Differential (Mathematik)

linearer Anteil des Zuwachses einer Variablen oder einer Funktion
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 27. Oktober 2008 um 00:46 Uhr durch 77.187.92.121 (Diskussion) (Ähnlichkeit). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Historisch war der Begriff des Differentials bzw. Differenzials im 17. und 18. Jahrhundert der Kern der Entwicklung der Differentialrechnung. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Analysis durch Augustin Louis Cauchy und Karl Weierstrass auf der Grundlage des Grenzwertbegriffes mathematisch korrekt neu aufgebaut, und der Begriff des Differentials verlor an Bedeutung. Heute taucht die Differentialschreibweise noch in folgenden Begriffsbildungen auf:

Lediglich im Kontext der letzten beiden Begriffsbildungen hat die Schreibweise eine eigenständige Bedeutung.

  • in der Physik wird die Schreibweise oft abgekürzt.
  • In der historischen Bedeutung des Differentials des 17. bis beginnenden 19. Jahrhunderts, ist der Begriff des Differentials eine endliche Zahlgröße.

Der Differentialquotient

In der Physik kann man mit dem Begriff der Momentangeschwindigkeit das Differential anschaulich machen: Wird beispielsweise ein fallender Körper immer schneller, so muss man zur Definition seiner momentanen Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt möglichst kleine Zeitintervalle   betrachten und die entsprechend zurückgelegte Wegstrecke   messen. Das sind dann eigentlich die Differenzen   und  . Im Idealfall sind beide Differenzen „unendlich klein“, aber ihr „Quotient“

 

ist die Momentangeschwindigkeit und kann als Verhältnis endlicher Größen   und   geschrieben werden.

Genau dasselbe Problem tritt auf, wenn man die Steigung der Tangente an einen Funktionsgraphen bestimmen will: sie ist der Quotient aus der „unendlich kleinen“ Änderung  , die der Funktionswert erfährt, und der „unendlich kleinen“ Änderung   des Argumentes, dessen Verhältnis mit den endlichen (festen) Größen   und   wiedergegeben werden kann.

Die moderne, präzise Fassung dieses Begriffes ist der Grenzwert des Differenzenquotienten

 

Das Differential des Differentialquotienten

Für eine in einem Intervall differenzierbare Funktion   ist die Differenz zwischen Differenzen- und Differentialquotient an der Stelle   eine Funktion   von  .

Aus   ergibt sich der Funktionszuwachs

 .

Er besteht aus einem in   linearen Anteil  , der von der gleichen Ordnung wie   gegen Null konvergiert, und aus einem Anteil  , der für   von höherer Ordnung als   gegen Null konvergiert. Den linearen Anteil des Zuwachses   bezeichnet man als Differential der Funktion an der Stelle   und schreibt dafür  . Die Größe   heißt Differential der unabhängigen Variablen. Also   ist festgehalten.

Differential der Funktion   an der Stelle   :  .

Differentiale in der Integralrechnung

Um den Flächeninhalt eines Bereiches zu berechnen, der von dem Graphen einer Funktion  , der  -Achse und zwei dazu senkrechten Geraden   und   eingeschlossen wird, unterteilte man die Fläche in „unendlich schmale“ Rechtecke der Breite   und der Höhe  . Ihr jeweiliger Flächeninhalt ist das „Produkt“

 ,

der gesamte Flächeninhalt also die Summe

 

wobei hier   wieder eine endliche Größe ist, die einer Unterteilung des Intervals   entspricht. Siehe genauer: Mittelwertsatz der Integralrechnung. Es gibt im Intervall   einen festen Wert   dessen Funktionswert multipliziert mit der Summe der endlichen   des Intervalls   den Wert des Integrals wiedergibt:

 

Das Differential des Integrals

Das Differential ist wesentlicher Bestandteil der symbolischen Notation von Integralen und heißt dort Integrationsvariable.

