Fürstabtei St. Gallen
Die Fürstabtei St. Gallen war eine Benediktinerabtei in der heutigen Ostschweiz. Bis 1798 war der Abt von St. Gallen Reichsfürst mit Sitz und Stimme im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und gleichzeitig erster Zugewandte Ort der schweizerischen Eidgenossenschaft. Die Abtei St. Gallen wurde 612 gegründet und 1805 aufgehoben.
Geschichte
Gründung und Goldenes Zeitalter
Im Jahr 612 liess sich Gallus, ein Gefährte des Columban von Luxeuil, an der Steinach nieder und gründete eine Einsiedlerzelle. Der eigentliche Klostergründer war 719 Otmar. Das Kloster wurde zu einer Stütze der fränkischen Herrschaft in Alemannien. Der fränkische König Pippin der Jüngere veranlasste um 747 die Einführung der Benediktinerregel. Es entstand ein Skriptorium, wo biblische und wissenschaftliche Texte von hohem Rang angefertigt wurden. Während des so genannten "Goldenen Zeitalters" von 816 bis zum Ungarneinfall 926 war eine enge Zusammenarbeit mit kaiserlichem resp. königlichem Hof sowie eine neue Blüte des Skriptoriums dominierend. Die heute noch berühmte Stiftsbibliothek St. Gallen ist seit 820 indirekt über den St. Galler Klosterplan nachgewiesen. Es entstanden herausragende Werke sanktgallischer Buchmalerei wie der Forchart-Psalter, der St. Galler-Psalter, das Psalterium Aureum und das Evangelium longum. St. Gallen war während des Frühmittelalters eines der bedeutendsten Zentren abendländischer Kultur.
Durch zahlreiche Schenkungen nahm die Grundherrschaft des Klosters St. Gallen im süddeutschen Raum eine bedeutende Grösse an. Im Jahr 818 verlieh Kaiser Ludwig der Fromme der Abtei St. Gallen die Immunität und erhob sie zum Reichskloster. Die Klostervogtei und die daraus abgeleitete hohe Gerichtsbarkeit wurde vom Kloster in der Folge an Vögte vergeben. Diese Vogtei über das Kloster fiel 1180 Kaiser Friedrich I. Barbarossa zu, wodurch sie zur Reichsvogtei wurde. In der nachstaufischen Zeit wurde diese stückweise an Adlige aus dem Bodenseeraum verpfändet, von denen sie das Kloster wiederum zurückkaufte. Durch den Erwerb der Reichsvogtei durch das Kloster wurde das Fundament für den Aufbau eines geschlossenen geistlichen Lehensstaates geschaffen. Der so entstandene "Klosterstaat" verfügte über viele verstreute Besitzungen und Herrschaftsrechte im ganzen süddeutschen Raum und ein relativ geschlossenes Herrschaftsgebiet im heutigen Fürstenland, Appenzell und dem St. Galler Rheintal.
Konflikte mit Appenzell und der Stadt St. Gallen
Bereits im 13. und 14. Jahrhundert war aber der Stern der Abtei St. Gallen wieder im Sinken. Die wechselvollen Kämpfe im Rahmen der habsburgischen Expansion und Hausmachtpolitik im süddeutschen Raum bedrohten den Klosterstaat in seiner Existenz. Hier ist insbesondere der blutige Konflikt zwischen Abt Wilhelm I. und König Rudolf von Habsburg 1282-1291 zu erwähnen, in dessen Rahmen der König in der Nähe der Stadt Wil eine "Gegenstadt" Truz-Wil oder Schwarzenbach gründete und einen "Gegenabt" im Kloster einsetzte. In dieser Zeit gelang es der Stadt St. Gallen, die sich neben dem Klosterbezirk gebildet hatte, sich von der Hoheit der Abtei zu befreien. Die Stadt St. Gallen kämpfte sogar auf der Seite der aufständischen Appenzeller, als sich diese 1400 erfolgreich gegen die Klosterherrschaft auflehnten. Bereits ein Jahr später gelang der Aufstieg der Stadt St. Gallen zur Reichsstadt. Die Appenzellerkriege (1400-1429) endeten schliesslich für das Kloster in einem Desaster: Der grösste Teil der geschlossenen Grundherrschaft ging verloren, Appenzell wurde unabhängig. Bei Amtsantritt von Abt Eglolf Blarer 1427 war die Abtei in einem schlechten Zustand: „da fand er ein zerstreut, elend lieblos Ding, weder Korn noch Geld, noch Geldeswert, auch wenig Gottesdienst.“ Im Anschluss an den Alten Zürcherkrieg gelang es sowohl der Abtei (1451) als auch der Stadt (1454), als Zugewandte Orte in die Eidgenossenschaft aufgenommen zu werden. Die aufstrebende Stadt St. Gallen schickte sich 1455 an, die gesamte verbliebene weltliche Herrschaft des Klosters zu übernehmen. Dieses Unterfangen scheiterte aber am entschlossenen Widerstand des damaligen Klosterpflegers Ulrich Rösch und der Gotteshausleute, wie die Untertanen des Klosters genannt wurden.
