Homo heidelbergensis ist eine ausgestorbene Hominiden-Art der Gattung Homo. Dieser Art werden insbesondere Fossilien aus dem pleistozänen Europa zugeordnet, die 600.000 bis 200.000 Jahre alt sind. Das Art-Epitheton heidelbergensis erinnert an den Fundort des Typusexemplars in einer Sandgrube der Gemeinde Mauer bei Heidelberg.
Homo heidelbergensis | |||||
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Zeitraum | |||||
Pleistozän | |||||
Ca. 600.000 bis 200.000 Jahre | |||||
Fossilfundorte | |||||
Vorlage:Taxonomy | |||||
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Wissenschaftlicher Name | |||||
Homo heidelbergensis | |||||
Schoetensack, 1908 |
Homo heidelbergensis ging aus Homo erectus hervor und entwickelte sich vor etwa 200.000 Jahren in Europa zum Neandertaler (Homo neanderthalensis) weiter. Da es keine klare Trennungslinie zwischen Homo erectus und Homo heidelbergensis bzw. Homo heidelbergensis und Neandertaler gibt, ist die Zuordnung vieler Funde zur einen oder zur anderen Chronospezies bis heute unter Paläoanthropologen umstritten. Viele Forscher deuten die Homo heidelbergensis zugeordneten Funde als bloße Varianten von Homo erectus.
Das Typusexemplar
- Hauptartikel: Unterkiefer von Mauer
Typusexemplars des Homo heidelbergensis ist der Unterkiefer von Mauer, dem heute ein Alter von entweder 621.00 bis 568.000 oder 528.000 bis 474.000 Jahren zugeschrieben wird.[1] Dieses Fossil wurde 1907 von dem Leimener Tagelöhner Daniel Hartmann beim Sandschippen in einer Sandgrube gefunden und 1908 von Otto Schoetensack korrekt als „präneandertaloid“ beschrieben.[2]
Bei der Wahl der Bezeichnung Homo heidelbergensis folgte Schoetensack einer Tradition, die Johann Carl Fuhlrott 1856 nach dem weltweit ersten Fund von fossilen Homo-Knochen in einem „Neandertal“ genannten Abschnitt des Tals der Düssel begründet hatte; auch er hatte ein einziges „menschliches Gerippe“ [3] als neue Art (Homo neanderthalensis) benannt. Solche Verweise auf den Fundort einzelner Fossilien wählten beispielsweise in den 1920er-Jahren auch Arthur Smith Woodward (Homo rhodesiensis) und Davidson Black (Sinanthropus pekinensis), in den 1930er-Jahren Fritz Berckheimer (Homo steinheimensis) sowie nach wiederholten Knochenfunden auf Java in den 1940er-Jahren Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald (Meganthropus javanicus); das jüngste Glied dieser Traditionskette ist Homo floresiensis. Während sich die Benennung Homo neanderthalensis aufgrund zahlreicher weiterer, einander ähnlicher und ungefähr gleich alter Funde als Bezeichnung für die Vertreter der Gattung Homo einer bestimmten Epoche (frühe Neandertaler ab 200.000, klassische Neandertaler ab 100.000 bis ca. 30.000 Jahre vor heute) und einer bestimmten Region (Europa, Kleinasien und Sibirien) durchsetzte, blieb die Bezeichnung Homo heidelbergensis bis in die 1980er-Jahre hinein – wenn überhaupt – allein auf den Unterkiefer von Mauer bezogen.
