Stephen "Steve" Coleman (* 20. September 1956 in Chicago) Jazz-Musiker, Alt-Saxophonist, -Bandleader und -Komponist.
Er gilt als einer der innovativsten und ist zugleich auch einer der umstrittensten Jazzmusiker der Gegenwart.
Der Jazz-Klarinettist Don Byron bezeichnete ihn zu Anfang der 90er Jahre als „Ausnahmemusiker der amerikanischen Musikgeschichte“. Das 'Jazzbuch' von Joachim-Ernst Berendt berichtete im Jahre 1989, also bereits im Anfangsstadium der Entwicklung von Steve Colemans Musik: „Gegen Mitte der achtziger Jahre trat ein junger Musiker auf die Szene, der wie ein ,Bird der heutigen Zeit’ wirkt: Steve Coleman.“ (S. 135).
Biographie
Steve Coleman wuchs in der South Side von Chicago in einem afro-amerikanischen Umfeld auf, in dem Musik eine wichtige, alltägliche Rolle spielte. Er sang zunächst ein wenig in der Kirche und in den damals aktuellen kleinen Gruppen, die die „The Jackson 5“ nachahmten, und begann mit 14 Jahren Alt-Saxofon zu spielen. Im Alter von 17, 18 Jahren wurde seine Beschäftigung mit Musik sehr ernsthaft und seine Bemühungen, improvisieren zu lernen, führten ihn zu Charlie Parkers Musik, die sein Vater ständig hörte, zur Musik von Sonny Rollins, John Coltranes und anderer. - Unter den Musikern, mit denen er persönlichen Kontakt hatte, haben ihn in der Anfangszeit vor allem beeinflusst: Von Freeman hinsichtlich der Improvisation, Sam Rivers hinsichtlich der Komposition und Doug Hammond hinsichtlich des konzeptuellen Verständnisses. Auch west-afrikanische Musik bekam für ihn bereits früh eine wesentliche Bedeutung.
Er wurde bald von etlichen angesehenen, sehr unterschiedlichen Band-Leadern engagiert (Thad Jones-Mel Lewis, Sam Rivers, Cecil Taylor, David Murray, Doug Hammond, Dave Holland). Einen großen Teil seiner ersten Zeit in New York verbrachte er jedoch damit, in einer Straßenmusik-Band, die er mit dem Trompeter Graham Haynes zusammengestellt hatte, ein wenig Geld zu verdienen. Diese Gruppe wurde zur ersten „Steve Coleman and Five Elements“-Band, in der er damals seine Improvisations-Weise entwickelte.
In dieser Zeit entwickelte er mit anderen Musikern auch das so genannte "M-Base"-Konzept, mit dem ein einander verbindendes Verständnis angestrebt wurde, aufgrund dessen die beteiligten Musiker in jeweils eigener Weise ihre Musik gestalten. Elemente dieser Vorstellungen sind: Gegenwartsbezug; Improvisation; Belebung der Kreativität; laufende geistige Weiterentwicklung als Voraussetzung für musikalische Entfaltung; eine nicht der „westlichen“ Zivilisation entsprechende, vor allem aus afrikanischen Kulturen stammende Sichtweise und Ausdrucksart; der Einfluss dieser „nicht-westlichen“ Art auf die musikalische Gestaltung, vor allem hinsichtlich der Entwicklung von Rhythmik und Melodik; die Verbindung der herausragenden Leistungen der Jazz-Geschichte über die Zeiten hinweg durch die Bedeutung dieser Elemente (Näheres siehe: http://www.m-base.com/mbase.html). -- Der Begriff „M-Base“ wurde von Jazz-Kritikern immer wieder missverstanden als stilistische Kategorie oder als Interessensgemeinschaft.
Im Jahr 1985 nahm Steve Coleman seine erste CD als Bandleader auf. Er beschäftigt sich seit den 80er Jahren intensiv mit dem Weltverständnis alter Kulturen, vor allem (angeregt durch das Studium der Musik John Coltranes) mit dem alt-ägyptischen Weltbild. Um die heute noch existierenden, mit den alten Kulturen eng verbundenen Musikformen näher kennen zu lernen, unternahm er zahlreiche Reisen nach Ghana, Cuba, Senegal, Ägypten, Indien, Indonesien und Brasilien.
Die Musik Steve Colemans
Steve Coleman wirkt auf der Linie von Charlie Parker und John Coltrane. Mit diesen Vorgängern und Vorbildern vergleichbar entwickelte er eine neuartige, sich zudem laufend wandelnde, in ihrem eigenständigen Charakter aber konsistente und mit der Jazz-Tradition verbundene Musik von höchster Komplexität und zugleich mit eindringlicher, Tanzmusik naher Wirkung. Das im Jazz vorrangige Element der Rhythmik ist in Colemans Musik mit in der Jazz-Geschichte nur selten erreichter Raffinesse entfaltet.