Das Differential   hinter dem Integral

 

bezeichnet ein Intervall innerhalb einer Unterteilung von   (dem Integrationsintervall). Das Gesamtintervall   des Integrals muss nicht gleichmäßig unterteilt sein. Die Differentiale an den unterschiedlichen Unterteilungsstellen können verschieden groß gewählt sein, die Wahl der Unterteilung des Integrationsintervalls hängt oft von der Art des Integrationsproblems ab. Zusammen mit dem Funktionswert innerhalb des „differentiellen“ Intervalls (beziehungsweise dem Maximal- oder Minimalwert darinnen entsprechend Ober- und Untersumme) bildet sich eine Flächengröße; man macht den Grenzwertübergang in dem Sinne, dass man die Unterteilung von   immer feiner wählt. Das Integral ist eine Definition für eine Fläche mit Begrenzung durch ein Kurvenstück.

Historisches

Das erste Symbol ist ein stilisiertes S für „Summe“. Leibniz verwendet es das erste Mal in der handschriftlichen Abhandlung Analysis tetragonistica von 1675. „Utile erit scribi   pro omnia“ (Es wird nützlich sein   anstatt omnia zu schreiben). Omnia steht dabei für omnia l und wird in dem geometrisch orientierten Flächenberechnungsverfahren von Bonaventura Cavalieri verwendet. Die zugehörige gedruckte Veröffentlichung Leibniz' ist De geometria recondita von 1686, und die Bezeichnungsweise war notwendig, ebenso wie das vorherige   in   umzuwandeln, um die Rechnung kalkülmäßig einfach und zwangsläufig zu machen.[1]

Es kommt im totalen Differential in der erweiterten Differentialrechnung wieder eine "echte" Summe  , dem griechischen Zeichen für S, verbunden mit Differentialen in verschiedenen Zusammenhängen vor.

In der modernen Fassung dieses Zugangs zur Integralrechnung nach Bernhard Riemann ist das „Integral“ ein Grenzwert der Flächeninhalte endlich vieler Rechtecke endlicher Breite für immer feinere Unterteilungen des „ -Bereichs“.

Differentialformen

Differentialformen fassen die folgende Überlegung in eine mathematische Form: Wie schnell sich der Wert einer Funktion   ändert, hängt davon ab, wie schnell sich das Argument ändert. Eine Differentialform   ist also etwas, das ausgehend von einer Änderungsrate   des Arguments (einem Tangentialvektor) angibt, wie rasch sich die Werte von   ändern, wenn man sich so schnell und in die Richtung bewegt, wie   angibt.

In diesem Kontext ist beispielsweise auch die Gleichung

 

korrekt.

Formal gesehen ist dies nichts anderes als der Begriff der Totalableitung, aber die Sichtweise ist eine andere.

Kähler-Differentiale

Aus der Beobachtung der Differentialgeometrie heraus, dass Tangentialvektoren Derivationen des Raumes der differenzierbaren Funktionen auf einer Mannigfaltigkeit sind, entwickelte sich der Begriff der Kähler-Differentiale: Differentiale werden hier darüber definiert, „dual“ zu den Derivationen zu sein.

Ordnung der Differentiale

 
Das Differential   bei festgehaltenem  

Die Differentiale lassen sich auch einfach und übersichtlich in ihrer Ordnung darstellen, jedoch unterschiedlich nach ihrer Abhängigkeit. So steht   für das Differential zweiter Ordnung (entsprechend zweiter Ableitung) der unabhängigen Variable und bedeutet   und   (auch als   und   geschrieben) für das Differential zweiter Ordnung der abhängigen Variable, das nicht das Quadrat des Differentials   ist, sondern das aus einem Differential erneut gebildete Differential. Für dieses Differential gelten die unten angegebenen Rechenregeln.

Erklärung des Differentials zweiter Ordnung  

Denkt man sich jetzt   irgendwie gewählt, und zwar denselben Wert   für verschiedene  , also   festgehalten, so wird   eine Funktion von   und man kann von ihr wieder ein Differential bilden (s. Abb).

Man kann für   dann formal schreiben: Für   und   derselbe Wert für verschiedene  , ist diese Größe der lineare Anteil des Zuwachses  , das heißt es wird  . Für höhere Ableitungen gilt dies respektive: Z. B.  

