Wildnis

weitgehend unbeeinflusste Naturlandschaft
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Der Begriff Wildnis tauchte erstmals im 15. Jahrhundert in den mittelhochdeutschen Formen "wiltnisse", "wiltnis", "wiltnüsse", oder "wiltnus" im deutschen Schrifttum auf. Ab dem 17. Jahrhundert setzt sich langsam die Form "Wildnis" durch. Die gleichbedeutenden Wörter in den anderen germanischen Sprachen enthalten fast immer den Wortbestandteil "wild", der in den meisten Sprachen sehr ähnlich klingt und auf die (rekonstruierte) urgermanische Wurzel "wilthiz" zurückgeführt wird. Deutsch, Englisch, Holländisch: "wild", Schwedisch, Dänisch: "vild", Norwegisch: "vill", Isländisch: "villtur".

Heide: Früher ein Synonym für Wildnis, aus heutiger Naturschutzsicht jedoch keine Wildnis

Synonyme für Wildnis sind allgemein "Abgeschiedenheit", "Einöde", "Ödland", "Menschenleere". Das Wort wird heute vorwiegend stellvertretend für unbewohnte Landschaften wie "Steppe", "Wüste", "Urwald", "Heide", "Moor" u.ä. verwendet. Darüber hinaus steht Wildnis jedoch auch für solch negativ belegte Begriffe wie "Unfruchtbarkeit", "Trostlosigkeit", "Nutzlosigkeit", "Verbannung" oder "Kulturlosigkeit". [1][2]

 
Garten-"Wildnis"
 
Tiger, angewiesen auf großflächige Wildnisgebiete

Das altehrwürdige Wörterbuch der Gebrüder Grimm gibt Auskunft über die Bedeutung des Wortes in historischer Zeit. Da heißt es z.B. "die grundbedeutung ist eine weitere, als der heutige gebrauch vermuthen läszt. das wort bezeichnet (…) ganz allgemein 'wildheit, etwas wildes', sowohl zuständlich als gegenständlich (…) der alten sprache fremd ist die heutige bildliche verwendung von wildnis für 'üppigwuchernde fülle, hemmende noth, geistige verwirrung'". Weiter steht dort: "die gewöhnliche, ältere Vorstellung scheint fast nur die unfreundlichen Züge des bildes zu bemerken." So spricht Luther von der "grausamen wildnusz" oder benutzt den Begriff für "Verwirrung", "verwildern" und "verirren", während Schambach Wildnis und Anarchie gleichsetzt. [2]

Der Historiker Roderick Nash sieht das Substantiv "Wildnis" als irreführende Verdinglichung des Adjektives "wild". Er schreibt: "Es gibt Wildnis nicht als eigentliches, materielles Objekt. Der Terminus beschreibt eine Eigenschaft (…), die in einem bestimmten Individuum eine bestimmte Stimmung oder ein bestimmtes Gefühl erzeugt." Tatsächlich ist der heutige Gebrauch des Wortes sehr mehrdeutig. Während der eine damit seine Abneigung gegen einen verwilderten Garten ausdrückt, spricht der andere respektvoll von der "Weisheit der Wildnis". Der Biologe Wolfgang Scherzinger bezeichnete diesen Widerspruch im Wildnisbegriff als "Spannungsfeld zwischen Ehrfurcht und Furcht, Staunen und Schauern, Begeisterung und Bestürzung, Sehnsucht und Angst, Geborgenheit und Hilflosigkeit"[3].

Die ursprünglich negative Belegung des Begriffes zeigt, dass die Abneigung gegen die Wildnis tief in uns verwurzelt ist. Bei unseren Vorfahren war die Wildnis der Gegenpart zur Kultur: die ungezähmte, gefährliche und unkontrollierbare Urnatur. Vor allem, seit die meisten Menschen Wildnisgebiete nur noch aus den Medien kennen, die diese wiederum meistens in grandiosen Bildern als schutzwürdige Lebensräume bedrohter Tiere darstellen, wurde der Begriff auch positiv belegt. Die negative Bedeutung ist jedoch nach wie vor existent, vor allem bei Menschen, die noch mit der Wildnis konfrontiert werden.

Seit mit dem Yellowstone-Nationalpark im Jahre 1872 das erste Mal ein großes Wildnisgebiet unter Schutz gestellt wurde, entstand die Notwendigkeit, den Begriff wissenschaftlich zu definieren. Wie man an den folgenden Definitionsversuchen sehen kann, sind die Vorstellungen je nach Urheber, Staat oder Vegetation sehr unterschiedlich.

