Sichtweiten (Verkehrsplanung)
Beim Entwurf von Straßen ist eine ausreichende Sichtweite auf freier Strecke nachzuweisen. Aus Gründen der Leistungsfähigkeit und Verkehrssicherheit eines Straßenabschnittes muss gewährleistet sein, dass der Fahrzeugführer eine ausreichende Strecke vor seinem Fahrzeug übersehen kann, wenn er plötzlich vor einem Hindernis anhalten muss oder einen Überholvorgang durchführen möchte.
Die Sichtweite auf freier Strecke ist nicht zu verwechseln mit der Sichtweite am Knotenpunkt. Dort werden die Anfahrsicht, die Annäherungssicht und die Haltesicht als Bemessungskriterium herangezogen.
Haltesichtweite
Eine ausreichende Sichtweite, die es dem Fahrer eines Fahrzeuges ermöglicht, den Streckenverlauf und die Streckencharakteristik in Fahrtrichtung zu erfassen und sein Fahrverhalten dementsprechend zu regulieren, ist eine Forderung, die über den gesamten Verlauf der Strecke in beiden Fahrtrichtungen erfüllt sein muss, um Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Als Haltesichtweite wird die Strecke bezeichnet, die ein Fahrer benötigt, um sein Fahrzeug bei unerwarteten Hindernissen auf der Fahrbahn zum Halten zu bringen. Die Ermittlung der Haltesichtweite und die Bemessungskriterien werden durch die Richtlinien für die Anlage von Straßen; - Teil Linienführung (RAS-L), Ausgabe 1995 des Bundesministeriums für Verkehr festgelegt.
Maßgebende Geschwindigkeit
Als Basisgeschwindigkeit für Sichtweitenbeurteilungen wird die Geschwindigkeit v85 herangezogen, die sich aus der Entwurfsgeschwindigkeit vE ableitet. Die v85 ist die Geschwindigkeit, die das tatsächliche Fahrverhalten beschreibt, welches von 85% der unbehindert fahrenden Pkw auf nasser Fahrbahn nicht überschritten wird. Bei einbahnigen Querschnitten der Straßenkategorie A (anbaufreie Straßen) wird dafür folgende Formel verwendet:
Tatsächliche Sichtweite
Vor einer Bewertung der Sichtweite nach den Kriterien Haltesicht- und Überholsichtweite muss die tatsächliche Sichtweite abschnittsweise und getrennt für beide Fahrtrichtungen ermittelt werden. Ähnlich wie beim Krümmungsband und beim Querneigungsband wird dazu ein Sichtweitenband gezeichnet, dessen waagrechte X-Achse aus der Stationierung der Achselemente ermittelt wird. Die Sichtweiten in beiden Fahrtrichtungen werden senkrecht dazu in einem geeigneten Maßstab aufgetragen und durch Linien mit unterschiedlichem Strichmuster verbunden. Da die Sichtweiten auch vom Verlauf der Gradiente der Achse abhängen, wird das Sichtweitenband auf dem Höhenplan im gleichen Längenmaßstab gezeichnet und ist dann mit der Gradienten- und Krümmungsdarstellung direkt vergleichbar.
Die Ermittlung der Sichtweite erfolgt in zwei Stufen:
- Im Lageplan wird eine Linie eingezeichnet, die 1,80 m parallel zum linken Rand des Fahrstreifens ist. Auf dieser Linie wird ein so genannter „Augpunkt“ (auch Augenpunkt)ausgewählt, also ein Punkt, der ungefähr der Position des Fahrers entspricht. Vom Augpunkt aus wird eine Gerade konstruiert, welche am kritischen Punkt gerade noch innerhalb der Fahrbahnbreite zuzüglich Bankette liegt. Der Abstand vom Augpunkt bis zum Schnittpunkt dieser Geraden mit der gewählten Hilfslinie ist die Sichtweite im Lageplan. Maßgebend ist für jede Fahrtrichtung jeweils die Seite, die durch die Krümmung der Strecke den kleineren Abstand liefert. Die Folge der Augpunkte wird - abhängig von der Kurvigkeit der Strecke – so dicht gewählt, dass eine lineare Entwicklung der Sichtweiten von Augpunkt zu Augpunkt ungefähr gegeben ist.
