Sexagesimalsystem

Stellenwertsystem zur Basis 60
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 19. August 2008 um 17:10 Uhr durch HaSee (Diskussion | Beiträge) (Link auf BKL ersetzt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Das Sexagesimalsystem ist ein Stellenwertsystem mit dem Wert 60 (lat. sexagesimus – der sechzigste) als Basiszahl.

Herkunft

Erstmalige Nachweise als schriftliches Rechensystem reichen in die Zeit der Sumerer um 3300 v. Chr. zurück. Im weiteren Verlauf wurde es in der babylonischen Mathematik ab ca. 2000 v. Chr. verwendet. Die Hauptquellen zur Mathematik stammen aus der Zeit 1900 v. Chr. bis 1600 v. Chr. und zeigen deutlich die vorhandenen Muster der Akkader und Sumerer. Die nachalexandrinische Zeit zeigt unter den Seleukiden zunehmend griechische Einflüsse, die eine Synergie mit den babylonischen Kenntnissen eingingen, um später die gesammelten Erfahrungen der Sumerer, Akkader, Assyrer und Babylonier vollends nach Griechenland zu exportieren. Arabische Astronomen benutzten in ihren Sternenkarten und -tabellen die Schreibweise des berühmten griechischen Astronomen Ptolemäus, die auf sexagesimalen Brüchen basierte. Auch frühe europäische Mathematiker wie Fibonacci benutzten solche Brüche, wenn sie nicht mit ganzen Zahlen operieren konnten.

Als Motiv für die Einführung eines Sexagesimalsystems führen viele Historiker die Astronomie an, da die sumerischen und babylonischen Monate 12 × 30 Tage umfassten und deren Jahr 360 Tage hatte.[1] Weitere Hinweise finden sich in der frühen Zählung der Mondmonate, die bis in das Jahr 35.000 v. Chr. nachgewiesen werden können (Kalender-Stöckchen). In der Republik Tschechien wurde der Speichenknochen eines Wolfes aus dem Jahr 30.000 v. Chr. entdeckt, der zwei Reihen mit insgesamt 55 Einkerbungen aufweist.[2] Genaue Analysen zeigten, dass die Markierungen mit den Mondphasen in Verbindung stehen.

Das Sexagesimalsystem in der babylonischen Verwendung

Die Sumerer verwendeten vor den keilschriftlichen Zeichen für die Zahl 1 das Symbol eines Halbkreises und einen vollen Kreis für die Zahl 10. Es finden sich weitere Hinweise, dass die Sumerer neben dem modernisierten babylonischen Sexagesimalsystem ein Vorläufer-Modell auf gleicher Basis besaßen, in welchem noch weitere Rechenzwischenschritte mit der Basis 6, 10, 60, 360, 3.600, 21.600 und 216.000 eingelegt wurden. Diese Schritte weisen auf eine wechselnde Basisberechnungsfolge 6,10,6,6,10,6,10 und 6 hin. Die Babylonier änderten dann die optische Form der sumerischen Zahlzeichen, nicht aber die Wertzuweisungen.

Die Zahlzeichen

Gründe für die Verwendung des Sexagesimalsystems liegen in der effektiven Rechenmethode sowie der sehr begrenzten Anzahl von Einzelzahlzeichen, aus denen die Zahlen gebildet wurden. Einige Beispiele der babylonischen Keilschrift:

Sexagesimalsystem in Form der Keilschrift
  1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 30 40 50
                                               


Weitere Zahlenbeispiele:

   = 129,    = 122 und    = 62.