Zur Abgrenzung von anderen Arten der Gattung Homo
In den 1990er-Jahren wurden die zuvor international weitgehend einheitlichen Art-Zuordnungen der zur Gattung Homo gestellten Fossilien von einigen Forschergruppen infrage gestellt. Dies betraf zum einen den Neandertaler, der bis dahin Homo sapiens neanderthalensis genannt worden war und somit als Unterart von Homo sapiens neben dem modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) stand. Dem Neandertaler wurde nun der Status einer eigenen Art zuerkannt (Homo neanderthalensis ), ebenso dem modernen Menschen (Homo sapiens) – eine Änderung der Namenskonventionen, die sich international durchsetzte. Die Unterschiede zwischen dem Neandertaler und seiner Vorläuferart Homo erectus bzw. Homo heidelbergensis „deutet man am besten als zeitlichen Wandel einer Abstammungslinie. Manche bruchstückhaften Funde (zum Beispiel aus Biache Saint-Vaast in Frankreich) kann man sogar ohne Weiteres beiden Arten zuordnen.“[4]
Gleichzeitig wurden vor allem von US-amerikanischen Forschern auch Einwände gegen die Definition des Taxons Homo erectus formuliert, das seit den 1950er-Jahren Funde aus Asien, Afrika und Europa umfasste. Von diesen Forschern „wurde dieses umfassende Taxon aus chronologischen und geographischen Erwägungen aufgespalten“, Homo erectus wird von diesen Forschern seitdem „als Vertreter einer spezifisch ostasiatischen Stammlinie“ ausgewiesen.[5] Die ältesten bis dahin zu Homo erectus gestellten afrikanischen Fossilien werden von diesen Forschern als Homo ergaster bezeichnet, die jüngeren als Homo heidelbergensis. Dieser Konvention zufolge entwickelte sich Homo ergaster in Afrika zu Homo heidelbergensis fort, während aus Afrika nach Asien ausgewanderte Gruppen von Homo ergaster sich in Asien zu Homo erectus entwickelten. Diese Konvention ist bisher allerdings nicht international akzeptiert worden, so dass – je nach Vorliebe der einzelnen Autoren – bestimmte Fossilien zu völlig unterschiedlichen Arten gestellt werden. Zudem wurde eingewandt, dass diese Konvention noch immer viel zu unterschiedlich aussehende Fossilien zu einer Art bündele. Die britische Paläoanthropologin Leslie Aiello wurde beispielsweise in der Fachzeitschrift Science zitiert, beim so definierten Homo heidelbergensis handele es sich um ein „Mülleimer-Taxon“ und schlug vor, die Art Homo heidelbergensis europäischen Fossilien vorzubehalten und die afrikanischen Nachkommen von Homo ergaster zu einer bislang noch nicht benannten neuen Art zu erheben.[6] In der Folge wurde u.a. vorgeschlagen, die in Afrika entdeckten unmittelbaren Vorfahren von Homo sapiens von Homo heidelbergensis abzuspalten und als Homo rhodesiensis zu bezeichnen, aber auch dieser Vorschlag hat sich bisher international nicht durchgesetzt.
Vor allem europäischen, aber auch einige US-amerikanische Forschergruppen stehen somit bis heute – mit geringfügigen Modifikationen – dazu, dass Homo erectus ein umfassendes Taxon ist, dem sowohl asiatische als auch afrikanische Fossilien zugeordnet werden können. Ihrer Deutung der bisher bekannten Fossilien zufolge ist Homo erectus in Afrika aus Homo ergaster hervorgegangen und sowohl nach Asien als auch nach Europa ausgewandert. In Europa haben sich die Nachfahren dieser Auswanderer schließlich zum Neandertaler entwickelt. Ein Teil dieser Forscher bezeichnet auch die Funde von so genannten Prä-Neandertalern (=„Vor-Neandertaler“; europäischen Fossilien, die älter als 200.000 Jahre sind) als lokale, europäische Unterarten von Homo erectus ; Beispiele hierfür sind Homo erectus tautavelensis und Homo erectus bilzingslebensis. Diese Zuordnung der Fossilien hat zur Folge, dass auch der Unterkiefer von Mauer als Homo erectus heidelbergensis bezeichnet und auf den Artnamen Homo heidelbergensis völlig verzichtet wird.
