Gnosis
Gnostizismus (von griechisch γνωσις gnosis Erkenntnis) bezeichnet eine religiöse Lehre des 2. und 3. Jahrhunderts. Der Begriff wird auch für moderne esoterische Bewegungen in der Tradition des Gnostizismus verwendet.
Sprachgebrauch
Gnosis, Gnostik und Gnostizismus werden oft unterschiedslos verwendet. Zunächst bezeichnet Gnosis ein religiöses Geheimwissen, das die Anhänger des Gnostizismus (Gnostiker) nach eigenem Verständnis von der übrigen Menschheit abhebt. In der christlichen Literatur des zweiten und dritten Jahrhundert war Gnostiker eine gängige Bezeichnung für christliche Intellektuelle, Gnosis bedeutete Erkenntnis im allgemeinen Sinn. Gnostische Bewegungen im spezifischen Sinn wurden dagegen nach ihren Führern oder Gründern als Valentinianer, Simon Magus oder Basilidianer bezeichnet. Die Selbstbezeichnung als Wissende oder Erkennende, welche in der Antike bestimmte Gruppen von Christen verwendeten, wurde im Gefolge der Polemik antignostischer christlicher Theologen ausgedehnt auf jenen geistig nahestehende Gruppierungen und Lehren, welche Glaubensinhalte mit spekulativ-philosophischen Elementen versahen und unter verschiedenen Hinsichten in Abhängigkeits- oder Ähnlichkeitsbeziehungen zu stehen scheinen. Im Gefolge antiker Theologen setzte man dabei oft fraglos eine einheitliche Bewegung namens Gnosis voraus. Der Begriff Gnostizismus entstammt der Neuzeit. Der englische Philosoph und Theologe Henry More prägte ihn im 17. Jh. zur Zusammenfassung sämtlicher christlicher Häresien. Seit dem 18. Jahrhundert dient Gnosis oder Gnostizismus auch als Interpretationskategorie für zeitgenössische religiöse oder philosophische Strömungen (etwa bei F. C. Baur, Fichte oder R. Steiner). Damit gerät freilich das religionsgeschichtliche Phänomen, welches in der Antike als Gnosis bezeichnet wird, aus dem Blick. Auf dem Gnosis-Kongress von Messina wurde daher 1966 eine präzisere Sprachregelung vorgeschlagen. Danach bezeichne Gnosis ein "Wissen um göttliche Geheimnisse, das einer Elite vorbehalten ist", Gnostizismus hingegen "eine bestimmte Gruppe von Systemen des 2. Jahrhunderts nach Christus", welche durch historische und typologische Merkmale umgrenzt wird. Dieser Vorschlag steht nicht nur in Konflikt mit der Begriffsgeschichte (etwa insofern er das religionsgeschichtliche Phänomen von einem für Historiker unbrauchbaren Gnosis-Begriff abtrennt), sondern ist auch unterbestimmt. In der jüngeren Diskussion ist - abhängig von der historischen Einschätzung - umstritten, ob Gnosis als Bewegung innerhalb der christlichen Religion (mit möglicherweise vorchristlichen Vorstufen) zu fassen ist (so etwa Harnack) oder als Weltanschauung oder Religion, die sich verschiedenen Religionen anpassen kann (so etwa Quispel und zeitweise Hans Jonas). Hierbei wird unterschiedlich beurteilt, ob Gnosis eine ursprünglich eigenständige Religion oder einen Versuch darstellt, die jüdisch-christliche Religion philosophisch zu untermauern, was dann in der manichäischen Religion endet. Insbesondere jüngere Textfunde haben die Einsicht geschärft, dass es ein einheitliches Phänomen Gnosis nur im Rahmen typologischer Konstruktionen gibt (so etwa Markschies). Teilweise behalten Religionswissenschaftler den Terminus Gnostizismus auch den ausgearbeiteteren System des späten 2. und 3. Jh.s vor. Im angelsächsischen Sprachgebrauch hat sich der Terminus gnosticism weitgehend zur religionswissenschaftlichen Eingrenzung auf spezifische mythische Erscheinungsformen durchgesetzt.
Hauptmerkmale des Gnostizismus
- Der Gnostizismus sieht die materielle Welt als böse Schöpfung eines eigenen Schöpfergottes oder Assistenten, mithin wird der Körper negativ beurteilt, der Gnostiker erfährt sich als fremd in der Welt.