Historisches

Blaise Pascals Betrachtungen zum Viertelkreisbogen: Quarts de Cercle

 
Das charakteristische Dreieck

Als Gottfried Wilhelm Leibniz als junger Mann 1673 in Paris war, empfing er eine entscheidende Anregung durch eine Betrachtung Pascals in dessen 1659 erschienener Schrift Traité des sinus des quarts de cercle (Abhandlung über den Sinus des Viertelkreises). Er sagt, er habe darin ein Licht gesehen, das der Autor nicht bemerkt habe. Es handelt sich um folgendes (mit modernen Zeichen geschrieben, siehe Abbildung): Um das statische Moment

 

des Viertelkreisbogens bezüglich der x- Achse zu bestimmen[2], schließt Pascal aus der Ähnlichkeit der Dreiecke

 

und

 ,

dass sich verhalten

 ,

also

 ,

so dass

  [3][4]

Leibniz bemerkte nun - und dies war das „Licht“, das er sah - , dass dieses Verfahren nicht auf den Kreis beschränkt ist, sondern allgemein für jede (glatte) Kurve gilt, sofern der Kreisradius a durch die Länge der Kurvennormalen (die reziproke Krümmung, der Radius des Krümmungskreises) ersetzt wird. Das infinitesimale Dreieck

 

ist das berühmte "charakteristische Dreieck". Es ist sehr bemerkenswert, dass die spätere Leibniz'sche Symbolik der Differentialrechnung (dx, dy, ds) gerade dem Standpunkt dieser „verbesserten Indivisibilienvorstellung“ entspricht.[5]

Ähnlichkeit

Alle Dreiecke aus einem Abschnitt   der Tangente zusammen mit den zur jeweiligen x-und y-Achse parallelen Stücken   und   bilden mit dem Dreieck aus Krümmungskreisradius a, Subnormaler   und Ordinate y ähnliche Dreiecke und behalten deren Verhältnisse entsprechend der Steigung der Tangente an den Krümmungskreis in diesem Punkt auch bei, wenn der Grenzwertübergang gemacht wird. Das Verhältnis von   ist ja genau die Steigung von  . Deshalb kann man für jeden Krümmungskreis an einem Punkt der Kurve dessen (charakteristische) Proportionen im Koordinatensystem auf die Differentiale dort übertragen, insbesondere wenn sie als infinitesimale Größen aufgefasst werden.[6]

acta eruditorum

Neue Methode der Maxima, Minima sowie der Tangenten, die sich weder an gebrochenen, noch an irrationalen Größen stößt, und eine eigentümliche darauf bezügliche Rechnungsart. (acta eruditorum 1684)
 
Figur aus acta eruditorum 1684. Nur die große Figur rechts wird hier beschrieben
 
Erste Seite nach der Widmung mit Titel und Inhalt

Gegeben sei eine Achse   und mehrere Kurven wie  . Ihre zur Achse senkrechten Ordinaten,   mögen bezüglich   heißen. Der Abschnitt   auf der Achse möge   heißen.   seien die Tangenten und   ihre bezüglichen Schnittpunkte mit der Achse. Nun wähle man nach Belieben eine Strecke und nenne sie  . Dann soll diejenige Strecke welche sich zu   verhält wie   (oder   oder   oder  ) zu   (oder   oder   oder  ) mit   (oder   oder   oder  ) bezeichnet werden und Differenz der   (oder   oder   oder  ) heißen. Nach diesen Festsetzungen werden die Rechenregeln folgende sein.