Als Wildnis gelten Bereiche, in denen 70 oder mehr Prozent der ursprünglichen Vegetation erhalten sind, die mehr als 1.000.000 ha umfassen und in denen weniger als fünf Menschen pro Quadratkilometer leben. (Nach dieser Definition werden weltweit 37 Gebiete differenziert)

Die IUCN definiert Wildnis ebenfalls weniger abhängig von der Flächengröße und mehr im Hinblick auf auszuweisende Schutzgebiete: "Als Wildnis gilt ein "ausgedehntes, ursprüngliches oder leicht verändertes Gebiet, das seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat, eine weitgehend ungestörte Lebensraumdynamik und biologische Vielfalt aufweist, in dem keine ständigen Siedlungen sowie sonstige Infrastrukturen mit gravierendem Einfluss existieren und dessen Schutz und Management dazu dienen, seinen ursprünglichen Charakter zu erhalten." (Deutsche Übersetzung durch das Bundesamt für Naturschutz)

Wildnis definiert sich durch unbewohnte Gebiete, für die man mindestens zwei Tagesmärsche zur Durchquerung benötigt (Anmerkung: entspricht zwischen 150.000 – 500.000 ha) (nach Hendee, Stankey und Lucas 1990)

Unter das Gesetz zum Schutz der Wildnis von 1964 (Wilderness Act) fallen mindestens 2.000 ha große, unbesiedelte, natürliche Landschaften oder Inseln, die auch kleiner sein dürfen. Wilderness Areas werden vom US-Kongress durch Gesetz gewidmet. Es gibt 702 (Stand 2007) Wilderness Areas in 44 der 50 US-Bundesstaaten und in Puerto Rico.

Die größten, verbliebenen Wildnisgebiete Westeuropas liegen in Skandinavien. So spielt die Größe bei den schwedischen Definitionen die vorrangige Rolle. Finden sich keine Wanderwege oder touristische Anlagen in zusammenhängenden Gebieten, die größer als 100.000 ha sind und mehr als 15 km von Straßen oder Eisenbahnlinien entfernt liegen, spricht man von "Wildniskernen". Alle weiteren unbesiedelten Gebiete von mindestens 1.000 ha (Süd- und Mittelschweden) bzw. 2.000 ha (Nordschweden), die nicht schmaler als 1 km sind, werden als "Weglose Gebiete" erfasst [4].

In den Ländern, wo ursprüngliche Wildnis nahezu nur noch in den höchsten Bergregionen zu finden ist (z.B. gelten noch 4 % der Alpen als Wildnis [5]), geht es vorwiegend um die Ermittlung der tatsächlichen Mindestgröße, die Wildnisgebiete haben müssen, um langfristig in ihrer typischen Ökologie mit allen notwendigen, natürlichen Prozessen ohne menschliche Eingriffe bestehen zu können oder neu zu entstehen. So hält der NABU Deutschland für "neue", geschützte Waldwildnis mindestens 40 ha für erforderlich. Die angestrebte Flächengröße sollte jedoch mindestens 1.000 ha betragen. Die Frage der Flächengröße ließe sich jedoch zur Zeit nicht wissenschaftlich, sondern zunächst einmal nur politisch begründen. [6] (Außerhalb Deutschlands werden nach einem Workshop der Nabu-Akademie unbesiedelte Gebiete über 10.000 ha als "siedlungsfernen Wildnis" bezeichnet.) In der Schweiz gelten Gebiete, die seit länger als 50 Jahren nicht mehr genutzt wurden und mindestens 600 ha umfassen als schutzwürdige Wildnisparks (nach BUWAL 2002, Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL, Schweiz). Nach einer Untersuchung des WWF befinden sich nur 2 Prozent der Waldfläche Europas gegenwärtig in einem natürlichen Zustand.

Dr. Mario Broggi, der Leiter der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat eine von der Größe unabhängige Definition verfasst, die in der Literatur als "kleinster, gemeinsamer Wildnisnenner" bezeichnet wird: "Unter Wildnis wird jener Raum verstanden, im dem wir jede Nutzung und Gestaltung bewusst unterlassen, im dem natürliche Prozesse ablaufen können, ohne dass der Mensch denkt und lenkt, im dem sich Ungeplantes und Unvorhergesehenes entwickeln kann." [7]

Primäre Wildnis

Bestand

 
Unberührte Naturlandschaft im Naturreservat Vindelfjläll (S)

Eine Gruppe von 200 Experten der Naturschutzorganisation Conservation International (CI) s.o. hat errechnet, dass im Jahre 2002 noch 46 % der Landoberfläche unberührte und damit schützenswerte Wildnis war [8]. Die unterschiedlichen Maßstäbe für Wildnis werden auch dadurch deutlich, dass andere Organisationen zu völlig verschiedenen Ergebnissen kommen. So hat die "Wildlife Conservation Society" mit Hilfe von Satellitenaufnahmen einen Wert von 26 % "Last of the wild" ermittelt, während die IUCN lediglich 10,9 % "relativ unberührte Natur" annimmt (Stand 2003).