Für Steve Colemans Improvisations-Stil auf dem Alt-Saxophon ist vor allem charakteristisch:
o ein nicht geräuschhaft-dramatischer, sondern ausbalancierter, einer Singstimme naher, nuancenreicher, lebendiger Ton;
o eine außerordentliche Gewandtheit, Geschmeidigkeit und Flüssigkeit des Spiels;
o völlig eigenständige Melodie-Linien
- mit neuartigen Strukturen, die Steve Coleman als ineinander verschachtelt und kreisförmig beschrieben hat,
- mit höchstentwickelter Rhythmik, die Coleman zu rhythmischen Mustern von zuvor unerreichter Komplexität entfaltet
- mit außerordentlichem Ideenreichtum und
- mit bestechender Stimmigkeit und Melodiosität trotz avancierter Komplexität;
o eine außerordentliche Kunst, mit Melodie-Linien Bewegungen zu vermitteln, einen eindrucksvollen "Tanz der Linien" hervorzubringen, komplex zu 'swingen' und zu 'grooven';
o der Ausdruck einer Wesensart, die das Spektrum der "großen Stimmen" des Jazz um einen wesentlichen Aspekt erweitert: ein In-Balance-Sein, eine Leichtigkeit im Spiel mit Schwierigem, ein Gleichgewicht bei enormer Intensität, ein höchst entwickeltes "Singen und Tanzen", eine tiefgründige Heiterkeit, Helligkeit, Beweglichkeit, eine intelligente Natürlichkeit - ein "Charme der Lebendigkeit".
In Steve Colemans Musik ist sowohl der auf Intuition, Spontaneität, Feeling, Körpergefühl beruhende Aspekt als auch die Kreativität der musiktheoretischen Konzepte in einem außerordentlichen Maß (und von einander untrennbar) entwickelt. Mit seinen intensiven musiktheoretischen Studien bringt Steve Coleman auch seine Beschäftigung mit den in älteren Kulturen entwickelten Sichtweisen in Verbindung, die eine rein rationale Wahrnehmung überschreiten und sich auf symbolische Bedeutungen und Bilder beziehen, was der 'Klang-(Bild-)Sprache' der Musik nahe liegt (das Erleben steht für sich selbst und kann nicht richtig oder falsch sein). Colemans philosophische und spirituelle Bestrebungen sind für seine Musik jedoch noch in einer tiefgründigeren Weise bestimmend, die er selbst so beschrieben hat:
“In unserer Kultur unterscheidet man generell zwischen dem Denken und dem Intuitiven. Man hört ständig dieses Rechte/Linke-Gehirnhälfte-Zeug. .... Was ich studiere, geht in die entgegengesetzte Richtung, dahin, dass beide Dinge (Rationalität und Intuition) wertvoll sind und beide ein und die selbe Sache sind. Es gibt keine Trennung zwischen ihnen. ... In alten Kulturen dachte man so und dadurch waren sie damals zu Dingen in der Lage, von denen wir heute nichts mehr verstehen. ... Das ist die Art des Weges, dem ich folge und dem auch Leute wie Muhal (Richard Abrahams) oder John Coltrane gefolgt sind. Davon redet keiner, weil man es vorzieht, darüber zu reden: 'was für Noten hast du zu diesem Akkord verwendet?'.“
„Die Schöpfer dieser Musik verstanden sie als eine Streitmacht für Kreativität und für positive Dinge. ... Sie hat bewusstseinserweiternde Möglichkeiten. Das ist die Wirkung, die sie auf mich hatte. ... Viele haben mir erzählt, dass meine Musik ihr Leben verändert hat. Ich habe unzählige Male gesehen, wie John Coltranes, Charlie Parkers und Duke Ellingtons Musik das bewirkte. Ich habe erlebt, wie sie Menschen veränderte und wie sie auch mich veränderte. Sie hat eine positive Wirkung, bewusstseinserweiternde Möglichkeiten und eine Tendenz, Menschen emporzuheben zu – das ist schwer zu beschreiben – zu einer Art Erkennen ihrer angeborenen Größe. Ich möchte nicht schmalzig wirken, aber ich denke, dass der Zweck menschlicher Wesen ein höherer ist, als umher zu gehen und einander auf den Schädel zu hauen. ... Ich denke, dass diese Musik die Saat pflanzt für ein Wachsen zu einer höheren Verwirklichung dessen, was wir sind. ... Ich fühlte, dass all die Leute ... wie Beethoven, Bartok, Charlie Parker usw. – gleichgültig in welchem Stil und in welcher Kunst – nach dieser bestimmten Sache gestrebt haben. Daneben waren sie ... technisch großartig. Das ist ebenfalls gut, aber das ist für mich mehr eine gewöhnliche Sache. Man muss nur Übung haben und weiter üben und diszipliniert sein. Es gibt eine Menge Leute in New York, die großartige