Wenn   eine gegebene konstante Größe ist, so wird da gleich 0 und   gleich  . Wenn   gleich   ist (d. h. jede Ordinate der Kurve   gleich der entsprechenden Ordinate der Kurve  ), so wird   gleich  . Nun Addition und Subtraktion: Wenn   gleich   ist, so wird   oder   gleich  . Multiplikation:   ist gleich  , das heißt wenn man   gleich   setzt, so wird   gleich  . Es ist nämlich gleichgültig, ob man den Ausdruck   oder als Abkürzung dafür den Buchstaben   anwendet. Zu beachten ist, dass bei dieser Rechnung   und   in derselben Weise behandelt werden wie   und   oder ein anderer unbestimmter Buchstabe mit seinem Differential. Zu beachten ist auch, dass es nur mit einer gewissen Vorsicht eine Rückkehr von der Differentialgleichung gibt: darüber werden wir an einer anderen Stelle reden. Nun zur Division  oder (wenn   gleich   gesetzt wird)   ist gleich  . Was die Zeichen anbetrifft so ist folgendes wohl zu beachten. Wenn bei der Rechnung für einen Buchstaben einfach sein Differential eingesetzt wird, so werden dieselben Zeichen beibehalten, und für   wird  , für   wird   geschrieben, wie aus der eben vorhin behandelten Addition und Subtraktion erhellt. Schreitet man aber zur Entwicklung der Werte, das heißt betrachtet man die Beziehung von   zu  , dann kommt es zum Vorschein, ob der Wert von   eine positive Größe ist oder kleiner als Null, das heißt negativ. Tritt der letztere Fall ein, dann wird die Tangente   vom Punkte   aus nicht nach   hin gezogen, sondern in der entgegengesetzten Richtung, die von   nach unten weist; dies findet statt, wenn die Ordinaten   mit zunehmenden   abnehmen. Und da die Ordinaten   bald zunehmen, bald abnehmen, so wird   bald positiv, bald negativ sein. Im ersten falle wird die Tangente V1B1 nach   hin, im zweiten V2B2 nach der entgegengesetzten Seite gezogen. Keins von beiden gilt aber an der Zwischenstelle  , in dem Augenblick, wo die   weder zunehmen noch abnehmen, sondern im Stillstand begriffen sind.   wird alsdann gleich 0, und es kommt nicht darauf an, ob die Größe positiv oder negativ ist; denn   ist gleich  . An dieser Stelle ist  , das heißt die Ordinate  , ein Maximum (oder, wenn die konvexe Seite der Achse zugekehrt ist ein Minimum), und die Tangente der Kurve in   wird weder in der Richtung von   nach   hinauf gezogen, um sich der Achse zu nähern, noch auch in der entgegengesetzten Richtung, die von   nach unten weist; sie ist vielmehr parallel zur Achse. Wenn   in bezug auf   unendlich ist, dann steht die Tangente senkrecht auf der Achse, das heißt sie ist Ordinate. Wenn   und   gleich sind, so bildet die Tangente mit der Achse einen halben rechten Winkel. Wenn bei zunehmenden Ordinaten auch ihre Inkremente oder Differenzen dv zunehmen (d. h. wenn bei positiv gesetztem   auch die  , die Differenzen der Differenzen, positiv sind oder bei negativ gesetztem   auch die   negativ), so kehrt die Kurve der Achse ihre konvexe Seite, sonst ihre konkave Seite zu. Wo aber das Inkrement ein Maximum oder Minimum ist, also die Inkremente aus abnehmenden zunehmende werden oder umgekehrt, da ist ein Wendepunkt, und Konkavität und Konvexität vertauschen sich, vorausgesetzt, dass nicht auch die Ordinaten dort aus zunehmenden abnehmende werden oder umgekehrt; dann würde nämlich die Konkavität oder Konvexität bleiben. Dass aber die Inkremente fortfahren zuzunehmen oder abzunehmen, die Ordinaten jedoch aus zunehmenden abnehmende werden oder umgekehrt, das ist unmöglich. (hier irrt sich Leibniz) Ein Wendepunkt ist daher vorhanden, wenn weder  , noch   gleich 0 ist, wohl aber ddv gleich 0. Deshalb hat auch das Problem   es Wendepunktes nicht wie das Problem des Maximums zwei, sondern gleich drei Wurzeln. Dies alles hängt vom richtigen Gebrauch der Zeichen ab.