Karte

Die Grundlage der folgenden Karte ist die ursprüngliche (potentielle) Vegetation der Erde. Darüber wurde als ziegelrote Fläche der menschliche "Fußabdruck" aus der UNEP-Karte "Human Impacts on the Biosphere 2002" gelegt. Sie zeigt sämtliche Siedlungs- und Verkehrsflächen auf der Erde, sowie einen etwa 5 km breiten Saum um diese Flächen. Mit Hilfe dieses Tricks wurde der direkte Einflussbereich des Menschen auf die Natur in der Umgebung dieser Flächen erfasst und sichtbar gemacht. Um den Zustand der Natur in den übrigen unbesiedelten Gebieten darzustellen, wurde eine Erhebung von Greenpeace über den Zustand der Wälder, sowie verschiedene Atlaskarten über Flächen intensiver Nutzung herangezogen. Diese Flächen sind hier gesprenkelt dargestellt. Demnach handelt es sich bei allen verbleibenden Flächen, die weder gesprenkelt, noch rot bedeckt sind, um unbesiedelte und weitgehend unbeeinflusste Wildnis.

 
Die Wildnisse der Welt Anfang des 21. Jahrhunderts - (Version in höherer Auflösung)

Schutzgebiete

Als Reaktion auf die "Wilderness"-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts gibt es in den USA bereits seit 1964 gesetzlich geschützte "Wilderness Areas" (s.o.), die rund 4,7 % der amerikanischen Gesamtfläche (= 40 Mio. ha) umfassen (Stand Januar 2007). Die weitaus größten Gebiete davon liegen im Bundesstaat Alaska. Auf globaler Ebene wurden primäre Wildnisgebiete im Rahmen der Kategorienfindung der IUCN für international gültige Schutzgebietsstandards in die höchste Schutzstufe (Kategorie Ib) eingruppiert. Die häufigste Schutzgebietsform für große, unzerstörte Naturräume ist der Nationalpark (s.u.). Obwohl sich alle großen Naturschutzorganisationen - u.a. CI dank einiger Millionenspenden - weltweit um den Wildnisschutz bemühen, waren im Jahre 2002 erst ca. 7 % dieser Gebiete tatsächlich geschützt [8].

Die größten Schutzgebiete nach Kontinenten:

Antarktis

Asien

Australien

Europa

Nord-Amerika

Süd-Amerika

Qualität

 
Wisent als Beispiel für große Pflanzenfresser in der Wildnisentwicklung

Die hier dargestellten Wildnisgebiete beziehen sich wohlgemerkt nur auf die Faktoren Besiedlung, Vegetation und Nutzung, so dass daraus nicht grundsätzlich auf vollkommen intakte Naturzusammenhänge geschlossen werden kann. Vor allem die Zusammensetzung der Tierwelt wird nicht berücksichtigt, obwohl Anzahl und Artenspektrum der Tiere natürlich einen wesentlichen Einfluss auf das Aussehen der Landschaft haben! Besonders deutlich wird dies bei einem Blick auf Mitteleuropa, wo die Veränderung des Artenspektrums durch menschliche Einflüsse nicht erst seit dem 20. Jahrhundert stattfindet. Bereits im Laufe des Mittelalters wurden die großen Weidetiere Auerochse, Elch, Wildpferd und Wisent ausgerottet oder auf unbedeutende Restbestände dezimiert. Später kamen die großen Räuber Bär, Wolf und Luchs hinzu, so dass von einer natürlichen Zusammensetzung seit langem keine Rede mehr sein kann [9]. Eine ähnlich dramatische Dezimierung der Tierwelt findet zur Zeit vor allem in den tropischen Wildnisgebieten statt, wie man den Berichten der großen Naturschutzorganisationen allenthalben entnehmen kann. Weitere negative Einflüsse auf die Lebewelt der Wildnis gehen von der Luftverschmutzung aus. Hier spielt zum Beispiel die Versauerung der Böden oder der düngende Effekt der Stickstoffeinträge in der Nähe industrieller Zentren eine Rolle. Die größten Veränderungen der Natur wird jedoch der globale Klimawandel verursachen, der zu dramatischen Wetterextremen wie Überflutungen und Dürren, sowie zu einer Verschiebung der Klima- und Vegetationszonen nach Norden führt.