Ein anderer Teil der Forscher bezeichnet hingegen zwar ebenfalls die bis zu 1,8 Millionen Jahre alten afrikanischen Fossilien als Homo erectus und leitet aus diesen die Besiedelung Europas und Asiens ab, benennt die europäischen Nachfahren dieser afrikanischen Auswanderer aber als Homo heidelbergensis. In ihren Publikationen verläuft die Entwicklung von Homo ergaster über Homo erectus demnach zu Homo heidelbergensis und schließlich zum Neandertaler. Diese Position wird beispielsweise aus der Datenbank des Human Evolution Research Centers (Berkeley) ersichtlich, die neben einem sehr alten Fund aus Israel ausschließlich europäische Funde der Art Homo heidelbergensis zuordnet. [7]
Bekannte Fundstellen
Bereits 1907 fand man in einem Steinbruch bei Weimar-Ehringsdorf einen Unterkiefer und 1908 Fragmente eines menschlichen Schädels,[8] die heute zu Homo heidelbergensis gestellt werden können.
Die bekanntesten Fundorte, deren Fossilien ebenfalls zu Homo heidelbergensis gestellt werden können, sind (in Klammern das mutmaßliche Alter der Fossilien):[9]
- Altersbestimmung durch absolute Datierung
- Bilzigsleben (Thüringen), 400.000 – 300.000 Jahre
- Atapuerca (Spanien), 300.000 Jahre (= Homo antecessor)
- Vértesszőlős (Ungarn), 300.000 – 250.000 Jahre
- Weimar-Ehringsdorf (Thüringen), 250.000 – 200.000 Jahre
- Tropfsteinhöhle von Petralona (Griechenland), 250.000 – 150.000 Jahre
- Bau de l'Aubesier (Nähe Avignon, Frankreich), 190.000 Jahre
- Ceprano (südöstlich von Rom), 880.000 (?)– 460.000 Jahre (= Homo cepranensis)
- Boxgrove (England), 500.000 Jahre
- Höhle von Arago („Mensch von Tautavel“, Südfrankreich), 450.000 Jahre
- Steinbruch Thomas (bei Casablanca, Marokko), 400.000 Jahre
- Swanscombe (Borough of Dartford, England), 350.000 – 250.000 Jahre
- Montmaurin (Kanton Boulogne-sur-Gesse, Südfrankreich), 300.000 – 200.000 Jahre
- Zuttiyeh-Höhle (Westjordanland), 250.000 Jahre
- Steinheim an der Murr (Baden-Württemberg), 250.000 Jahre (= Homo steinheimensis)
- Casal de' Pazzi (bei Rom), 250.000 – 200.000 Jahre
- Reilingen (Baden-Württemberg), 250.000 – 125.000 Jahre
- Grotte de Lazaret (bei Nizza, Südfrankreich), 200.000 Jahre
Merkmale
Merkmale des Homo heidelbergensis in Abgrenzung von Homo erectus / Homo ergaster sind:
- vergrößertes Gehirnvolumen von rund 1200 cm3
- steilere Stirn
- schlankerer Körperbau
- größte Gehirnbreite im Bereich der Schläfen statt an der Basis
- teilweise kleinere Überaugenwülste
- weniger vorspringender Kiefer, jedoch robuster als bei Homo sapiens
- kleinere Zähne
- Körpergröße bis ca. 1,70 m (Männer) bzw. 1,60 (Frauen)
Homo heidelbergensis ernährte sich vermutlich hauptsächlich von der Jagd. Er war in der Lage, Großwild zu erlegen, beispielsweise Pferde (Schöningen) und Nashörner (Boxgrove). Er benutzte sorgfältig angefertigte, bis 2,50 m lange Wurfspeere sowie Feuersteinwerkzeug. Schneidemarken auf Knochen zeigen, dass er Fleisch von den Knochen abschabte. Knochen wurden auch als Werkzeuge für die Herstellung von Steinwerkzeugen benutzt. Wegen seiner entwickelten kulturellen Fähigkeiten vermuten bisweilen einzelne Forscher beim Homo heidelbergensis schon Ansätze einer einfachen Sprache. Kulturell wird Homo heidelbergensis der altsteinzeitlichen Periode des Acheuléen zugeordnet.
