Das Abstraktionsprinzip gehört zu den Grundsätzen des deutschen Zivilrechts und lässt sich schon im römischen Recht finden. Es hat sich unter dem Einfluss von Savigny im 19. Jahrhundert durchgesetzt und ist seit 1900 im BGB verankert.
Das Abstraktionsprinzip beruht auf dem Trennungsprinzip und besagt, dass Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft in ihrem rechtlichen Bestand voneinander unabhängig sind.
Dieser Grundsatz ist für Laien nicht ohne weiteres verständlich. Daher soll folgendes Beispiel der Erläuterung dienen:
Müller kauft von Friedrich ein Auto. Er bezahlt noch am gleichen Tag. Den Wagen und die Papiere erhält er aber erst eine Woche später.
Der (deutsche) Jurist trennt hier drei Vorgänge: Zunächst haben Müller und Friedrich einen Kaufvertrag geschlossen (=Verpflichtungsgeschäft). Aber erst als Friedrich dem Müller das Auto mitgegeben hat, hat er das Eigentum auf Müller übertragen (=Verfügungsgeschäft). Müller andererseits erfüllte seine Verpflichtung durch Zahlung (= Übereignung und Übergabe des Geldes) sofort.
Das Abstraktionsprinzip besagt nun, dass das Verfügungsgeschäft auch wirksam ist, wenn das Verpflichtungsgeschäft unwirksam ist, weil beide voneinander unabhängig sind. Ein solcher Fäll läge z. B. vor, wenn Friedrich bei Abschluss des Kaufvertrags (wegen Geisteskrankheit) nicht geschäftsfähig gewesen wäre. Dann ist der Kaufvertrag unwirksam, Müller wird aber trotzdem Eigentümer des Wagens, wenn Friedrich bei der Übereignung wieder geschäftsfähig war.
Das Abstraktionsprinzip dient somit der Rechtssicherheit. Wenn Müller das Eigentum erwirbt, obwohl das zu Grunde liegende Kausalgeschäft (=der Kaufvertrag) unwirksam ist, kann er das Auto dennoch ohne Sorgen weiterverkaufen: Er ist schließlich Eigentümer geworden. Falls Müller Schulden hat, könnten seine Gläubiger das Auto pfänden, auch ohne sich Gedanken über den Kaufvertrag machen zu müssen.
In vielen anderen Rechtsordnungen gilt statt des Abstraktionsprinzips das Kausalprinzip. So wird z. B. in Österreich zwar zwischen Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft unterschieden, wobei aber der Bestand des Verfügungsgeschäftes vom Bestand des Verpflichtungsgeschäftes abhängig ist. Das französische Recht kennt bereits keine Unterscheidung zwischen Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft: Wer z. B. eine Auto kauft, wird (grundsätzlich) mit Abschluss des Kaufvertrages auch Eigentümer.
Das Abstraktionsprinzip ist seit seiner Einführung in der juristischen Literatur oft kritisiert worden. Viele Autoren bemängeln, dass ein einheitlicher Lebenssachverhalt in zwei künstliche Hälften zerlegt werde. Dies sei für juristische Laien kaum verständlich. Weiterhin führe das Abstraktionprinzip zu unbilligen Ergebnissen, da es an der Übertragung des Eigentums auch dann festhalte, wenn hierfür kein Grund bestand, der zugrundeliegende Kaufvertrag z.B. nichtig ist. Einen Höhepunkt erreichte die Kritik während des "dritten Reiches", als die bestehende Rechtslage aufgrund ihrer Komplexität als "unvölkisch" abgelehnt und Reformen gefordert wurden.
Das Abstraktionsprinzip ist auch im Rahmen der Vereinheitlichung der Zivilrechtsordnungen innerhalb der EU angegriffen worden. Deutschland ist das einzige Mitgliedsland, in dem das Abstraktionsprinzip gilt.
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