Manchmal aber sind, wie vorhin bei der Division, zweideutige Zeichen anzuwenden, bevor es nämlich feststeht, wie sie entwickelt werden sollen. Und zwar müssen, wenn mit zunehmenden   die  zunehmen (abnehmen), die zweideutigen Zeichen   in, das heißt in   so entwickelt werden, dass dieser Bruch eine positive (negative) Größe wird. Es bedeutet aber   das Entgegengesetzte von  , so dass, wenn dieses + ist, jenes − oder umgekehrt. Es können auch in derselben Rechnung mehrere Zweideutigkeiten vorkommen, die ich durch Klammern unterscheide. Wenn z. B.

 

wäre, so würde sein

 

sein, damit nicht die von den verschiedenen Gliedern herrührenden Zweideutigkeiten vermischt werden. Dabei ist zu beachten, dass ein zweideutiges Zeichen mit sich selbst + gibt, mit seinem entgegengesetzten −, während es mit anderen eine neue Zweideutigkeit bildet, die von beiden abhängt. Potenzen:

 

Z. B. ist

 


 

Z. B. wird, wenn

 

ist,

 

Wurzeln:

 

(Hieraus folgt

 

denn a ist in diesem Falle 1, und b ist 2, also

 

gleich

 

nun ist   dasselbe wie   nach der Natur der Exponenten einer geometrischen Reihe, und   ist   )

 [8]

Es hätte aber die Regel der ganzen Potenz genügt, um sowohl die Brüche als auch die Wurzeln zu erledigen; denn eine Potenz wird ein Bruch, wenn der Exponent negativ ist, und sie verwandelt sich in eine Wurzel, wenn der Exponent gebrochen ist. Ich habe aber jene Folgerungen lieber selbst gezogen, als sie anderen zu ziehen überlassen, da sie sehr allgemein sind und häufig vorkommen. Auch ist es bei einer an sich verwickelten Sache besser, für Leichtigkeit zu sorgen. Kennt man, wenn ich so sagen soll, den obigen Algorithmus dieses Kalküls, den ich Differentialrechnung nenne, so lassen sich alle anderen Differentialgleichungen durch ein gemeinsames Rechnungsverfahren finden, es lassen sich die Maxima und Minima sowie die Tangenten erhalten, ohne dass es dabei nötig ist, Brüche oder Irrationalitäten oder andere Verwicklungen zu beseitigen, was nach den bisher bekannt gegebenen Methoden doch geschehen musste, Der Beweis alles dessen wird für einen in diesen Dingen Erfahrenen leicht sein, wenn er nur den bisher nicht genug erwogenen Umstand beachtet, dass man   als proportional zu den augenblicklichen Differenzen, das heißt Inkrementen oder Dekrementen der   (eines jeden in seiner Reihe) betrachten kann. So kommt es, dass man zu jeder vorgelegten Gleichung ihre Differentialgleichung aufschreiben kann. Dies geschieht indem man für jedes Glied (d. h. jeden Bestandteil, der durch bloße Addition oder Subtraktion zur Herstellung der Gleichung beiträgt) einfach das Differential des Gliedes einsetzt, für eine andere Größe jedoch (die nicht selbst ein Glied ist, sondern zur Bildung eines Gliedes beiträgt) ihr Differential anwendet, um das Differential des Gliedes selbst zu bilden, und zwar nicht ohne weiteres,sondern nach dem oben vorgeschriebenen Algorithmus. Die bisher bekannt gemachten Methoden haben aber einen solchen Übergang nicht. Sie wenden nämlich meistens eine Strecke wie   oder eine andere von dieser Art an, nicht aber die Stecke  , die die vierte Proportionale zu   ist, und dadurch wird alles verwirrt. Daher schreiben sie vor, dass Brüche und Irrationalitäten (worin Unbestimmte vorkommen) zuvor beseitigt werden. Es ist auch klar, dass unsere Methode die transzendenten Linien beherrscht, die sich nicht auf die algebraische Rechnung zurückführen lassen oder von keinem bestimmten Grade sind, und zwar gilt das ganz allgemein, ohne besondere nicht immer zutreffende Voraussetzungen, Man muss nur ein für allemal festhalten, dass eine Tangente zu finden so viel ist wie eine Gerade zeichnen, die zwei Kurvenpunkte mit unendlich kleiner Entfernung verbindet, oder eine verlängerte Seite des undendlicheckigen Polygons, welches für uns mit der Kurve gleichbedeutend ist. Jene unendlich kleine Entfernung lässt sich aber immer durch irgendein bekanntes Differential, wie  , oder durch eine Beziehung zu demselben ausdrücken, das heißt durch eine gewisse bekannte Tangente. Wäre insbesondere   eine transzendente Größe, zum Beispiel die Ordinate der Zykloide und käme sie in der Rechnung vor, mit deren Hilfe  , die Ordinate einer anderen Kurve bestimmt wäre, und verlangte man dz oder durch dessen Vermittlung die Tangente der zweiten Kurve, so wäre unter allen Umständen dz durch   zu bestimmen, weil man die Tangente der Zykloide hat. Die Tangente der Zykloide selbst aber ließe sich, wenn wir annehmen, dass wir sie noch nicht hätten, in ähnlicher Weise durch Rechnung finden aus der gegebenen Eigenschaft der Kreistangenten…[9]