- Von diesem Demiurgen unterschieden gilt ein vollkommen jenseitiger, oberster Gott.
- Von ihm stammt ein göttliches Element, welches - wie in einem mythologischen Drama erklärt wird - als göttlicher Funke im Menschen schlummert.
- Für den Menschen ist nun entscheidend, diesen verborgenen Funken zu erkennen und nicht der materiellen Welt verhaftet zu bleiben.
- Eine jenseitige Erlösergestalt verschafft Erkenntnis dieses Zustandes, indem sie aus einer oberen Sphäre hinab- und wieder hinaufsteigt.
- Der Gnostizismus ist also eine dualistische Lehre, nach der sich jeder Mensch in einer Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel, Geist und Körper finde.
- Der Gnostizismus ist mithin eine Lehre, die sich auf geheimes Offenbarungswissen bezieht, das nicht allgemein zugänglich ist.
Antiker Gnostizismus
Ähnlichkeiten zum und Einflüsse auf den christlichen Gnostizismus diskutiert man für religiöse Bewegungen im syrischen, persischen und jüdischen Umfeld. Die exakten Abhängigkeiten und Einflüsse dieser Bewegungen untereinander sind schwierig feststellbar und umstritten, inwieweit man sie bereits gnostisch nennen kann, hängt stark davon ab, wie man diesen Begriff versteht. Die Annahme einer "jüdischen Gnosis" etwa ist im Gegesnatz zur Rede von "jüdischen Wurzeln der Gnosis" umstritten, weil viele Charakteristika und ein Interesse an alttestamentlichen biblischen Texten fehlen.
Aufschluss hat man vor allem vom Gnostizismus im frühen Christentum, wobei Elemente der antiken griechischen Philosophie und Religiösität (insbesondere Mittelplatonismus und Neupythagoräer, Seelenwanderungslehre), persischer (insbesondere Zoroastrismus), babylonischer und ägyptischer Religionen auszumachen sind. Auch Zusammenhänge mit dem etwa gleichzeitig in Nordindien entstandenen Mahayana-Buddhismus werden erwogen.
Quellen
Bis ins 20. Jahrhundert waren Historiker und Religionswissenschaftler weitgehend angewiesen auf Textüberlieferungen bei frühchristlichen Theologen wie Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandrien, Hippolyt von Rom, Origenes oder Epiphanius von Salamis oder Darstellungen in freilich oft polemischer Verzeichnung etwa bei Justin oder Tertullian. An Originaltexten vor allem in koptischer Sprache sind zu nennen die Codices Askewianus (meist als Pistis Sophia bezeichnet) und Brucianus (meist Bücher des Jeû genannt), der als Papyrus Berolinensis 8502 inventarisierte Berliner Codex (mit dem Evangelium nach Maria, dem Apokryphon des Johannes und der Sophia Jesu Christi).
Eine wesentlich breitere Textgrundlage kommt in den Blick, seit 1945/1946 bei Nag Hammadi in Ägypten eine ganze Bibliothek auch gnostischer Schriften gefunden, darunter Parallelen zu den neutestamentlichen Gattungen wie das Thomasevangelium, eine Apokalypse des Paulus und eine des Petrus (sämtlich freilich pseudepigraphisch), die Paraphrase des Seem.
Desweiteren sind manichäische Texte zu nennen: die Funde aus Turfan und aus der Oase Dakhleh, die Bibliothek von Medinet Madi, der Kölner Mani-Codex.
Das Corpus Hermeticum sowie die Hekhalot-Literatur sind, was ihren gnostischen Charakter betrifft, zumindest umstritten (es fehlen im ersteren Falle widergöttliche Kräfte und ein sie bezwingender Erlöser, im zweiten Falle fehlt ein mythologisches Drama um den göttlichen Funken, hier ist eher an eine Nebenform des antiken Judentums zu denken).
Nichtchristlicher Gnostizismus
Ursprünge (bzw. Einflüsse auf den christlichen Gnostizismus) findet man im Zoroastrismus, der bereits 600 v.Chr. den Unterschied zwischen dem bösen Demiurgen Ahriman und dem guten Gott Ormuzd kannte.
Die Mandäer sind eine bis heute in verschwindenden Minderheiten im Irak und Iran existierende gnostische Religion.