Die Zahlzeichen setzten sich aus nur zwei Einzelzahlzeichen zusammen. Insofern war die Anzahl der eigentlichen Zahlzeichen nicht begrenzt, obwohl nur auf zwei Einzelzahlzeichen Bezug genommen wurde, die, je nach Bedarf, in den Größen verändert wurden. Es gibt dennoch immer wieder Probleme bei der Lesung, da manchmal die Größenzuordnung identisch war, obwohl unterschiedliche Zahlen gemeint waren. Später, im 6.Jahrhundert v. Chr., kam der Wert Null als weiteres Zahlzeichen hinzu. Der Wert Null wurde als Leerzeichen geschrieben. Den Babyloniern gebührt damit der Rang als Erfinder der schriftlichen Verwendung des Wertes Null, der aber keinen direkten Eingang in die Rechenoperationen fand. Die Inder hatten dagegen als erste Kultur dem Leerzeichen Null später einen mathematischen Wert Null als geschriebene Zahl zugeordnet.

Rechentechnik

Addieren und Subtrahieren

Durch das Stellenwertsystem konnte, wie bei unserem Dezimalsystem, die vorangehende Stelle um jeweils 1 erweitert oder reduziert werden. Durch die Form der Keile war das Sexagesimalsystem leichter, da nur die Keile zusammengesetzt werden mussten. Die mathematischen Symbole plus und minus waren unbekannt. Stattdessen wurden die Ausdrücke Vermehren bzw. Wegziehen verwendet. Negative Ergebnisse in Form von minus Zahl wurden mit dem Ausdruck Subtrahend geht darüber hinaus ausgedrückt.

Beispiel einer Addition

 

ergibt als Zahl 90, aber 1,30    in Schreibweise des Sexagesimalsystems.

Die 1 vor dem Komma gibt den Wert 60 an, zu dem die Zahl 30 nach dem Komma addiert wird.

Beispiel einer Subtraktion

 

ergibt als Zahl 70, aber 1,10    in Schreibweise des Sexagesimalsystems.

Die 1 vor dem Komma gibt den Wert 60 an, zu dem die Zahl 10 nach dem Komma addiert wird.

Division

Mit Hilfe des reziproken Wertes vom Divisor nahmen die Babylonier die Umrechnung vor:

Die Division:   wird umgewandelt in die Rechnung:  

Zwei Beispiele

1.Beispiel:   wird umgewandelt zu:  , im Ergebnis dann:  , wobei 30 die Hälfte von 60 darstellt.

2.Beispiel:   wird umgewandelt zu:  , im Ergebnis dann:  , wobei 20 ein Drittel von 60 darstellt.

Aus den Ergebnissen wurden Reziprokentabellen erstellt, die der Verwendung der Multiplikationstabellen ähneln. Werte, die keine ganzen Zahlen aufweisen, wurden als irreguläre Zahlen bezeichnet, die in der babylonischen Sprache mit geht nicht notierten. In derartigen Fällen wurde dann mit Näherungswerten gearbeitet.

Reziproktabelle
n Wert n Wert n Wert n Wert n Wert n Wert n Wert n Wert n Wert n Wert
2
30
3
20
4
15
5
12
6
10
8
7,30
9
6,40
10
6
12
5
15
4
16
3,45
18
3,20
20
3
24
2,30
25
2,24
27
2,13,20
30
2
32
1,52,30
36
1,40
40
1,30
45
1,20
48
1,15
50
1,12
54
1,6,40
60
1
1,4
56,15
1,12
50
1,15
48
1,20
45
1,21
44,26,40

Multiplikation

Für Rechenoperationen aus dem Bereich Multiplikation wurden Multiplikationstabellen verwendet. Gängige Ergebnisse, die zuvor im Additionsverfahren errechnet wurden, konnten so hinter der Kopfzahl abgelesen werden. Eine Kopfzahl stellte die Grundzahl dar, z.B. 2, während die Multiplikationen als Ergebnisse, z.B. 2, 4, 6, 8 usw., hinter der Kopfzahl standen. Logisch wäre demnach eine Tabelle, die eine ähnliche Struktur der Reziproktabelle hätte. In der täglichen Verwendung von Multiplikationen wurden jedoch nur die Zahlen aufgeführt, die sehr oft im Gebrauch waren. Ein weiterer Grund ist das Zusammenwirken mit den Werten aus der Reziproktabelle. Wurden dennoch andere Werte benötigt, erfolgte der Versuch einer Zusammensetzung von Zahlen.

