Der Jäger Gracchus ist eine fragmentarische Erzählung von Franz Kafka, die 1917 entstand und posthum veröffentlicht wurde. Sie beschreibt einen Toten, der nicht zur Ruhe kommen kann.
Inhalt
In dem südlichen Ort Riva am See kommt im Hafen eine Barke an. Eine Bahre mit einem Menschen darauf wird heraus getragen und in einem Haus, anscheinend Schule oder Knabeninternat, in ein Zimmer gebracht. Der Bürgermeister von Riva tritt auf und begibt sich dort hin. Der Mann auf der Bahre schlägt die Augen auf. Er sagt, dass er der tote Jäger Gracchus sei, der in Deutschland im Schwarzwald tödlich abstürzte, als er eine Gämse verfolgte. Er kann aber nicht im Totenreich ankommen. Sein Todeskahn verfehlte die Fahrt, vielleicht durch die Unachtsamkeit des Bootsmannes. Dem Jäger Gracchus wäre der Tod sehr willkommen gewesen, aber er muss immer weiter durch die Welt segeln. Der Bürgermeister fragt nach der Schuld an dem Ganzen und auch, ob der Jäger in Riva bleiben wolle. Gracchus beantwortet beides nur vage. Sein letzter Satz lautet: „Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.“
Hintergrund
Kafka hielt sich 1909 und 1913 in Riva am Gardasee auf, dem Vorbild für den idyllischen Ort der vorliegenden Erzählung [1].
Neben diesem Text gibt es noch weitere Texte zum Thema. Es gibt einen Monolog des Gracchus und ein Gespräch mit einem unwissenden Menschen, der die nun 1500 Jahre zurückliegende Gracchus-Geschichte gar nicht kennt.
Ein Bezug des Namens Gracchus zu seinen Namensvettern aus der römischen Geschichte, den Volktribunen, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Die lateinische Bedeutung „der Gnadenreiche“ wird hier auf jemanden angewendet, dem ausdrücklich die Gnade des ersehnten Todes versagt wird.
Kafka hat dabei wohl eher an das Wort "gracchio", das im Italienischen "Dohle " heißt (im Tschechischen Kavka = Dohle), erinnern wollen und so seine Identifizierung mit der Gestalt dieses Jägers deutlich gemacht [2].
Deutungsvarianten
Zunächst assoziiert die Ankunft der Barke das Heine-Gedicht „Eine schwarze, starke Barke segelt trauervoll dahin...“. Aber hier kommt kein Toter, auch kein als Vampir zum Weiterleben Verurteilter. Gracchus befindet sich in einem permanenten Übergangsstadium und ist in einem Mahlstrom einer endlosen Existenz eingeschlossen [3]. Der Bürgermeister von Riva stellt die Frage nach einer Schuld als Ursache für dieses quälende Dasein. Gracchus ist sich anscheinend keiner Schuld bewusst. Die wohl zufällige Fahrtenirritation des Bootsmannes kann kaum die wirkliche Begründung sein.
Die letzte Aktion des Gracchus, der eigentlich Wölfe jagen sollte, war die Verfolgung einer Gämse, die ihn gelockt hatte. Handelte es sich übertragen formuliert um eine weibliche Verlockung? Sein Leichentuch ist ein bunter blumengemusterter Frauenschal! Nun bekommt auch folgender Ausspruch des Gracchus Sinn: „Der Grundfehler meines einstmaligen Sterbens umgrinst mich in meiner Kajüte, Julia, die Frau des Bootsführers, klopft und bringt mir das Morgengetränk...“ Hat also der rauhe Naturbursche Schuld auf sich geladen im Zusammenhang mit Sexualität und Weiblichkeit?
Gracchus lehnt sich nicht auf gegen sein Schicksal, er weiß er kann nichts tun. Zwar lenken Winde „aus den untersten Regionen des Todes“ seinen Kahn, aber sie lenken nicht in den erlösenden Tod.
Biografische Deutung
Kafka empfand sich in jeder Hinsicht isoliert. Er war als deutschsprachiger Jude im tschechischen Prag Angehöriger einer Minderheit. Er fühlte sich seiner Familie nicht zugehörig, war von seinem Wesen her viel mehr ein Löwy, als ein Kafka. Auch hier muss der der oft angesprochene Vater-Sohn-Konflikt herangezogen werden. Kafkas Vater wollte seinen Sohn zu einem starken, durchsetzungsfähigen Mann nach seinem Vorbild erziehen; diesen Ansprüchen konnte Kafka jedoch sein Leben lang nicht genügen, was unter anderem ein Grund für den massiven Konflikt zu seinem Vater (siehe: Brief an den Vater) gewesen sein dürfte. Kafka fühlte sich also in keiner Welt richtig wohl und konnte sich nicht als Mann in den Augen seines Vaters fühlen. Genau dieser Konflikt spiegelt sich im Jäger Gracchus wider. Als Symbol für Kafkas Heimatlosigkeit erscheint hier der Jäger, der weder in die eine Welt zurückkehren kann, noch in die andere einzutreten vermag. Die Geschichte assoziiert Kafkas Status als ewiger Sohn zu einem Zeitpunkt, als er längst das Mannesalter erreicht hat bei gleichzeitiger Unfähigkeit in die üblichen Pflichten und Rechte eines Erwachsenen hinein zu wachsen.
Außerdem wird die Strafwürdigkeit des sexuellen Erlebens angedeutet, die ein Merkmal der Zeit war und die in der Angst vor Geschlechtskrankheiten (Hinfälligkeit des Gracchus) und religiös bedingten Repressalien ihren Ausdruck fand.
Es ist auch ein Bezug zu Kafkas Schaffen zu sehen. Er hat in seinen Werken fast immer um Annäherung an die letzten Dinge und um Fertigstellung und Abschluss seiner Schriften gerungen; meist ist er daran gescheitert. Er befand sich schriftstellerisch sozusagen in der Rolle des nicht zu einem Ende findenden Gracchus [4].
Quellen
- Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Frankfurt am Main und Hamburg: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1970, ISBN 3-596-21078-X.
- Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Verlag C.H. Beck München 2005 ISBN 3-406-53441-4
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: Verlag C.H. Beck, 2005, ISBN 3-406-53441-4. S. 567
- ↑ siehe v.g. S. 569
- ↑ siehe v.g. S. 569
- ↑ siehe v.g. S. 568