Indigene Bevölkerung

 
Einige Saami bringen den Touristen die Wildnis näher

Nahezu alle Wildnisregionen der Erde sind die Heimat inidigener Völker, die sich dort seit der Erstbesiedlung an die speziellen Umweltbedingungen angepasst haben. Die wenigsten dieser Völker leben noch ausschließlich in ihrer traditionellen Lebensweise. In aller Regel nutzen die meisten die Wildnis jedoch nach wie vor extensiv und optimal an den jeweiligen Naturraum angepasst, so dass auch sie als wesentlicher Teil der jeweiligen Wildnisregion angesehen werden müssten. Obwohl indigene Naturvölker ein natürliches Interesse an der Unversehrtheit ihrer Umwelt haben, werden ihre Rechte in geschützten Wildnisgebieten von manchen Staaten nicht anerkannt. So steht z.B. im "Wilderness Act" der USA (s.o.) eindeutig: "Wo der Mensch selbst ein Besucher ist, der nicht verweilt." Ähnliche imperialistische Repressalien gegen Indigene sind auch aus anderen Ländern wie Kanada, Brasilien oder Russland bekannt. Häufig handelt es sich dabei um Landrechtskonflikte bei der Vergabe von Konzessionen zur Ausbeutung wertvoller Ressourcen an internationale Konzerne in Gebieten, die nie rechtswirksam von den Indigenen übereignet wurden. Da diese Menschen die Wildnis sehr genau kennen, wird von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen wie dem WWF oder der Gesellschaft für bedrohte Völker darauf hingewiesen, das Wissen der Indigenen zu nutzen, ihre traditionellen Lebensweisen zu achten und sie entsprechend fair zu behandeln.

Nutzwert

 
Trekking in der Waldwildnis des Tresticklan-Nationalparks (S)

Als Lebensraum bedrohter Tiere und Pflanzen spielen die verbliebenen Wildnisgebiete die wesentlichste Rolle zur Erhaltung der Artenvielfalt. Der größte Nutzen für den Menschen liegt vorrangig in ihrer Bedeutung als letzte intakte "Funktionszusammenhänge" der Biosphäre. Dies wird besonders heute deutlich, seit der anthropogen verursachte Klimawandel die Stabilität der irdischen Lebensgemeinschaften bedroht. So erzeugen z.B. die Regenwälder große Mengen Sauerstoff und binden ebenso große Mengen Kohlendioxid. Zugleich bestimmen sie maßgeblich den Wasserhaushalt in den Tropen. Ähnlich wichtig ist die Speicherung des hoch-klimaschädlichen Methangases in den dauergefrorenen Torflagerstätten der Polargebiete. Grundsätzlich gelten intakte Naturgebiete als Garant für gesunde Böden, sauberes Wasser und saubere Luft. Darüber hinaus wird vor allem in den artenreichen Regenwäldern eine große Zahl noch unentdeckter Substanzen vermutet, die in der Medizin oder Chemie äußerst nutzbringend sein könnten. Die Nutzung dieser Ressourcen setzt jedoch intakte Ökosysteme voraus, die leider in großem Tempo immer weiter degradiert werden.

Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender "Nutzwert" der Wildnis liegt sicherlich auch in ihrer Bedeutung als "Regenerationsraum" des modernen Menschen, denn sie übt auf viele Menschen eine große Faszination aus. Daher wird der Begriff "Wildnis" in Werbung, Fernsehen (z.B. Tiere vor der Kamera) und Literatur oftmals verbunden mit Abenteuerlust und Ursprünglichkeit. Dabei wird allerdings meistens ein romantisiertes Bild aufgebaut, das den unerfahrenen Besucher, der die Wildnis einmal hautnah erleben möchte, schnell in gefährliche Situationen bringen kann. Insbesondere die Orientierung in weglosem Gelände stellt besondere Anforderungen an den Besucher. Echte Wildnis ist kein Garten Eden, sondern eher ein Naturraum, "der in der Lage ist, den Menschen – je nach dessen Fähigkeiten – in seiner physischen Existenz zu gefährden" (Zitat Herwig Decker in [3]). Wer weglose Wildnisgebiete bereisen möchte, sollte sich daher für eine geführte Tour entscheiden.

Gefährdungen

Die derzeit vorrangige Nutzung primärer Wildnisregionen ist die intensive Ausbeutung der Rohstoffreserven wie Holz, Erdöl oder diverse Metallerze. Aufgrund der häufig damit verbundenen weitreichenden Naturzerstörung ist dies nicht mehr im Kontext "Nutzwert der Wildnis" zu betrachten, da die Wildnis an dieser Stelle in genutztes Land umgewandelt wird und ihren "wilden Charakter" damit eingebüßt hat. Die Verringerung der verbliebenen Wildnisflächen schreitet in erschreckendem Tempo voran.

