My Sister and I ist eine literarische Fälschung, die als Werk Friedrich Nietzsches ausgegeben wurde.
Von dem pseudo-autobiographischen Werk Nietzsches ist weder die handschriftliche Originalverfassung, noch überhaupt eine Version in deutscher Sprache überliefert. Im Jahr 1951 erschien im Verlag Boar's Head Books, New York das Buch erstmals. Auf der Titelseite wurden Nietzsche als Autor und Dr. Oscar Levy als Übersetzer und Autor der Einführung genannt. Die Nietzscheforschung war sich seit jeher darüber einig, dass es sich um eine Fälschung handelt.
Inhalt
Der eigentliche Buchtext umfasst 466 nummerierte, teils aphoristische Abschnitte unterschiedlicher Länge in zwölf Kapiteln sowie einen Epilog. Der Inhalt umfasst autobiographische Bekenntnisse vornehmlich geschlechtlicher Art und Stellungnahmen des vermeintlichen Autors Nietzsche zu Personen oder Ereignissen in seinem Umkreis und allgemeine Reflexionen. Besonders pikant ist die geschlechtliche Beziehung zu seiner Schwester Elisabeth, über die der angebliche Nietzsche in diesem Text schreibt.
Entstehung des Manuskriptes
Wollte man dem Vorwort Glauben schenken, fasste Nietzsche in den ersten Tagen seines von Januar 1889 bis Mai 1890 dauernden Aufenthaltes in der Jenaer Nervenheilanstalt den Entschluss, nach Ecce Homo „another autobiographical work“ zu verfassen. Der Text sei in der Klinik entstanden. Zwischen diesem Entschluss und Beginn der Niederschrift müsste ein halbes Jahr vergangen sein, denn im ersten Kapitel heißt es: „Mother came to see me today“. Nietzsches Mutter durfte ihren Sohn aber erst im Juli in Jena besuchen. Laut Einführung soll Nietzsche von einem Mitpatienten Füller, Tinte und Papier erhalten haben und diesem am Tag seiner Entlassung seine Schriften mitgegeben haben, mit der Bitte, sie einem namentlich nicht genannten Verleger zu bringen, was jedoch nicht geschah.
Überlieferung
Laut Angaben des vermeintlichen Levy, habe ihn in London ein junger Amerikaner kontaktiert und um ein Gespräch bezüglich „a newly discovered autobiographical word by Friedrich Nietzsche“ gebeten. In diesem Gespräch berichtet der nicht namentlich genannte Amerikaner, das Manuskript befinde sich in Kanada und sei im Besitz eines wiederum nicht namentlich genannten englischen Gummifabrikanten, „an ex-clergyman who hat emigrated to Canada“. Diesen habe der junge Amerikaner auf einem Schiff kennengelernt, heißt es. Im Gegenzug für einen nicht näher erläuterten „precious service“ im Zusammenhang mit der geplanten illegalen Einwanderung der Frau des Engländers sei ihm das Manuskript angeboten worden. Der englische Gummifabrikant habe das Manuskript von einem seiner Angestellten gekauft, der der Sohn des Mitpatienten Nietzsches gewesen sei. Dieser habe das zunächst im Besitz seines Vaters befindliche Manuskript Jahre später mit nach Kanada genommen. Levys Begegnung mit dem jungen Amerikaner soll im Frühling 1921 erfolgt und das Manuskript mehr als zwei Jahre später bei ihm eingetroffen sein. In Levy Biographie werden derlei Ereignisse jedoch mit keinem Wort erwähnt.
Übersetzung und Einführung
Ebenso wie die Autorschaft Nietzsches als widerlegt gilt wird, steht außer Zweifel, dass es sich bei dem Übersetzer nicht um den wirklichen Oscar Levy gehandelt hat. Levy hatte sich zwar schon lange mit Nietzsche beschäftigt und auch die erste autorisierte Übersetzung ins Englische herausgegeben, war jedoch nie selbst als Übersetzer in Erscheinung getreten. Seine Englischkenntnisse erachtete er für unzureichend. Deshalb sah er sich gezwungen, Übersetzer zu finden, denen er Nietzsche erklären musste. Es gilt deshalb als fraglich, wieso Levy mit dem Auftauchen eines neuen Manuskriptes ohne weiteren Kommentar dazu übergegangen wäre, Nietzsche selbst zu übersetzen.
Die Einführung zu My Sister and I ist datiert auf März 1927. Im ersten Teil der Einführung kommentiert Pseudo-Levy Nietzsches Schriften in kurzen Zügen. Daran schließt sich ein Bericht an, wie er selbst von dem Manuskript Kenntnis erhalten habe. Im dritten Teil der Einführung nimmt „Levy“ zu dem Text Stellung, im letzten Teil mutmaßt er über eine zu erwartende Wirkung.
Bemerkenswert ist dabei, dass der vermeintliche Levy in seiner Darstellung die zeitliche Abfolge der Entstehungsgeschichte der Werke Nietzsches verdreht. Ein Fehler, der einem bereits versierten Nietzschekenner wie dem echten Levy kaum unterlaufen wäre.
Im selben Monat, in dem die Einführung verfasst worden sein soll, erscheint das Vorwort Levys zur englischen Taschenbuchausgabe, in dem er von Ecce Homo als dem letzten Werk Nietzsches spricht, das zugleich aber schon von beginnendem Wahnsinn zeuge. Während der echte Levy im zeigleichen Vorwort über die „launenhafte Selbstüberschätzung“ schrieb, machte der Pseudo-Levy in der Einführung einen „inferiority complex“ bei Nietzsche aus. Die Nietzsche-Interpretation des echten Levy fällt in allem nuancierter und differenzierter aus als die eher plumpe Einführung der Levy-Kopie. So wies Maud Rosenthal (geb. Levy) jede Beteiligung ihres Vaters zurück: „My father never wrote the introduction, he never translated, annotated, or knew this fantastic and clumsy concoction of nonsense her published as a text of Nietzsche's“ (Maud Rosenthal in einem Leserbrief an den Saturday Review of Literature, 5.5. 1952) Auch der Stil entspräche nicht dem ihres Vaters.
Entlarvung als Fälschung
Die echten Urheber des Werkes konnten nicht ermittelt werden. Die Indizien, dass es sich um eine Fälschung handelt, sind zahlreich. Viele Wortspiele und Zitate sind offensichtlich englischen Ursprungs. Der Text enthält verschiedentlich Anachronismen. Stilistisch ist der Text unvereinbar mit den übrigen Texten Nietzsches. Des Weiteren bleibt fraglich, ob Nietzsches Gesundheitszustand es überhaupt zuließ, etwas zu schreiben. Thomas Mann notierte über My Sister and I: „It is my considered conviction that the book is an impudent und ludicrous hoax which must not go unnoticed as such. Both Nietzsche's genius and the name of that first-rate scholar Oscar Levy must be protected against this sort of idiotic degradation.“ (Thomas Mann: Tagebücher 1951-1952, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt am Main, 2003, S. 618f)
Literatur
- Walter Kaufmann: Nietzsche and the Seven Sirens. In: Partisan Review, vol. 19, no. 3 (May/June 1952), pp. 372–376
- Steffen Dietzsch / Leila Kais: Exkurs: „My Sister and I“. In: dies.: Oscar Levys europäische Nietzsche-Lektion. In: Oscar Levy: Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913-1937. Berlin: Parerga 2005, S. 271-341 (305-313)