Der Manichäismus war eine gnostisch geprägte antike Weltreligion, in welche viele christliche gnostische Gemeinden aufgingen und die später u.a. vom Islam überlagert und vom großkirchlich konstituierten Christentum bekämpft wurde.
Christlicher Gnostizismus
Für das frühe im Entstehen begriffene großkirchliche Christentum bedeutete der Gnostizismus die Gefahr einer Abkehr von den jüdischen und neutestamentlichen Wurzeln mit ihrem Monolatrismus, ihrer grundsätzlich positiven Sicht der Materie und des Leibes (eine Inkarnation wäre für einen Gnostiker undenkbar) hin zu einer esoterischen und elitären Innerlichkeit, einer unkontrollierten Fortschreibung der Offenbarung und einer spekulativen Verfremdung.
Reflexe des christlichen Interesses für die Gnosis diskutiert man etwa für den Epheserbrief oder den Kolosser-Brief, wo Paulus vor "Philosophie und leerem Betruf" (2,8) warnt. Für das Johannesevangelium nahm etwa Bultmann Elemente einer gnostischen Erlösungslehre an, dem widersprechen aber entscheidende Merkmale (kein Mythos einer Weltschöpfung durch einen bösen Demiurgen, Inkarnation und Leiden am Kreuz statt Doketismus), wenngleich sich gnostische Theologen gerne auf das Johannesevangelium beziehen, etwa wegen dem Beginn mit der Erschaffung der Welt und einer schroffen, nur durch Christus durchbrochenen Trennung zwischen Licht und Finsternis, oben und unten.
Frühe Vertreter der Gnosis sind Simon Magus, Menander, Saturninus, Basilides.
Große Systementwürfe und gnostische Schulen entstehen im 2. und 3. Jh., vor allem die Valentinianer und die sogenannten Barbelo-Gnostiker, auch die Ophiten. Für die sogenannte sethianische Gnosis wird eine Gruppenidentität oft bezweifelt, zumal die entsprechenden Texte stark differierende Systeme erkennen lassen. Marcion unterscheidet sich trotz vieler Gemeinsamkeiten in entscheidenen Punkten von ihnen, weshalb sein Status als "Gnostiker" umstritten ist. Gemeinsam ist diesen Entwürfen der Versuch, eine Synthese jüdisch-christlicher Theologie und vulgärplatonistischer Spekulation in mythologischem Gerüst auszudrücken, wobei göttliche Eigenschaften personifiziert und irdische heilsgeschichtliche und himmlischen Geschehnissen vorgebildet werden.
Die christlichen Gnostiker klassifizierten Menschen in drei Kategorien:
- pneumatikoi (Geistmenschen): Gnostiker, die unter dem Einfluss des Geistes stehen und so ihrer Erlösung sicher sein können.
- psychikoi (Seelenmenschen): Menschen, die zwar keine Gnostiker sind, denen aber die Erlösung durch Erkenntnis offen steht
- hylikoi (Stoffmenschen): Menschen, die so von der Materie dominiert werden, dass sie keine Erlösung finden können.
Diese Auffassungen beinhalteten auch die Gedanken der Emanation und einem ausgeprägten Erlösungsglauben. Daher sah die Kirche gnostische Lehrer wie Marcion als Häretiker an und schloss sie aus. Obwohl vor allem durch die vorgenannten christlichen Theologen kirchlich geächtet, gibt es bis heute noch christliche Gnostiker, vor allem aber eine breite Wirkungsgeschichte bis in die Moderne und Gegenwart.
Moderner Gnostizismus
Eine gnostische Religion, die von der Antike bis heute überlebt hat, sind die Mandäer.
Gnostische Elemente wurden im Mittelalter von der Kabbala, der Alchemie und den Katharern übernommen.
Im 19. Jahrhundert übernahm die Theosophie verschiedene Wesenszüge des Gnostizismus, von der sich um die Jahrhundertwende die Anthroposophie abspaltete. Für das 20. Jahrhundert sind Einflüsse auf die Rosenkreuzer, den Existenzialismus, Nihilismus und die Psychologie von Carl Gustav Jung zu finden, auch in der neueren Esoterik, beispielsweise bei Ein Kurs in Wundern oder bei der Gralsbewegung.
siehe auch Spiritualismus (theologisch)