Sekundäre Wildnis

 
Urwälder brauchen Zeit zur Entwicklung

Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es Stimmen, die die Erhaltung oder Wiederherstellung eines "Naturzustandes" für einige Gebiete forderten. In dieser Zeit drohten die letzten Wälder der Verkohlung für die Metallverarbeitung zum Opfer zu fallen und in ganz Deutschland entstanden erste Naturschutzvereine. Heute, wo in Mitteleuropa praktisch keine Primärwildnis mehr existiert s.o., wurde der Gedanke in den 1990er Jahren aufgegriffen, geeignete Gebiete sich selbst zu überlassen und nicht mehr pflegend einzugreifen, wie es der Naturschutz bis dahin vorsah. Eine große Anzahl geschützter Natur entfällt in Mitteleuropa auf ehemals extensiv genutzte Kulturlandschaften wie Heiden, Offenlandbereiche oder Hutewälder. Diese Lebensräume bedürfen der Pflege, um erhalten zu werden. Ohne diese Maßnahmen würden sie verbuschen und sich schließlich in Wälder verwandeln. Wald ist die potentielle natürliche Vegetation der größten Teile Europas. In Deutschland war einer der Vorreiter der Idee sekundärer Wildnisse Hans Bibelriether, langjähriger Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald, der sich für die Entwicklung neuer Urwälder im Park einsetzte. Neben wissenschaftlichen Gründen zur Erforschung natürlicher Prozesse wollte Bibelriether gegen die zunehmende Natur-Entfremdung ein Bewusstsein für Wildnis als "unzerstörten Naturschatz" wecken.

Naturschutzkonzepte

Der von dem deutschen Forstökologen Knut Sturm geprägte Begriff "Prozessschutz" wird in der Diskussion häufig mit "Wildnisentwicklung" gleichgesetzt. Zufällige, natürliche Vorgänge wie Sturm, Brand oder Schädlinge, die in der Wildnis ungehindert wirken können, spielen bei dieser Naturschutzstrategie durchaus eine wichtige Rolle (Zitat Sturm: "Störungen und Konkurrenz müssen wirken dürfen"). Allerdings galt dies im ursprünglichen Sinne nur auf begrenzten, mosaikartigen Teilflächen in Wirtschaftswäldern. Das heißt, die natürliche Dynamik von "Wildnis- (sprich: Urwald-) inseln" im Wirtschaftswald soll genutzt werden [10].

Die neuere Definition erstreckt sich nicht mehr nur auf Wälder und es wird nunmehr zwischen segregativem- und integrativem Prozessschutz unterschieden. Beim segregativen Prozessschutz steht die vollkommen ungesteuerte Naturentwicklung zu wildnisähnlichen Lebensräumen im Mittelpunkt. Dagegen findet beim integrativen Prozessschutz eine Bewertung der natürlichen Prozesse statt, die entsprechend der bewusst formulierten Ziele einer bestimmten Landschaftsentwicklung zugelassen oder verhindert werden [11].

Umsetzung

 
Frei lebende Islandpferde im Nationalpark De Meinweg (NL)

Nach den international gültigen Kategorien der IUCN müssen in einem Nationalpark (Kategorie II) mindestens 75 % der Fläche sich selbst überlassen bleiben und dürfen in keiner Weise genutzt werden. Dieser Standard findet sich auch im Bundesnaturschutzgesetz wieder: §24 (2) "Nationalparke haben zum Ziel, im überwiegenden Teil ihres Gebiets den möglichst ungestörten Ablauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik zu gewährleisten. …" In Deutschland erreichen bis auf zwei Nationalparks alle diese strengen Anforderungen. Allerdings wird es noch viele Jahrzehnte dauern, bis in einem deutschen Nationalpark tatsächlich wieder von Wildnis gesprochen werden kann. In anderen Ländern orientiert man sich nicht unbedingt an den IUCN-Kategorien. Die Nationalparks der Niederlande unterliegen beispielsweise weitaus schwächeren Schutzkriterien, so dass hier noch weniger von der Entwicklung sekundärer Wildnis die Rede sein kann.

Naturwaldreservate, Naturwaldzellen, Totalreservate u.ä.

