Pierre Bourdieu

französischer Soziologe
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 23. Februar 2005 um 06:51 Uhr durch Media lib (Diskussion | Beiträge) (Siehe auch). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Pierre-Félix Bourdieu (* 1. August 1930 in Denguin, Pyrénées-Atlantiques; † 23. Januar 2002 in Paris) war einer der renommiertesten französischen Soziologen des 20. Jahrhunderts.

Datei:Pierre Bourdieu.bmp
Pierre Bourdieu

Leben

Bourdieu studierte in Paris im Hauptfach Philosophie an der École Normale Supérieure. Nach dem akademischen Abschluss nahm er zunächst eine Stelle als Lehrer an. 1958-1960 unternahm er in der Kabylei im nördlichen Algerien Feldforschungen zur Kultur der Berber und begründete mit deren Resultaten seine Reputation als Soziologe. Seit 1981 hatte Bourdieu einen Lehrstuhl am Collège de France. Im Jahre 1993 wurde er mit der "Médaille d'or du Centre National de la Recherche Scientifique" (CNRS) ausgezeichnet, 1989 wurde ihm von der Freien Universität Berlin die Ehrendoktorwürde verliehen. Von 1962 bis 1983 war er mit Marie-Claire Brizard verheiratet.

Forschung

Seine soziologischen Forschungen, zumeist im Alltagsleben verwurzelt, waren vorwiegend empirisch orientiert und können der Kultursoziologie zugeordnet werden. Anknüpfend an den Strukturalismus versuchte Bourdieu, subjektive Faktoren mit objektiven Gegebenheiten zu verbinden. Wissenschaftstheoretisch vertrat er unter anderem die Aufhebung des Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus, zwischen Idealismus und Materialismus. Bourdieu entwickelte seine theoretischen Begriffe unter Einbeziehung der Erfahrungen von Individuen. Er verwendete Leitbegriffe wie Habitus, sozialer Raum, soziales Feld und Kapital. Alle diese in der Soziologie und Ökonomie verwendeten Begriffe entwickelte er weiter, so dass sie in der Zusammenschau eine neue empirisch begründete soziologische Theorie ergeben, die in den heutigen soziologischen Diskursen von großer Bedeutung ist und häufig als "Theorie der Praxis" bezeichnet wird.

Die Kulturtheorie Bourdieus vergleicht Interaktionen des Alltagslebens mit dem Spiel der Ökonomie. Die Individuen besitzen unterschiedlich viele Potentiale verschiedener Art, die sie einsetzen und teilweise transformieren können: ökonomisches Kapital, soziales Kapital, symbolisches Kapital und kulturelles Kapital bzw. Bildungskapital. Dabei gilt: "Und jeder spielt entsprechend der Höhe seiner Chips." So kann der Erwerb kulturellen Kapitals beispielsweise zur Erhöhung des ökonomischen Kapitals eingesetzt werden.

Nach Bourdieu gibt es für die menschliche Freiheit vielfältige Begrenzungen, unter anderem durch unbewusste verinnerlichte Faktoren, durch sozioökonomische Strukturen, historische Gegebenheiten, Geschlecht, Nationalität und Weltanschauung. Jedoch hat jeder Mensch innerhalb seiner Grenzen einen individuellen Handlungsspielraum, der umso größer ist, desto komplexer die Gesellschaft organisiert ist. Nur auf diesem beschränkten Hintergrund gibt es sozialen Wandel und Innovation.

Wissenschaftliche Vorläufer Bourdieus waren insbesondere Émile Durkheim, Max Weber und Karl Marx. Seine Sozial-Epistemologie ist von Durkheim beeinflusst. Er verwendet wie dieser den Begriff der "sozialen Tatsache" und teilt die Grundeinsicht in die Bedeutung der Kultur- und Sozialanthropologie für die Soziologie. Mit Weber verband ihn der Ungleichheitsdiskurs, der sich an der Begriffstrias Klasse/Stand/Partei orientiert. Von Marx übernahm er Teile der Konzepte Klasse und Klassenkampf, die er über die ökonomischen Aspekte hinaus sehr stark erweiterte. Friedrich Nietzsches "Genealogie der Moral" stand bei seiner Diskussion des Verhältnisses zwischen dem Adel und den "einfachen Leuten" Pate.

Bourdieus wissenschaftliches Gesamtwerk zeichnet sich durch hohe Komplexität aus, da er nicht nur verschiedene Wissenschaftssysteme, die hier nicht vollständig aufgeführt sind, sondern gleichzeitig eine Vielzahl von neu konnotierten Begrifflichkeiten miteinander verbindet.

Bekannt war Bourdieu zudem als politisch engagierter Intellektueller, der sich gegen die herrschende Elite und den Neoliberalismus wandte. Die Aufgabe der neuen sozialen Bewegungen umschrieb er mit dem Begriff der "ökonomischen Alphabetisierung". In seinen letzten Lebensjahren stand Bourdieu der globalisierungskritischen Bewegung nahe.