Multiplikationstabelle
1,15
1,20
1,30
1,40
2
2,13,20
2,15
2,24
2,30
3
3,20
3,45
4
4,30
5
6
6,40
7
7,12
7,30
8
8,20
9
10
12
12,30
15
16
16,40
18
20
22,30
24
25
30
36
40
44,26,40
45
48
50

Wurzelrechnung

Auf einer babylonischen Tontafel (Yale Babylonian Collection 7289) findet sich eine Näherungsrechnung für die Wurzel aus 2:

 

Im weiteren Text findet sich der Eintrag: Wenn die Seitenlänge eines Quadrats 30 beträgt, so ist seine Diagonale:

 

Das Beispiel zeigt, dass die Babylonier algebraische und trigonometrische Kenntnisse hatten. Den Näherungswert von Wurzel aus 2 erhielten sie mit Hilfe der Iteration:

 

Der Satz des Pythagoras in Babylon

 
Rechtwinkliges Dreieck mit drei Quadraten a², b², c²

Auf einer babylonischen Keilschrifttafel fand sich der folgende Text:

Ein Balken, (er ist) 30 (GAR lang)
Von oben ist er 6 herabgekommen.
Von unten was hat er sich entfernt?
30 quadriere, 15,0 (900) siehst du.
6 von 30 abgezogen, 24 siehst du.
24 quadriere, 9,36 (576) siehst du.
Datei:Pythagoras von Samos.png
Pythagoras von Samos
9,36 (576) von 15,0 (900) ziehe ab, 5,24 (324) siehst du.
5,24 (324) hat was als Quadratwurzel ? 18.
18 am Boden hat er sich entfernt.

Daraus ergibt sich:  , mithin:  

Die Babylonier kannten die abstrakte Formelverwendung nicht; ihre mathematischen Kenntnisse wurden in der Praxis umgesetzt, ohne für wiederkehrende Rechenoperationen allgemeine Grundsätze zu notieren.

Pythagoras von Samos sollte es vorbehalten bleiben, aus den praktischen Erkenntnissen der Babylonier und Ägypter mathematische Grundsätze zu entwickeln, die sich zu der fundamentalen Aussage Satz des Pythagoras in der euklidischen Geometrie entwickelte. Er besagt, dass in allen ebenen rechtwinkligen Dreiecken die Summe der Flächeninhalte der Kathetenquadrate gleich dem Flächeninhalt des Hypotenusenquadrates ist.

Heutige Verwendung

Das Sexagesimalsystem wird heute noch verwendet, um Winkel und geographische Längen und Breiten anzugeben. Auch im Bereich der Zeitmessung hat es sich noch erhalten. Eine Stunde hat 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden.

Weitere Informationen

Ein direkter Verwandter dieses Stellenwertsystems ist das Duodezimalsystem mit der Basis 12.

Einzelnachweise

  1. J.P. McEvoy Sonnenfinsternis, Berlin-Verlag 2001, S.43
  2. Richard Mankiewicz: Zeitreise der Mathematik - Vom Ursprung der Zahlen bis zur Chaostheorie, VGS Verlagsgesellschaft Köln 2000.

Literatur

  • Richard Mankiewicz: Zeitreise der Mathematik - Vom Ursprung der Zahlen bis zur Chaostheorie, VGS Verlagsgesellschaft Köln 2000, ISBN 3-8025-1440-8.
  • Robert Kaplan: Die Geschichte der Null. Gebundene Ausgabe: Campus Verlag, Frankfurt/M. 2000, ISBN 3-593-36427-1. Taschenbuchausgabe: Piper Verlag, 2003, ISBN 3-492-23918-8.