Bereits in den 1970er Jahren begann man in Deutschland aus wissenschaftlichem Interesse kleine naturnahe Waldinseln als Dauerversuchsflächen auszuweisen, die ihrer ungestörten biologischen Entwicklung überlassen wurden. Es unterbleibt jegliche forstliche Nutzung und direkte Beeinträchtigung. Diese Schutzgebiete sind ein Beispiel für die Strategie des integrativen Prozessschutzes s.o. auf Landesebene. Sie werden je nach Bundesland unterschiedlich benannt. Viele Landes-Forstverwaltungen bezeichnen diese Reservate gern als "Urwälder von morgen". Aufgrund der geringen Flächengröße von durchschnittlich rund 37 ha (bezogen auf insgesamt 669 Reservate dieser Art) und weniger als einem Prozent der Waldfläche Deutschlands ist diese Bezeichnung jedoch sicherlich zu euphorisch. Unter anderem aufgrund der geringen Flächengrößen liegt Deutschland in der unteren Hälfte einer europäischen Rangliste zum Waldschutz. Die Schweiz belegt in dieser Bewertung den ersten Platz [6].

Wildnisentwicklungsgebiete

Wie bereits im Abschnitt "Primäre Wildnis: Qualität" dargestellt, muss auch die potentielle Tierwelt berücksichtigt werden, wenn das Naturschutzziel die Wiederherstellung der natürlichen Prozesse eines Gebietes sein soll. Für Mitteleuropa ging man lange Zeit davon aus, dass die gesamte Landfläche bis auf einige Moore, Auen und Berge von Wald bedeckt war. Nach umfangreichen Pollenanalysen in verschiedenen Bodenschichten vertreten manche Wissenschaftler seit den 1980er Jahren jedoch vermehrt die Theorie, dass größere Teile Mitteleuropas doch nicht so dicht bewaldet, sondern eher mit offenen Graslandbereichen durchsetzt waren. Die Erklärung dafür seien neben Stürmen und Dürren auch Herden großer Pflanzenfresser, die den Wald – vor allem auf mageren Tieflandstandorten – kurz hielten (siehe Megaherbivorentheorie und Mosaik-Zyklus-Konzept). Besonders in den Niederlanden und Belgien werden diese Theorien bei der Wiederherstellung von "neuer Wildnis" berücksichtigt und erforscht. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Gebiet Oostvaardersplassen in Holland, wo in einer aufgelassenen Küstenlandschaft große Herden von Rothirschen und rückgezüchteten Wildpferde- (Koniks) und Rinderarten (Auerochse) leben. Der Eingriff des Menschen ist hier ausschließlich auf die Bejagung kranker und Entfernung toter Tiere beschränkt, um die fehlenden Beutegreifer zu ersetzen. Nach den Vorstellungen der niederländischen Naturschützer sollte das Gebiet deutlich vergrößert werden und schließlich zu einem vernetzten Verbund ähnlicher Schutzgebiete erweitert werden, der u.a. bis an die Lippe reichen könnte. Die Voraussetzungen am Niederrhein sind naturräumlich günstig, und auch in Deutschland finden sich genügend Befürworter der Megaherbivorentheorie. In den Veröffentlichungen des BfN (Bundesamt für Naturschutz) spricht man in diesem Zusammenhang von sogenannten "Wildnisentwicklungsgebieten", für die das folgende Leitbild formuliert wurde: "In Deutschland gibt es in der Zukunft wieder großflächige Wildnisgebiete (Zielkorridor 5 % der Gesamtfläche Deutschlands bis zum Jahre 2020), in denen Entwicklungsprozesse natürlich und ungestört ablaufen und die weitere Evolution der Arten und Lebensgemeinschaften stattfinden kann" [12]. Erste Beispiele dieser Naturschutzstrategie finden sich im NSG Königsbrücker Heide und beim Hutewaldprojekt im Solling. Große Herden wilder Weidetiere benötigen große Flächen, so dass vor allem die Nationalparks, ehemalige Truppenübungsplätze und Bergbaufolgelandschaften in Frage kämen. Wie ernsthaft die Verwilderung großer Landschaften genommen wird, zeigt die aktuelle Empfehlung einer Studie des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung an den Brandenburger Landtag, ohnehin dünnbesiedelte Landstriche mit Hilfe von Abwanderungsprämien gänzlich zu entvölkern und in ökologisch und touristisch attraktive Wildnisgebiete umzuwandeln [13].

Andere Schutzgebietstypen in Deutschland

In den anderen Schutzgebietstypen Deutschlands (Naturschutzgebiete, FFH-Gebiete, Vogelschutzgebiete, geschützte Biotope nach jeweiligem Landesrecht etc.) hat der Prozessschutz in der Regel eine geringere Bedeutung. Die Schutzbestimmungen werden individuell festgelegt und zielen vielfach auf die Erhaltung anthropogen gestalteter, artenreicher Naturlandschaften wie z.B. Heiden und andere Offenlandbiotope, die sich ohne Pflegemaßnahmen in – zumeist artenärmere – Waldbiotope verwandeln würden s.o..

Konfliktpotential

Sowohl in der Bevölkerung als auch in der Wissenschaft hat Wildnisschutz und –entwicklung ein großes Konfliktpotential.