Es folgen ein formales Beispiel, ein dioptrisches der Lichtbrechung, eines, das den Satz von Pythagoras nutzt, und eines, das den Logarithmus behandelt.

Notiz von Newton

Hier noch eine aufschlussreiche Notiz von Newton: (Abhandlung über die Quadratur der Kurven, 1704, 10. Absatz):

Die Größe   möge gleichförmig fließen, und es sei die Fluxion (das Differential  )der Größe   zu finden. In der Zeit, in der   beim Fließen zu   wird, wird   zu  (  bedeutet bei Newton das infinitesimale   oder in moderner Notation  , allerdings ist bei ihm durch den Begriff des Fließens das Zeitliche eingegangen und es ist die unabhängige Variable nicht   sondern   und so kommt sein Differential  } zustande.) d. h. nach der Methode der unendlichen Reihen zu

 

Die Zunahmen

  und  

verhalten sich zueinander wie:

  und  

Nun mögen jene Zunahmen verschwinden. Dann wird ihr letztes Verhältnis   sein. Es verhält sich daher die Fluxion der Größe   (das Differential   oder  ) zu der Fluxion der Größe   wie 1 zu  . Oder:

 

[9]

Cauchys Differentialbegriff

In den 1980er Jahren fand in Deutschland eine Auseinandersetzung statt, inwieweit die Grundlegung der Analysis bei Cauchy logisch einwandfrei ist. Detlef Laugwitz versucht mit Hilfe einer historischen Lesart Cauchys, den Begriff unendlich kleiner Größen für seine   Zahlen fruchtbar zu machen, findet aber daraus resultierend bei Cauchy Unstimmigkeiten. Detlef Spalt korrigiert den (ersten!) historischen Lesansatz der cauchyschen Arbeiten und fordert die Verwendung von Begriffen aus Cauchys Zeit und nicht heutigen Begriffen zum Nachweis seiner Sätze und kommt zu dem Ergebnis, dass Cauchys Grundlegung der Analysis logisch einwandfrei ist, jedoch bleiben weiterhin die Fragen nach der Behandlung unendlich kleiner Größen offen.

Die Differentiale bei Cauchy sind endlich und konstant   (  endlich). Der Wert der Konstanten ist nicht näher bestimmt.

  ist bei Cauchy unendlich klein und veränderlich.

Die Beziehung zu   ist  , wobei   endlich und   infinitesimal (unendlich klein) ist.

Ihr geometrisches Verhältnis ist als

 

bestimmt. Dieses Verhältnis unendlich kleiner Größen, oder genauer die Grenze geometrischer Differenzenverhältnisse abhängiger Zahlgrößen, einen Quotienten, kann Cauchy auf endliche Größen übertragen.