Hier einige Beispiele von Ergebnissen seiner empirischen Arbeiten:

  • Er zeigte, dass trotz der formalen Wahlfreiheit in Fragen des ästhetischen Geschmacks, künstlerische Präferenzen in Frankreich (z.B. klassische Musik, Rock, Chanson) stark mit der ("kulturellen") Klassenzugehörigkeit korrelieren.
  • Er wies - alltägliche Beobachtungen einbringend - nach, dass Feinheiten der Sprache wie Akzent, Grammatik, Aussprache und Stil einen wesentlichen Faktor in der sozialen Mobilität (z.B. beim Erwerb eines besser bezahlten und höherbewerteten Berufs) darstellen.
  • Die von Bildungspolitik und Arbeitslosigkeit ausgelöste Bildungsdynamik bezeichnete er als "Inflation der Bildungsabschlüsse", beziehungsweise "Bildungsexpansion". Die Schulabschlüsse verlieren dadurch an Wert und auch die Absolventen aus niedrigeren Schichten haben schlechte Möglichkeiten, dieses Kapital angemessen umzusetzen (vgl. Bildungsparadox)
  • Durch die zunehmende neoliberale Globalisierung sind atypische Arbeitsverhältnisse zur Regel geworden. Diese Prekarisierung trifft nicht nur marginalisierte Gesellschaftsgruppen, sondern zunehmend auch solche mit (noch) gesichertem Einkommen. Das organisierte Gegeneinander der Lohnabhängigen ist Bestandteil der neoliberalen Hegemonie. Die "strukturelle Gewalt" der Konkurrenz solle aufgegeben werden zu Gunsten eines Erkennens der gemeinsamen Interessen.

Werke

  • Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.(Franz.1979), Frankfurt a.M. 1982, ISBN 3-51828-258-1 - wird als sein Hauptwerk angesehen.
  • Entwurf einer Theorie der Praxis.(Franz. 1972), Frankfurt a.M. 1979, ISBN 3-51827-891-6
  • Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M. 1998, ISBN 3-51811-985-0
  • Der Einzige und sein Eigenheim., Hamburg 2002, ISBN 3-87975-862-X
  • Über das Fernsehen.(Franz 1996), Frankfurt a.M. 1998, ISBN 3-51812-054-9
  • "Schwierige Interdisziplinarität : zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft". Münster 2004, ISBN 3-89691-573-8
  • Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Mitautoren: Luc Boltanski, Monique de Saint Martin,Pascale Maldidier. (Franz. 1971), 1978, ISBN 3-43400-496-3
  • Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. (Franz. 1980), Frankfurt a.M.1987,ISBN 3-51828-666-8
  • Homo Academicus.(Franz. 1984), Frankfurt a.M.1988, ISBN 3-51828-602-1
  • Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches (Franz. 1987), Hg. Georg Kremnitz, Wien 1990
  • Die verborgenen Mechnismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur 3, Bd.1, Hg. Margareta Steinrücke. Hamburg 1992, ISBN 3-87975-605-8
  • Soziologische Fragen Frankfurt a.M. 1994, ISBN 3-51811-872-2
  • Reflexive Antthropologie. Mitautor: Loic D. Wacquant.Franfurt a.M. 1996
  • Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 2000, ISBN 3-51827-707-3
  • Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M. 2001
  • Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. (Franz. 1993), Konstanz 1997, ISBN 3-87940-568-9 , - cultural studies zum Neoliberalismus
  • Perspektiven des Protestes. Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat." Hamburg 1997
  • Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. UVK, Konstanz 1998, ISBN 3-89669-903-2
  • Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung. UVK, Konstanz 2001 (Raisons d'agir, 7) ISBN 3-89669-997-0
  • Neue Wege der Regulierung. Vom Terror der Ökonomie zum Primat der Politik. Hamburg 2001
  • Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a.M. 2002, ISBN 3-51812-311-0
  • Der Staatsadel. Konstanz 2004, ISBN 3-8969-807-9, (postum)
  • Die männliche Herrschaft(Franz 1998) - erscheint erneut im Febr. 2005, ISBN 3-51841-144-6
  • Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und die Folgen, in: Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hrsg.): Europa des Kapitals oder Europa der Arbeit?, Perspektiven sozialer Gerechtigkeit (Kritische Interventionen 4), Offizin Verlag, Hannover 2000, ISBN 3-930345-22-6

Literatur

  • Tobias ten Brink: "VordenkerInnen der globalisierungskritischen Bewegung: Pierre Bourdieu, Susan George, Antonio Negri". Köln, Neuer ISP Verl., 2004, ISBN 3-89900-020-X
  • Armin Nassehi (Hrsg.): "Bourdieu und Luhmann : ein Theorienvergleich". Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2004 271 S. ISBN 3-518-29296-X
  • Steffani Engler: "Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen : sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus". Weinheim u.a.: Juventa-Verl., 2004 216 S. ISBN 3-7799-1582-0
  • Markus Schwingel: "Pierre Bourdieu zur Einführung". 4. Aufl. Junius-Verlag, Hamburg 2003 181 S. ISBN 3-88506-968-7
  • Margareta Steinrücke (Hrsg.): "Pierre Bourdieu - politisches Forschen, Denken und Eingreifen". VSA-Verlag, Hamburg 2003 166 S. ISBN 3-89965-037-9
  • Uwe H. Bittlingmayer (Hrsg.): "Theorie als Kampf? : Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus". Opladen : Leske + Budrich, 2002 492 S. ISBN 3-8100-3352-9
  • Beate Krais, Gunter Gebauer: "Habitus". Transcript-Verlag, Bielefeld 2002 94 S. ISBN 3-933127-17-3
  • Jörg Ebrecht/Frank Hillebrandt (Hrsg.): Bourdieus Theorie der Praxis. Wiesbaden: VS Verlag 246 S. 2.Aufl. 2004. ISBN 3-531-33747-5

Siehe auch