Bevölkerung

 
Faszination Wildnis im Nationalpark Sarek

Bereits bei der Etymologie des Begriffes "Wildnis" (s.o.) wurde deutlich, dass die negative Bedeutung tief in uns verwurzelt ist. Viele "un-Worte" wie unschön, ungepflegt, unberechenbar, unproduktiv oder unordentlich werden mit Wildnis in Verbindung gebracht. Seit Urzeiten bemüht sich der Mensch, Wildnis zu zähmen und zu kultivieren. Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit spricht man von einem Schutz der Wildnis. Handelt es sich um Gebiete in fernen Ländern, ist die Bevölkerung meist positiv eingestellt. Bei direkter Konfrontation jedoch bricht sich die alte Abneigung sehr schnell Bahn. Ein Beispiel sind die monatelangen Tumulte der Anwohner des Nationalparks Bayerischer Wald, als es aufgrund der großen Totholzmengen im Wald zu einer explosionsartigen Vermehrung des Borkenkäfers kam [3]. Da sich Wildnisentwicklung nicht planen lässt und einem stetigen, unvorhersehbarem Wandel unterliegt, erfordert es ein großes Maß an Vertrauen in die Natur, auch solche Entwicklungen zu akzeptieren. "Wer eine Entwicklung zur Wildnis wirklich akzeptiert, der muss den Borkenkäfer und den Birkenspanner genauso akzeptieren wie Wolf, Luchs oder Wisent"[14]. Um dies zu erreichen, sollten daher die Bedürfnisse und Vorstellungen der Bevölkerung frühzeitig mit berücksichtigt werden. In der Schweiz hat man aus den Problemen in Bayern gelernt und das Meinungsspektrum möglichst vieler Bewohner und potenzieller Nutzer bei der Ausweisung von Wildnisgebieten ermittelt. Interessanterweise stimmten die meisten Eidgenossen den typischen Merkmalen von Wildnis in wissenschaftlichen Positionen zu, obwohl sie sich andererseits Wanderwege, Feuerstellen und Besucherparkplätze wünschten. Die Gebiete sollen demnach zwar verwildern dürfen, aber nicht komplett für die menschliche (Freizeit-)Nutzung gesperrt werden. Um den Wünschen der Bevölkerung nachzukommen, böte sich eine Einteilung der Gebiete in verschieden stark geschützte Zonen an, wie es von Nationalparks bekannt ist [7].

Fachleute

In den Reihen der Naturschützer und Wissenschaftler gibt es ebenfalls einige Bedenken gegen den Wildnisschutz [14]:

  • Die meisten Offenlandbiotope Mitteleuropas benötigen Pflege, um das jeweilige Artenspektrum zu erhalten. Bei einer Wildnisentwicklung gingen diese Arten verloren
  • Wildnisentwicklung ist nicht gleichbedeutend mit größerem Artenreichtum! Prozessschutz (s.o.) führt in der Regel zuerst zu einer massenhaften Vermehrung ohnehin häufiger Arten (z.B. Weidenröschen, Brennnesseln, Brombeeren, Adlerfarn, Birken). Die Entstehung einer ursprünglichen (potentiellen) Artenzusammensetzung ist nicht bzw. nur in sehr langen Zeiträumen möglich
  • Einige Förster und Waldbauern behaupten, dass naturnah bepflanzte, aber forstwirtschaftlich gepflegte Wälder wesentlich stabiler und ertragreicher seien
  • Einige Naturschützer fürchten um den Sinn ihrer Arbeit, denn es ist eine ungewohnte Vorstellung für viele Menschen, am besten einfach nichts zu tun und damit keine Kontrolle über die Dinge zu haben.

Nicht erst seit dem spektakulären Vorschlag des Berlin-Institutes zur Wildnisentwicklung in großen Teilen des Bundeslandes Brandenburg ist eine Debatte über die Anteile solcher Gebiete entbrannt. Selbst die moderate Forderung des BfN für einen Zielkorridor von 5 % stößt in einigen Gesellschaftskreisen auf Ablehnung. So hat das Umweltministerium im Rahmen der Entwicklung einer nationalen Biodiversitätsstrategie für Wildnisgebiete eine Zielvorstellung von 2 % genannt. Auf der einen Seite erklären die Naturschutzverbände, dass allein für die Erfordernisse der FFH-Richtlinie 1-2 % der Fläche an Wildnisgebieten vorhanden sein müssten. Auf der anderen Seite steht zur Zeit jedoch erst maximal 0,9 % der Fläche Deutschlands als Potential zur Verfügung (ermittelt aus ca. 0,3 % Naturschutzgebiete, 0,085 % Naturwaldzellen, 0,25 % Nationalparke, weitere Flächen ca. 0,25 %)[5].