Differentiale sind endliche Zahlgrößen, deren geometrische Verhältnisse streng gleich den Grenzen der geometrischen Verhältnisse sind, welche aus den unendlich kleinen Zuwächsen der vorgelegten unabhängigen Veränderlichen oder der Veränderlichen der Funktionen gebildet sind. Cauchy hält es für wichtig Differentiale als endliche Zahlgrößen zu betrachten.

Der Rechner bedient sich der Unendlich kleinen als Vermittelnden, welche ihn zu der Kenntnis der Beziehung führen müssen, die zwischen den endlichen Zahlgrößen bestehen; und nach Cauchys Meinung dürfen die Unendlich kleinen in den Schlussgleichungen, wo ihre Anwesenheit sinnlos, zwecklos und nutzlos bliebe, nie zugelassen werden. Außerdem: Wenn man die Differentiale als beständig sehr kleine Zahlgrößen betrachtete, dann gäbe man dadurch den Vorteil auf, der darin besteht, dass man unter den Differentialen von mehreren Veränderlichen das eine als Einheit nehmen kann. Denn um eine klare Vorstellung einer beliebigen Zahlgröße auszubilden, ist es wichtig, sie auf die Einheit ihrer Gattung zu beziehen. Es ist also wichtig, unter den Differentialen eine Einheit auszuwählen.

Insbesondere fällt für Cauchy die Schwierigkeit weg, höhere Differentiale zu definieren. Denn Cauchy setzt   nachdem er die Rechenregeln der Differentiale durch Übergang zu den Grenzen erhalten hat. Und da das Differential einer Funktion der Veränderlichen   eine andere Funktion dieser Veränderlichen ist, kann er   mehrmals differenzieren und erhält in dieser Weise die Differentiale verschiedener Ordnungen.

 
 
 

[10]

Anmerkung 1: Leibniz wählt die Einheit, indem er   und   setzt. [11]

Anmerkung 2: Genauso wird, wenn man   mit der identischen Funktion identifiziert, das Differential von   die „Einheit“. Ist   die Ableitung der Funktion  , so ist die lineare Funktion

  das Differential von   an der Stelle  .

Also für   ist insbesondere   weshalb die Schreibweise

 

oder

  und die Bezeichnung Differentialquotient berechtigt sind.

[12]

Notation

Differential der unabhängigen Variable

Sei   die unabhängige Variable, so gilt für das Differential von  :

  •   = konst.
  •  . (  steht für  , das Differential des Differentials)

Die Bezeichnung der Variable ist beliebig. Newton nennt sie  . Man kann aber auch   oder   nehmen und muss dann dabei bleiben.

Konstante und konstanter Faktor

  •  ; und
  •   ;   ist konstant, weswegen   (d. i. eine Hälfte der Produktregel unter Multiplikation.)

Addition und Subtraktion

Wenn   gleich   ist, so wird

  •  .

Multiplikation

  ist gleich  

 

Von hier kommt man zur partiellen Integration, indem man die Produktregel umschreibt:

 
 

und integriert:

 

Wobei hier x nicht unbedingt die unabhängige Variable sein muss, weil sonst   und somit nur eingeschränkt x' ist.

Division

 

Wir setzen

 

somit

 

Und nach der Produktregel:

 

womit

 

In Form einer Schulregel:

 

Die verschachtelten Funktionen   und deren Ableitung  

werden in der suggestiven Leibniz 'schen Bezeichnung zu:

 

Notationen der Ableitung

Verantwortlicher 1. Ableitung 2. Ableitung  -te Ableitung Bemerkung
Newton     heutzutage wird diese Schreibweise für die  -te Ableitung nach der Zeit in der Physik verwendet, sowie für koordinatenunabhängige Parameterdarstellung.
Leibniz    
oder  
  etc. Die Klammern um   werden weggelassen.
Lagrange   (sprich:   Strich von  )   (sprich:   Zweistrich von  )   Man sieht die funktionale Abhängigkeit.
Cauchy         heißt Derivierte (besonders im englischsprachigen Raum)

Erweiterung und Varianten

Anstatt   finden sich folgende Symbole, die Differentiale bezeichnen:

  • Mit   wird ein partielles Differential bezeichnet
  • Mit   (dem griechischen kleinen Delta) wird eine virtuelle Verschiebung, die Variation eines Ortsvektors bezeichnet. Sie hängt also mit dem partiellen Differential nach den einzelnen Raumdimensionen des Ortsvektors zusammen.