- Die Sichtweite aus dem Lageplan, also die horizontale Sichtweite, muss anhand der Gradiente auf vertikale Einschränkungen überprüft werden, schwerpunktmäßig im Bereich von Kuppen. Hier gelten folgende Bedingungen:
- Höhe Augpunkte über der Fahrbahn: 1,00 m
- Höhe Zielpunkte über der Fahrbahn: 0,00 m (v85=60 km/h) bis 0,35 m (v85=100 km/h)
- Die Verbindungslinie Augpunkt – Zielpunkt darf die Höhe der Gradiente in diesem Abschnitt nirgends unterschreiten.
Gegebenenfalls müssen die Rohsichtweiten aus dem Lageplan auf diesen Wert korrigiert werden. Im Bereich von Wannen ist es eventuell auch notwendig, die lichte Höhe von kreuzenden Brückenbauwerken mit dieser Methode zu prüfen.
Überprüfung der Haltesichtweiten
Auch die Berechnung der notwendigen Haltesichtweiten muss getrennt für beide Fahrtrichtungen und abschnittsweise vorgenommen werden, da sie von der Längsneigung abhängig sind. Die RAS-L enthält ein Diagramm zur Entnahme der Werte und gibt zur überschlägigen Berechnung folgende Näherungsformeln an:
erforderliche Haltesichtweite [m] | ||
Weg der Reaktions- und Auswirkdauer [m] | ||
reiner Bremsweg [m] | ||
tangentialer Kraftschlußbeiwert [-] |
[km/h] | Geschwindigkeit v85 | ||
[s] | Reaktions- und Auswirkdauer (tR = 2 s) | ||
[m/s2] | Erdbeschleunigung (g = 9,81 m/s2) | ||
[-] | Steigung |
Die Werte der notwendigen Haltesichtweiten werden analog zu den tatsächlichen Haltesichtweiten aufgetragen. In keinem Bereich der Strecke dürfen die tatsächlichen Haltesichtweiten die Linie der notwendigen Haltesichtweiten unterschreiten.
Auswirkung auf den Trassenentwurf
Schon in der frühen Entwurfsphase muss der Achs- und Gradientenentwurf bei der Feinabstimmung auch bezüglich der Sichtweiten überprüft werden. Kommt es hier zu Konflikten, sind Achse und Gradiente so zu ändern, dass diese beseitigt werden. Oft genügt es, nur einige Abschnitte der Achse im Auge zu behalten, denn die Problemstellen bezüglich der Sichtweiten sind relativ leicht zu sehen. Im Lageplan sind das vor allem die Trassenabschnitte, deren Entwurfsparameter nahe an der Untergrenze der gewählten Entwurfsgeschwindigkeit vE liegen. Im Höhenplan trifft dies auf die Kuppenausrundungen zu. Die Feinabstimmung und Optimierung der Achse eines Verkehrsweges ist oft ein langwieriger, iterativer Prozess, vor allem dann, wenn durch schwieriges Gelände hoher „Anpassungsdruck“ besteht, eine fahrdynamisch gute Trasse mit wirtschaftlicher Ausführung und Unterhaltung und guter Integration in das Landschaftsbild zu entwerfen.
Überholsichtweite
Eine ausreichende Sichtweite, die es dem Fahrer eines Fahrzeuges ermöglicht, den Streckenverlauf und die Streckencharakteristik in Fahrtrichtung zu erfassen und sein Fahrverhalten dementsprechend zu regulieren, ist eine Forderung, die über den gesamten Verlauf der Strecke in beiden Fahrtrichtungen erfüllt sein muss, um Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Neben der Haltesichtweite ist bei Verkehrswegen die Überholsichtweite bei der Gestaltung der räumlichen Linienführung wichtig, in diesem Fall jedoch mehr als Option, die auf einen guten Verkehrsfluss zielt.
Die Ermittlung der Überholsichtweite und ihre Bemessungskriterien werden durch die Richtlinien für die Anlage von Straßen; - Teil Linienführung (RAS-L), Ausgabe 1995 des Bundesministeriums für Verkehr festgelegt.