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„Schädel Nummer 5“ aus der „Sima de los huesos“ bei Atapuerca -
Nachbildung zweier Unterkiefer aus der Höhle von Arago -
Nachbildung eines Schädels
(Senckenberg-Museum)
Einzelnachweise
- ↑ Günther A. Wagner: Altersbestimmung: Der lange Atem der Menschwerdung. In: Günther A. Wagner et. al. (Hrsg.): Homo heidelbergensis. Schlüsselfund der Menschheitsgeschichte. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 2007, S. 224. – Die alternativen Zeitspannen resultieren aus dem Umstand, dass der Fundort des Fossils nicht mehr zugänglich ist und zwei unterschiedlich alte Fundschichten als ehemalige Lagerstätte infrage kommen.
- ↑ Otto Schoetensack: Der Unterkiefer des Homo Heidelbergensis aus den Sanden von Mauer bei Heidelberg. Ein Beitrag zur Paläontologie des Menschen. Leipzig, 1908, Verlag von Wilhelm Engelmann, S. 40. – „Präneandertaloid“ bedeutet: ähnlich wie ein Neandertaler, aber älter als dieser.
- ↑ Elberfelder Zeitung vom 6. September 1856
- ↑ G. J. Sawyer, Viktor Deak: Der lange Weg zum Menschen. Lebensbilder aus 7 Millionen Jahren Evolution. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2008, S. 158
- ↑ Robert Foley: Menschen vor Homo sapiens. Wie und warum unsere Art sich durchsetzte. Jan Thorbecke Verlag, 2000, S. 153
- ↑ Ann Gibbons: A new face for human ancestors. Science Band 276, 1997, S. 1331–1333, doi:10.1126/science.276.5317.1331
- ↑ hercdb.berkeley.edu hercdb.berkeley.edu Übersicht über bedeutende Fossilien von Homo heidelbergensis
- ↑ Gustav Schwalbe: Über einen bei Ehringsdorf in der Nähe von Weimar gefundenen Unterkiefer des Homo primigenius. Anatomischer Anzeiger, Band 47, 1914, S. 337–345. – Die Fragmente wurden erst 1960 von Günther Behm-Blancke wissenschaftlich beschrieben.
- ↑ G. J. Sawyer, Viktor Deak (2008), S. 154 f.
Siehe auch
Literatur
- Otto Schoetensack: Der Unterkiefer des Homo heidelbergensis aus den Sanden von Mauer bei Heidelberg. Ein Beitrag zur Paläontologie des Menschen. Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig, 1908 (digitalisiert online)
- Hans Weinert: Dem Unterkiefer von Mauer zur 30-jährigen Wiederkehr seiner Entdeckung. In: Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie, Band 37, Heft 1, 1937, S. 102–113. ISSN 0044-314X
- Günther A. Wagner, Karl W. Beinhauer (Hg.): Homo heidelbergensis von Mauer. Das Auftreten des Menschen in Europa. Heidelberg: HVA, 1997, ISBN 3-8253-7105-0
- Günther A. Wagner u.a. (Hg.): Homo heidelbergensis. Schlüsselfund der Menschheitsgeschichte. Stuttgart: Konrad Theiss Verlag, 2007, ISBN 978-3-8062-2113-8 (die derzeit umfassendste und aktuellste Darstellung)
- Homo heidelbergensis. 100 Jahre Fundwiederkehr des Unterkiefers von Mauer. Themenheft 2/2007 der Zeitschrift Palaeos – Menschen und Zeiten, hrsg. von „Homo heidelbergensis von Mauer e. V.“, Mauer, 2007, ISSN 1863-1630
Weblinks
- Homo heidelbergensis (einschl. Erstbeschreibung)
- Holzspeere
- Themenpark Umwelt - Homo heidelbergensis