Mikropolitik ist nach Neuberger (1995) das Arsenal jener alltäglichen "kleinen" Machtmethoden, mit denen innerhalb von Organisationen Macht aufgebaut und eingesetzt wird. Der von Horst Bosetzky (1972) in Anlehnung an Burns (1961 / 62) in den deutschen Sprachraum eingeführte Begriff macht damit deutlich, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Organisationen jenseits der Organisationsziele in Sinne eines Machtkampfes Eigeninteressen verfolgen ("strategischer Eigensinn"; selbstsüchtige Interessen) und dabei die sozialen Strukturen und menschlichen Verhältnisse in Institutionen mit umgestalten.
Begünstigt werden mikropolitische Prozesse dann besonders, wenn eine (zentral) kontrollierende Instanz fehlt oder die Zielsetzungen in der Einrichtung nicht klar genug definziert werden. Aber auch in gut strukturierten, funktionsfähigen Organisationen leistet die Mikropolitik einen wesentlichen Beitrag, da nur durch sie die schnell starr werdenden Verfahren, Regeln und Richtlinien dem Berufsalltag angepasst werden können.
Da häufig nach bestimmten Regeln agiert wird, können die Vorgehensweisen auch als Reihe von Spielen betrachtet werden (Crozier & Friedberg (1979); Mintzberg (1983)). Die formalen und informellen Spielregeln bilden den Ausgangspunkt für das mikropolitische Handeln, durch das Handeln der Beteiligten werden die Spielregeln aber auch immer wieder verändert und neu definiert.
Allgemein ist Mikropolitik ist ein essentieller Bestandteil von Organisationen, ein Mitspielen ist letztlich Ausdruck von Lebensklugheit und Durchsetzungsfähigkeit, besonders wenn man jenseits des Eigeninteresses für die Organisation selbst etwas bewirken möchte (selbstloses Interesse).
Zielsetzungen von "Mikropolitikern"
Verfolgte Ziele sind häufig
- die Erweiterung eigener Handlungsspielräume,
- der Aufstieg in der Organisation,
- eine bessere Bezahlung,
- der Ausbau der einem in der Einrichtung zur Verfügung stehenden finanziellen, materiellen und menschlichen Ressourcen (Bosetzky (1972)),
- aber auch der Versuch, sich einer (hierarchischen) Kontrolle zu entziehen. Dieser letzte Aspekt verweist darauf hin, dass es seitens der Beherrschten in Organisationen auch Möglichkeiten der Gegenwehr und Gegenmacht gibt.
Charakteristische mikropolitische Methoden und Taktiken
Zu den verbreitetsten Vorgehensweisen gehören:
- das Einschalten von Vorgesetzten, höherer Autoritäten, die ihren Einfluss und ihre Beziehungen geltend machen, Partei für einen ergreifen;
- die Informationskontrolle: Das meint das Filtern, Zurückhalten oder Schönen von Informationen, das Verbreiten von Gerüchten, um die Glaubwürdigkeit anderer in Zweifel zu ziehen, das Streuen von Insider-Informationen an Dritte, das Starten von Versuchsballons ("Du wirst doch auch bald in eine andere Abteilung wechseln wollen!");
- die Kontrolle von Verfahren, Regeln und Normen, indem sie im eigenen Sinne ausgelegt und ausgedehnt werden;
- (verdeckte) Koalitionsbildungen (Klüngeln), Lobbyismus;
- die Günstlingswirtschaft durch das Heranziehen einer Gefolgschaft, das Formen eigener Mitarbeiter über Anerkennung und Belohnungen;
- der Einsatz der einem zur Verfügung stehenden Machtmittel bis hin zur Androhung von Sanktionen;
- allgemein Formen der Selbstdarstellung;
- das Charisma, die persönliche Anziehungskraft, die auf andere als Modell und Vorbild wirkt und dazu gezielt eingesetzt wird;
- der Einsatz von Expertenwissen und Fachkompetenz, das sachliche Überzeugen;
- das Erzeugen von Handlungsdruck durch eine Emotionalisierung von Situationen, durch das Erschaffen günstiger Stimmungen; dies meint auch das Motivieren und Ideologisieren anderer Personen über begeisternde Appelle, Visionen.
Hauptformen mikropolitischer Spiele
Spiele zum Aufbau von Macht sind beispielsweise
- das Sponsor-Protegé-Spiel: eine Person hängt sich an einen in der Organisation aufsteigenden Star oder an eine Person an, die schon eine Machtposition erlangt hat. Die Hoffnung ist, dass diese für ihren Anhänger kämpfen, bezahlt wird mit einer umfassenden Loyalität.