Maßgebende Geschwindigkeit
Als Basisgeschwindigkeit für Sichtweitenbeurteilungen wird wie im Fall der Haltesichtweite die Geschwindigkeit v85 herangezogen, die sich aus der Entwurfsgeschwindigkeit vE ableitet.
Überprüfung der Überholsichtweiten
Die RAS-L legt die erforderliche Überholsichtweite abhängig von der Geschwindigkeit v85 fest. Diese beträgt beispielsweise:
Überholsichtweite in Abhängigkeit zur Geschwindigkeit v85
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Diese Sichtweiten bauen auf folgendem Modell auf:
- Das zu überholende Fahrzeug fährt mit der Geschwindigkeit .
- Das entgegenkommende Fahrzeug fährt mit der Geschwindigkeit v85.
- Das überholende Fahrzeug beschleunigt von der Geschwindigkeit v85 auf während es auf den Gegenfahrstreifen ausschert. Dort hält das Fahrzeug diese Geschwindigkeit bei, bis das langsamere Fahrzeug überholt ist. Es schert danach wieder in seinen Fahrstreifen ein und hat dabei sowohl zum entgegenkommenden als auch zum überholten Fahrzeug den erforderlichen Sicherheitsabstand.
Eine ausreichende Überholsichtweite ist dann vorhanden, wenn die tatsächliche Sichtweite gleich oder größer der per Definition als Mindestlänge vorgesehenen Überholsichtweite ist.
Berücksichtigung der Überholsichtweite beim Trassenentwurf
Im Gegensatz zur Haltesichtweite, die über die gesamte Länge der Trasse vorhanden sein muss, genügt für sichere Überholvorgänge ein Streckenanteil von 20 bis 25% der Gesamtstrecke, wobei die Verteilung dieser Bereiche ungefähr gleichmäßig sein sollte. Lässt sich dieser Streckenanteil nicht durch Änderungen im Achs- und Gradientenentwurf steigern, weil dies z. B. aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und des Landschaftsschutzes nicht möglich ist, kann eventuell ein zusätzlicher Fahrstreifen Abhilfe schaffen. Solche Abschnitte sind in der jeweiligen Fahrtrichtung voll auf die Überholbereiche anrechenbar, da hier Überholvorgänge nicht den Gegenverkehr tangieren.
Bei der Entwurfsplanung sind bezüglich der Überholsichtweite folgende Punkte zu beachten:
- Die Überholsichtweite ist vor allem für bei anbaufreien, im Gegenverkehr benutzten Straßen der Kategorie A zu prüfen und in die Entwurfskriterien einzubeziehen. Bei angebauten Straßen der Kategorien B I und B II besteht aus Gründen der Verkehrssicherheit (Abbiegeverkehr) kein Anspruch auf Überholsichtweite.
- Sichtweiten im Bereich der halben bis vollen Überholsichtweite führen zu Fehleinschätzungen, die der Verkehrssicherheit abträglich sind.
- Wird in solchen Bereichen ein Überholverbot angeordnet, ist zu prüfen, ob der langsame landwirtschaftliche Verkehr sicher überholt werden kann. Wenn dies der Fall ist, kann durch eine Zusatzbeschilderung das Überholen dieser Fahrzeuge freigegeben werden.
- Bei begrenzten Sichtweiten ist die räumliche Linienführung sehr sorgfältig zu prüfen. Wenn im Rahmen der Überholsichtweite Streckenteile unter die vertikale Sichtbegrenzung „abtauchen“ und danach wieder ohne deutlich erkennbaren Versatz sichtbar hervortreten, sind gefährliche Überholvorgänge durch Fehleinschätzung der Situation möglich. Hier muss die Linienführung so geändert werden, dass dies nicht mehr der Fall ist.
- Zwar ist die Überholsichtweite kein vorrangiges Entwurfskriterium, aber sie sollte aus Gründen der Verkehrssicherheit so in eine Planung einfließen, dass in der Erfassung der Streckencharakteristik aus der Fahrersicht keine Fehlinterpretationen auftreten können. Überholverbote sind eventuell notwendig, aber man darf sie nicht von vornherein vorsehen. Sie verlieren viel Wirkung, wenn ihr Sinn nicht aus dem Streckenverlauf erkennbar ist.