf. Lesbische Inhalte sind weit weniger verbreitet und sind unter dem Sammelbegriff Yuri bekannt.
Einige Manga sprechen unverhohlen lüsterne Interessen an und zielen direkt auf den schwulen Markt. Sie sind jedoch meist nur in speziellen Geschäften zu finden.
Das alte Japan
Obwohl ab dem 4. Jahrhundert ein vereinigtes Japan existierte, beginnt die schriftliche Überlieferung erst mit den Kojiki (古事記) oder Aufzeichnungen alter Geschehnisse [1], welche im frühen 7. Jahrhundert zusammengestellt wurden. Während chinesische Quellen bereits im 6. Jahrhundert homosexuelle Bezugnahmen enthalten, beginnen ähnliche Referenzen in Japan erst im 10. Jahrhundert aufzutauchen. Diese Stellen scheinen, zumindest anfangs, dem chinesischen Beispiel zu folgen.
Chinesische Herkunft der Nanshoku-Tradition
Der Begriff Nanshoku (男色) ist die japanische Lesart der chinesischen Zeichen für "männliche Farben". Das Zeichen 色 bedeutet in Japan und China noch immer "sexuelles Vergnügen".
Im alten Japan war Nanshoku als Wort für gleichgeschlechtlichen Sex unter Männern weit verbreitet. Laut Gary P. Leupp assoziierten die Japaner Nanshoku mit China, dem Land, dessen Kultur die Basis eines Großteils der japanischen Hochkultur einschließlich des Schriftsystems Kanji wurde. Die japanische Nanshoku-Tradition zehrte in hohem Maße von der chinesischen und in begrenztem Umfang von der Koreas.
Soziale Milieus der Nanshoku-Tradition
Klöster
Buddhistische Klöster scheinen im alten Japan bereits früh Zentren homosexueller Aktivität gewesen zu sein. Der Volksmund schreibt Kukai, dem Gründer der buddhistischen Shingon-Sekte, zu, Nanshoku in Japan eingeführt zu haben, nachdem er im 9. Jahrhundert aus dem China der T'ang-Dynastie zurückgekehrt war. Jedoch erörtert er dieses Thema in keinem seiner größeren Werke. Es sollte auch angemerkt werden, dass die Vinaya, die klösterliche Disziplin, jede sexuelle Aktivität ausdrücklich verbot; und Kukai war ein enthusiastischer Unterstützer der Vinaya. Gleichzeitig wurde jedoch der Berg Koya, der Sitz von Kukais Kloster, zum Beinamen für gleichgeschlechtliche Liebe.
Hingegen enthalten weder Shinto noch die japanische Lesart des Konfuzianismus irgendwelche Verbote. Genügend Mönche scheinen der Ansicht gewesen zu sein, dass ihr Keuschheitsgelübde sich nicht auf gleichgeschlechtliche Beziehungen erstreckte, so dass Geschichten, die von den Affären zwischen Mönchen und jungen Akolyten erzählen, unter dem Namen Chigo Monogatari relativ populär waren. Solche Affären wurden milde bespöttelt, solange die Leidenschaften nicht bis zu körperlicher Gewalt eskalierten, was durchaus nicht ungewöhnlich war. Jesuiten berichteten entsetzt über die Verbreitung der "Sodomie" unter buddhistischen Mönchen.
Militär
Aus den religiösen Kreisen breitete sich die gleichgeschlechtliche Liebe in die Kriegerklasse aus, in der es für einen jungen Samurai üblich war, bei einem älteren und erfahreneren Mann in die Lehre zu gehen. Für eine Anzahl von Jahren wurde er dessen Geliebter. Diese Praktik war als Shudo bekannt, die Sitte der Jungen, und stand in der Kriegerklasse in hohem Ansehen.
Mittelschichten
Als die japanische Gesellschaft weniger kriegerisch wurde, übernahmen die Mittelschichten viele der Praktiken aus der Kriegerklasse. Im Fall von Shudo gaben sie dieser Sitte einen kommerzielleren Anstrich. Junge Kabuki-Schauspieler, bekannt unter dem Namen Kagema, wurden zum letzten Schrei. Sie waren ähnlich prominent wie heutige Medienstars und standen in hoher Nachfrage bei wohlhabenden Mäzenen, die um ihre Gunst wetteiferten. [2]
Gleichgeschlechtliche Liebe in der Kunst
Auch in der japanischen Druckgrafik finden sich unter den Ukiyo-e (Bilder der fließenden Welt) und den erotischen Shunga (Bilder des Frühlings) viele Darstellungen von Homosexualität. Einige der größten Künstler wie Katsushika Hokusai und Andō Hiroshige rühmten sich, die gleichgeschlechtliche Liebe dargestellt zu haben. [3]
Gleichgeschlechtliche Liebe in der Literatur
Alte japanische Quellen enthalten viele verdeckte Anspielungen auf gleichgeschlechtliche Liebe, die oft jedoch so subtil sind, dass sie nicht zweifelsfrei zu deuten sind. Denn Bekundungen der Zuneigung unter befreundeten Männern waren allgemein üblich und entsprachen den damaligen Konventionen.
Nichtsdestoweniger gibt es auch eindeutige Stellen, die in der Heian-Periode zahlreicher werden. In Genji Monogatari (源氏物語, Die Geschichte vom Prinzen Genji) aus dem frühen 11. Jahrhundert lassen sich Männer häufig von der Schönheit eines Knaben rühren. In einer Szene wird der Held von einer Dame zurückgewiesen und schläft stattdessen mit ihrem Bruder:
- „"Genji zog den Jungen an seine Seite herab. […] Genji seinerseits fand, so sagt man, den Jungen attraktiver als seine kühle Schwester.”
Die Geschichte vom Prinzen Genji ist ein Roman (oft als der erste der Welt angesehen), aber es gibt auch mehrere Tagebücher aus der Heian-Zeit, die Bezüge auf homosexuelle Handlungen enthalten. Einige von ihnen verweisen auch auf Kaiser, die in homosexuelle Beziehungen involviert waren, sowie auf „schöne Knaben”, die den Kaisern „für sexuelle Zwecke vorbehalten” waren. In anderen literarischen Werken finden sich Hinweise auf das, was Leupp „Probleme der Geschlechtsidentität” genannt hat, wie etwa die Geschichte eines Jungen, der sich in ein Mädchen verliebt, das in Wirklichkeit ein verkleideter Junge ist.
Homosexuelle Beziehungen waren auch in späteren Jahrhunderten der Stoff für zahllose Werke, die meist noch nicht in westliche Sprachen übersetzt sind.
Literatur
- Gary P. Leupp: Male Colors : The Construction of Homosexuality in Tokugawa Japan. Los Angeles, California, 1997. ISBN 0-520-08627-9
- Nicholas Bornoff: Pink Samurai : Love, Marriage & Sex in Contemporary Japan. New York 1991. ISBN 0-671-74265-5
Weblinks
- The Way of the Samurai
- The "Beautiful Way" of the Samurai
- Gender and sexuality in Japanese Anime
- Male Homosexuality and Popular Culture in Modern Japan
- Homosexuality in the Japanese Buddhist Tradition
- Bibliography of Gay and Lesbian History
Siehe auch: Homosexualität in China