Musiker sind. ... Worüber ich jetzt spreche, ist aber etwas anderes. ... Ein perfektes Beispiel ist für mich Art Tatum. Er war jemand, der eine fantastische Technik hatte, mehr als die meisten, die ich jemals hörte. ... Aber gleichzeitig hatte seine Musik das, was sein Klavierspiel auf ein anderes Niveau hob. ... Es geht nicht um die Technik, die Charlie Parker hatte, oder so etwas. Es wird auf unterschiedliche Weise ausgedrückt. Man nennt es „Soul“ oder so ähnlich. Es ist etwas, das schwer erfassbar ist. Es ist gewöhnlich nicht sofort offensichtlich. Es ist etwas, das zu der Zeit, in der es geschaffen wird, von den Zeitgenossen normalerweise nicht im gleichen Licht gesehen wird, wie man es später zu sehen lernt. Es ist etwas, das gewaltig ist, so wie Coltranes Musik. Man hasst es oder liebt es. Es lässt nichts dazwischen zu, denn es ist so gewaltig und trifft einen mit solcher Wucht, dass man entweder völlig mitten drinnen ist oder nichts damit anfangen kann. Es mag für einen zu stark sein, einfach zu viel. Ich strebe nach dieser Art von Dingen, die im Bewusstsein explodieren.“ (http://m-base.com/coleman_interview_01.html)
Rezeption und Wirkung
Steve Coleman ist einer der umstrittensten Jazzmusiker der Gegenwart. Seine höchst komplexe, rhythmische Musik wird von Kritikern und Hörern sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Reaktionen reichen von glühender Verehrung bis zum Vorwurf der esoterischen Scharlatanerie.
Unbestritten ist, dass Steve Coleman eine der bedeutendsten Stimmen im Jazz der Gegenwart ist. Die Fähigkeiten Colemans als Komponist, Instrumentalist und Bandleader werden allgemein sehr hoch eingeschätzt. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch darin, dass er und auch andere Musiker seiner Bands herausragende Solisten sind. Seine Konzeption des Musikmachens und -vermittelns, die nicht nur spirituelle und philosophische Aspekte mit einbezieht, sondern auch die wirtschaftlichen Bedingungen der Produktion und des Vertriebes von Musik kritisch durchleuchtet, gilt vielen als wesentlich und zukunftsweisend. Von zahlreichen Kritikern wird auch Colemans Ansatz, moderne, groovende Rhythmen und Elemente nicht-westlicher Musik mit komplexem, innovativem Jazz zu verbinden, als Weg zu einer Musik voller rhythmischer und melodischer Prägnanz und Lebendigkeit hoch gelobt.
Viele andere empfinden die komplexe Polyrhythmik und Melodieführung in seiner Musik aber als nur schwer nachvollziehbar, „konstruiert“ und nicht swingend. Darüber hinaus werden seine philosophischen Ansichten teilweise mit großer Skepsis betrachtet. Kritiker bemängeln, dass die Musik Steve Colemans oft hinter den von ihm selbst in Statements, Liner Notes oder Titeln seiner Platten und Stücke formulierten Ansprüchen zurückbleibt.
Aufnahmen
Steve Coleman distanziert sich von kommerziellen Gesichtspunkten und wird von der Musikindustrie daher nur unzureichend präsentiert. Er macht dem Publikum einen großen Teil seiner Aufnahmen als Download über seine Internetseite www.m-base.com zugänglich.
Die zuletzt (in den Jahren 2003 und 2004) in Konzerten gespielte Musik der Steve-Coleman-Band ist bisher auf offiziellen CDs nicht festgehalten. Am ehesten verschafft die CD „Resistance Is Futile“ (2001) davon einen Eindruck. Die CDs „On The Rising Of The 64 Paths“ und „Alternate Dimension Series I“ (die letzte ist nur durch Download erhältlich) sind ausgezeichnete Studio-Aufnahmen der näheren Vergangenheit. Die zuletzt erschienene, sehr eindrucksvolle CD „Lucidarium“ (2003) hat einen ausgeprägt konzeptuellen, avancierten Charakter (Erweiterung des tonalen und rhythmischen Systems), der großteils eher weiter von Steve Colemans Live-Musik entfernt liegt.
Weblinks
Literatur
Berendt, Joachim-Ernst, Das Jazzbuch, Wolfgang Krüger Verlag, 1989
Broecking Cristian, Der Marsalis-Faktor, Oreos, 1995
Broecking Christian, Respekt!, Verbrecher Verlag, Berlin, 2004
Personendaten | |
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NAME | Coleman, Stephen |
KURZBESCHREIBUNG | Jazz-Musiker, Alt-Saxophonist, Leader |
GEBURTSDATUM | 20. September 1956 |
GEBURTSORT | Chicago |