Reformation und absolutistischer Klosterstaat
An diesem Tiefpunkt der Stiftsgeschichte wurde der energische Ulrich Rösch zum Abt gewählt. Ihm glückte es mit dem Rückhalt der eidgenössischen Schirmorte, die Herrschaft des Klosters wieder zu konsolidieren. Durch die Sammlung von neuen und alten Rechtstiteln sowie dem Zukauf neuer Gebiete (1468 Erwerb der Grafschaft Toggenburg) gelang es, den St. Galler Klosterstaat zu einem territorial abgerundeten Staat im neuzeitlichen Sinn zu machen. Nach der Erwerbung des Toggenburgs 1468 bürgerte sich im Sprachgebrauch für das zwischen Rorschach und Wil gelegene Kernland der Fürstabtei, das so genannte „Fürstenland“, die Bezeichnung „Alte Landschaft“ ein. 1486 musste die Abtei nach langen Rechtshändeln mit Appenzell die Vogtei über das St. Galler Rheintal an dieses abtreten.
Als Ulrich Rösch in Rorschacherberg ein neues Kloster anlegen liess und plante, die Abtei dorthin zu verlegen, um sie von der Stadt St. Gallen loszulösen, vereinten sich die Stadt St. Gallen, Appenzell und die Gotteshausleute 1489 im "Waldkircher Bund" und zerstörten im so genannten "Rorschacher Klosterbruch" die Baustelle. Diese krasse Verletzung des Landfriedens provozierte eine Intervention der vier eidgenössischen Schirmorte, die die Abtei erfolgreich verteidigten.
Ein wesentliches Element der territorialen Reorganisation war neben der Schaffung von neuen Niedergerichten und Ämtern auch die Vereinheitlichung des Rechts. Die alten Offnungen und Weistümer wurden gesammelt und einheitlich schriftlich fixiert. Gleichzeitig mit den lokalen Rechtsquellen entstand auch eine allgemeine, für alle Gotteshausleute geltende Ordnung: Die Landsatzung von 1468. Somit wurde aus Grundherrschaft, hoher und niederer Gerichtsbarkeit eine Landeshoheit und ein einheitlicher Stand der Gotteshausleute, der Untertanen des Klosters, geschaffen.
Im Gegensatz zur schweizerischen Eidgenossenschaft blieb die Fürstabtei St. Gallen auch nach dem Schwabenkrieg eng mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verbunden; die Äbte liessen sich ihre Regalien immer noch vom deutschen Kaiser übergeben, und die Rechtssätze des Reiches behielten ihre Gültigkeit. Die Fürstabtei St. Gallen war gleichzeitig de iure Glied des Reiches aber de facto Teil der Eidgenossenschaft als Zugewandter Ort mit Sitz und beschränktem Stimmrecht in der Tagsatzung. Die Reformation fand mit Joachim von Watt (Vadian) 1525 in der Stadt St. Gallen Eingang. Schon 1527 wurde das Kloster aufgehoben, der Abt vertrieben und die Stadt Zürich übernahm die Schirmhoheit über die nach Unabhängigkeit strebende Alte Landschaft, deren Bevölkerung überwiegend den neuen Glauben angenommen hatte. Die Niederlage der reformierten eidgenössischen Orte im Zweiten Kappelerkrieg 1531 ermöglichte die Wiederherstellung der Fürstabtei St. Gallen. 1532 zog Abt Diethelm Blarer wieder in den verwahrlosten Klosterbezirk ein. Neben den Offnungen und der Landsatzung, die seit 1525 von den eidgenössischen Schirmorten garantiert und kontrolliert wurden, reglementierten so genannte Land- oder Policeymandate das Leben der Untertanen. Somit wurde es dem Klosterstaat möglich, bis 1572 in der Alten Landschaft alle Untertanen zum katholischen Glauben zurück zu zwingen, und die von Abt Ulrich Rösch begonnenen Reformen zu Ende zu bringen. Am Ende des 16. Jahrhunderts bildet die Fürstabtei St. Gallen einen starken, zentral organisierten Territorialstaat.