Philosophische Dimension[3]

In der Diskussion um "neue Wildnisse" gibt es sicherlich gute Gründe für und gegen die Details der entsprechenden Konzepte. Die Grundsatzfrage ist jedoch, ob der Mensch bereit ist, ein "Grundrecht der Natur" anzuerkennen oder seine Vorstellungen von Natur höher zu bewerten. Der amerikanische Ökologe Aldo Leopold hat diese Philosophie drastisch formuliert:

"Wildnis ist eine Absage an die Arroganz des Menschen"

Hubert Weinzierl, ehemaliger Vorsitzender des Bundes Naturschutz, hat ein diplomatisches Plädoyer für die Wildnis abgegeben. Er schrieb 1998:

"Wollen wir eine Momentaufnahme menschengemachter Landschaft für immer konservieren oder wollen wir die Natur an sich schützen? (…) Wir sollten (…) wieder viel mehr den Mut zur Wildnis beweisen und uns nicht mit ein paar "Biotopen", als Landschaftsalmosen sozusagen, abspeisen lassen. Vielmehr sollten die Naturschutzgebiete als Perlen eingebettet sein in eine Landschaft, mit der wir insgesamt anständiger umgehen. Wir brauchen also künftig den Naturschutz auf der Gesamtfläche. Und wir brauchen wieder einen Hauch von Wildnis in unserem Lande, damit wir uns nicht ganz von der Natur entfernen. Das bedeutet einige Korrekturen in unserer Denkweise: (Dazu gehört auch) das Eingeständnis bei uns Naturschützern selbst, dass manche Pflege-Manie letztlich dem anthropozentrischen Wunschdenken entspricht, die Natur so zu bewahren, wie wir sie gerne haben möchten."

Der amerikanische Schriftsteller Edward Abbey schrieb in "Desert Solitaire":

"Wildnis ist kein Luxus. Wildnis ist ein Bedürfnis des menschlichen Geistes, so lebenswichtig wie Wasser und gutes Brot. Eine Zivilisation, die das wenige zerstört, was von der Wildnis übrig ist, das Spärliche, das Ursprüngliche, schneidet sich selbst von ihren Ursprüngen ab und begeht Verrat an den Prinzipien der Zivilisation. Unsere Liebe zur Wildnis ist mehr als ein Hunger nach dem, was außerhalb unseres Einflußbereichs liegt; sie ist ein Ausdruck der Loyalität zur Erde - der Erde, die uns hervorbringt und ernährt, die einzige Heimat, die wir kennen sollten, das einzige Paradies, das wir benötigen."

Siehe auch

Primäre Wildnisregionen

Schutzgebiete

Sekundäre Wildnis

Organisationen

Einzelnachweise

  1. Online Wortschatz-Portal der Universität Leipzig
  2. a b Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 1854 - 1960, Online-Version
  3. a b c d Herwig Decker, Wozu brauchen wir Wildnis? in Zeitschrift "BERGE" 2/2000
  4. Sveriges Nationalatlas, Bd. Miljön, 2. Auflage, Kartförlaget, Gävle 1997, ISBN 91-87760-42-8
  5. a b http://www.dnr.de/publikationen/news/docs/Doku_mehrWildnis_komplett.pdf
  6. a b http://www.nabu-akademie.de/berichte/98Wald.htm
  7. a b Nicole Bauer, Marcel Hunziker, Umfrage über Wahrnehmung von Waldwildnis in der Schweiz. In Wald Holz 85, 12: 38-40, WSL (Schweiz) 2004
  8. a b Hubertus Breuer, Korridore des Lebens, in Die Zeit, Ausgabe 52/2002
  9. Beispiel: Naturhistorie des Niederbergischen Landes
  10. K. Sturm: Prozeßschutz – ein Konzept für naturgerechte Waldwirtschaft. Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 2 (1993), S. 181-192
  11. E. Jedicke: Raum-Zeit-Dynamik in Ökosystemen und Landschaften. Naturschutz und Landschaftsplanung 8/9 (1998), S. 229-236
  12. http://www.bfn.de/0311_wildnis.html
  13. http://www.berlin-institut.org/pdfs/Gutachten.pdf
  14. a b Hans Jürgen Böhmer, aus: Politische Ökologie 59 (April 1999): Wa(h)re Wildnis. Ökom-Verlag, München, ISSN 0947-5028, ISBN 3-928244-46-9 B 8400 F

Literatur

  • WWF Deutschland (Hg.): Weisheit der Wildnis - Unser Umgang mit der Erde. Pro Futura, München 1995