- das Bündnis-Spiel: In diesem versucht man ein Beziehungsnetz von gleichrangigen Gleichgesinnten zu knüpfen, Koalitionen zu schließen.
- das Budget-Spiel: Durch das Fordern von immer größeren materiellen und personellen Ressourcen wird die eigene Bedeutung und Stellung auszubauen versucht.
- das Experten-Spiel: In diesem wird überdeutlich das eigene (unverzichtbare) Expertentum herausgestrichen, um unentbehrlich zu werden und den eigenen Einfluss auszubauen.
- das Dominanz-Spiel: Um andere einzuschüchtern, wird ein bestehender Einfluss breit zur Schau gestellt.
Spiele, in denen der Widerstand gegen andere im Zentrum steht, bedienen sich entweder
- einer subtilen Hinhaltetaktik oder
- einer aggressiven Gegenwehr bis zu offener Meuterei oder Rebellion. Eine extreme und für die Spieler risikoreiche Variante ist das Jung-Türken-Spiel: Eine jüngere Generation hochrangiger Nachwuchskräfte stellt die bestehende Organisationsform erst in vertrauten Treffen grundsätzlich in Frage, um schließlich eine effektive Verschwörung zur Entmachtung der alten Eliten zu planen und auszuführen. Ein Scheitern an den alten Machtzirkeln und deren Gefolgschaften zieht das Ausscheiden aus der Einrichtung nach sich.
Häufig sind in Organisationen rivalisierende Lager zu finden, die aus Führungspersonen mit unterschiedlichen Gefolgschaften bestehen. Im ungünstigsten Fall kann dies bis zur Spaltung von Organisationen führen. Um den Vorrang konkurrieren zudem oft die Verwaltung von Unternehmen (formale Autorität der "Linie") und die Sachexperten (Informationsmacht des "Stabes").
Fallbeispiel eines mikropolitischen Spiels: das Dominanzspiel gegenüber Mitarbeitern
Das Dominanzspiel wird besonders gerne von Führungspersonen gegenüber aufstrebenden Mitarbeitern eingesetzt. Um sie zu disziplinieren und klein zu halten, wird in Phasen von Beurteilungen, drohenden Gehaltsforderungen oder Karriereambitionen Mitarbeitern eine Aufgabe übertragen, bei der sie mit hoher Wahrscheinlichkeit überfordert sind, einen Fehler machen oder in eine Falle tappen. Im entscheidenden Moment wird der Mitarbeiter dann vor Zeugen kritisiert und bloß gestellt. Dadurch ist der Beweis angetreten, dass seine positive Selbstsicht unbegründet war.
Mikropolitischen Phänomenen vorbeugen
Gegenstrategien, um mikropolitischen Phänomenen entgegenzuwirken, sind:
- Zentralisierung der Gestaltungskompetenz in der Organisationsführung
- klare Kommunikationswege mit klaren Ansprechpartner, um Informationen zu bündeln
- klare Regelung von Kompetenzen und Befugnissen
- offenes Austragen von Konflikten
Literatur
- Bosetzky, Horst: Die instrumentelle Funktion der Beförderung. In: Verwaltungsarchiv 63 (1972), S. 372-384.
- Bosetzky, Horst: Machiavellismus, Machtkumulation und Mikropolitik. In: Zeitschrift für Organisation 46 (1977), S. 121-125.
- Bosetzky, Horst: Managementrolle: Mikropolitiker. In: W. H. Staehle (Hrsg.): Handbuch Management. Die 24 Rollen der Führungskraft. Wiesbaden 1991 (Gabler), S. 286-300.
- Bosetzky, Horst: Mikropolitik und Führung. In: A. Kieser, G. Reber, R. Wunderer (Hrsg.): Handwörterbuch der Führung. Stuttgart ²1995 (Schäffer-Poeschel), Sp. 1517-1526.
- Burns, Tom: Micropolitics: Mechanism of Institutional Change. In: Administrative Science Quarterly (1961 / 62), H. 6, 257-281.
- Crozier, Michel, Friedberg, Erhard: Macht und Organisationen. Die Zwänge kollektiven Handelns. Königstein 1979.
- Heinrich, Peter, Schulz zur Wiesch, Jochen: Wörterbuch zur Mikropolitik. Opladen 1998 (Leske und Budrich).
- Küpper, Willi, Ortmann, Günter (Hrsg): Mikropolitik. 2002 (Verlag für Sozialwissenschaften).
- Mintzberg, Henry: Power in and around Organizations. Englewood Cliffs 1983.
- Neuberger, Oswald: Mikropolitik. Stuttgart 1995 (Enke).
- Nullmeier, Frank, Pritzlaff, Tanja, Wiesner, Achim: Mikro-Policy-Analysis. 2003 (Campus).