Im 17. und 18. Jahrhundert betrieben die Äbte des Klosters zunehmend eine von der schweizerischen Eidgenossenschaft unabhängige Politik, die schliesslich in der militärischen Katastrophe des Toggenburgerkrieges von 1712–1718 mündete, der sich am Gegensatz zwischen Abtei und reformierten Toggenburgern entzündet hatte. Dennoch blühte die Abtei im 18. Jahrhundert noch einmal auf - sichtbarstes Zeichen war der Neubau der Klosteranlage 1765–1767 im prunkvollen Barock. Das Pfalzgebäude sollte den regierenden Äbten eine standesgemässe Residenz bieten. Der spätbarocke Bibliothekssaal der Stiftsbibliothek zählt heute zu den repräsentativsten und schönsten Bibliotheksbauten der Welt. Die ganze Anlage ist seit 1983 UNESCO-Weltkulturerbe.
Untergang
Nach der Französischen Revolution von 1789 forderten auch die Untertanen des Klosters mehr Rechte und Freiheiten. Mit dem "Gütlichen Vertrag" von Gossau von 1795 versuchte Abt Beda Anghern (1767-1796) die Fürstabtei noch zu retten. 1798 gründeten die Untertanen des Klosters im Fürstenland die "Republik der Alten Landschaft St. Gallen" und die Toggenburger sagten sich ebenfalls los, womit die politische Herrschaft der Abtei endete. Abt Pankraz Vorster (1796-1805, †1829) musste sich ins Exil begeben. Die von Frankreich 1798 geschaffene Helvetische Republik umfasste auch die ehemaligen Gebiete der Fürstabtei. Das Fürstenland wurde Teil des Kantons Säntis. Im Mai 1799 kehrte Abt Pankraz Vorster noch einmal kurz mit österreichischer Unterstützung zurück, musste aber nach dem Sieg der Franzosen wieder weichen. 1803 übernahm der neu geschaffene Kanton St. Gallen die Landeshoheit. Am 8. Mai 1805 schliesslich folgte die Aufhebung des Klosters durch den Grossen Rat des Kantons St. Gallen. Die noch während vieler Jahre fortgesetzten Bemühungen des ehemaligen Abtes Pankraz Vorster um die Wiederherstellung der Fürstabtei führten nicht zum Erfolg.
Wappen
Das Wappen der Fürstabtei St. Gallen zeigte in Gold einen aufrechten schwarzen Bären. Die Wappenfigur erinnert an den heiligen Gallus, der mit Gottes Hilfe einem Bären befehlen konnte. Nach dem Kauf der Grafschaft Toggenburg verordnete Abt Ulrich Rösch, dass das Wappen der ausgestorbenen Grafen von Toggenburg, eine Schwarze Dogge mit rotem Halsband auf goldenem Grund, mit dem der Abtei vereint werde.
Berühmte Mönche
- Notker I., der Stammler siehe Biographie BBKL
- Notker der Deutsche siehe Biographie BBKL
- Ekkehard I. (St. Gallen)siehe Biographie BBKL
- Ekkehard II. (St. Gallen)siehe Biographie BBKL
- Ekkehard IV. (St. Gallen)siehe Biographie BBKL
Berühmte Äbte
- Otmar ca. (689-759) sieheBiographie BBKL
- Wilhelm I., Graf von Montfort-Feldkirch (1281-1301) siehe Biographie BBKL
- Kaspar von Breitenlandenberg (1442-1463)
- Ulrich Rösch (1463-1491) siehe Biographie BBKL
- Diethelm Blarer (1530-1564)
- Beda Anghern (1767-1796)
- Pankraz Vorster (1796-1805, †1829)
Siehe auch: Liste der Äbte des Klosters St. Gallen
Siehe auch
- St. Gallen (Stadt),
- Alte Eidgenossenschaft,
- Geschichte der Schweiz, Zugewandter Ort
- Liste der Äbte des Klosters St. Gallen
Literatur
- Marti, Hanspeter: Klosterkultur und Aufklärung in der Fürstabtei St. Gallen. - St. Gallen : Verl. am Klosterhof, 2003. - (Monasterium Sancti Galli; 2) - ISBN 3-906616-55-X
- Müller, Walter: "Landsatzung und Landmandat der Fürstabtei St. Gallen, Zur Gesetzgebung eines geistlichen Staates vom 15. bis zum 18. Jahrhundert". (Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte, XLVI), St. Gallen 1970.
- Robinson, Philip: Die Fürstabtei St. Gallen und ihr Territorium. - St. Gallen : Staatsarchiv, 1995. - (St. Galler Kultur und Geschichte; 24) - ISBN 3-908048-25-7
- Thürer, Georg: St. Galler Geschichte, Staatsleben und Wirtschaft in Kanton und Stadt St. Gallen von der Urzeit bis zur Gegenwart, in 2 Bänden. St. Gallen 1953.
- Ochsenbein, Peter (Hrsg.): Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. Stuttgart: Konrad Theiss Verlag, 1999. - ISBN 3-80621-378-X