Virtuelle Verschiebung, Variationsableitung

Mathematisch gesprochen werden bei einer virtuellen Verschiebung die Ortskoordinaten des physikalischen Systems bei festgehaltener Zeit t variiert. Die Variation des Ortsvektors  , also die virtuelle Verschiebung des betreffenden Systempunkts ist

 .

Das Symbol wird also für die Variationsableitung benutzt.

Totales Differential

Dieselbe Mischform verschiedener Differentiale und einer Summe anstatt eines Integralzeichens weist auch das totale Differential oder vollständige Differential auf:

 

Der Vektor oben wird als Funktion augefasst.

Quellen

  1. K. Popp, E. Stein, Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Schlütersche, Hannover 2000, ISBN 3-87706-609-7 S. 50
  2. Bei konstanter Dichte deckt sich die Teilmasse   mit dem Bogen   an dieser Stelle und   entsprechend.
  3. Anm.: Hier wird genau   integriert. Lösung:  .
  4.   ist die Grenze für die Unabhängige s, a die entsprechend umgerechnete für den „Parameter“ x. Man sieht auch anschaulich in der Abbildung, dass man mit dem Viertelbogen eine Radiuslänge auf der x-Achse durchläuft und umgekehrt.
  5. Oskar Becker, Grundlagen der Mathematik, suhrkamp
  6. Reinhard Finster, Gerd van der Heuvel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Monographie, Rowohlt
  7. Differenz heißt auf Latein differentia und differentiell differentialis. Vielleicht entsteht die Verwirrung der Begriffe auch wegen dieser sprachlichen Ähnlichkeit.
  8. Das lateinische Original enthält hier einen Rechen- oder Druckfehler: a und b in Zähler und Nenner sind vertauscht.
  9. a b Gottfried Leibniz, Sir Isaac Newton: Über die Analysis des Unendlichen – Abhandlung über die Quadratur der Kurven. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Band 162, Verlag Harri Deutsch, ISBN 3-8171-3162-3 Copyright
  10. Detlef Spalt: Die Vernunft im Cauchy-Mythos. Verlag Harri Deutsch, ISBN 3-8171-1480-X (zu modernen Begriffsproblemen, und ob Cauchy es nun verstanden hat oder nicht, und einiges andere, unter anderem virtuelle Diskussionen mit verstorbenen Mathematikern Abel etc.)
  11. Henk Bos: Differentials, Higher-Order Differentials and the Derivative in the Leibnizian Calculus. Archive for History of Exact Sciences 14, 1–90.
  12. Duden, Rechnen und Mathematik. Bibliographisches Institut, ISBN 3-411-02423-2.

Literatur

  • Gottfried Leibniz, Sir Isaac Newton: Über die Analysis des Unendlichen – Abhandlung über die Quadratur der Kurven. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Band 162, Verlag Harri Deutsch, ISBN 3-8171-3162-3
  • Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik. Suhrkamp Verlag, ISBN 3-518-07714-7
  • Detlef Spalt: Die Vernunft im Cauchy-Mythos. Verlag Harri Deutsch, ISBN 3-8171-1480-X (zu modernen Begriffsproblemen, und ob Cauchy es nun verstanden hat oder nicht, und einiges andere, unter anderem virtuelle Diskussionen mit verstorbenen Mathematikern Abel etc.)
  • K. Popp, E. Stein (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Schlütersche GmbH & Co. KG, Verlag und Duckerei, Hannover 2000, ISBN 3-87706-609-7
  • Bos, Henk, Differentials, Higher-Order Differentials and the Derivative in the Leibnizian Calculus, Archive for History of Exact Sciences 14, 1–90. Heftig diskutierte Veröffentlichung aus den 1970ern, um Kontinuum und Unendlichkeit.