Gefangenenliteratur

Erfahrungsberichte, Reportagen, Briefwechsel, Autobiografien, Prosa und Lyrik, die in oder infolge von Gefangenschaft entstanden sind
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Gefangenenliteratur (auch Gefängnisliteratur) umfasst all jene Erfahrungsberichte, Reportagen, Briefwechsel, Autobiographien, Prosa und Lyrik, die in oder infolge von Gefangenschaft entstanden sind. Fiktive Texte, in denen es thematisch um Freiheitsentzug geht, werden ausschließlich dann dazu gerechnet, wenn der Verfasser beziehungsweise die Verfasserin tatsächlich davon betroffen war.

Allgemeines

Allen Verfassern von Gefangenenliteratur gemeinsam sind drei Schreibimpulse:

  • Kommunikation (durch Briefe),
  • Information der Öffentlichkeit (vor allem durch Aufsätze, Dokumentationen, Erfahrungsberichte) sowie
  • Kanalisierung aufgestauter Aggressionen (vor allem durch Gedichte).

Gespräche, (mündliche) Erzählungen, Monologe, Klopfzeichen, Papierknäuel, Zeichensprache, "Pendeln" (Botschaft von einem Fenster zum nächsten schmeißen), Sprechen durch den "Bello" (ausgeschöpftes WC) sind Kommunikationsformen, die oftmals in der Gefangenenliteratur thematisiert sind.

Das Schreiben hat in der Regel folgende Funktionen:

  • Selbstausdruck, Selbstbefreiung, Selbstfindung,
  • Identitätswahrung,
  • Überleben,
  • Sprachrohr nach draußen,
  • Protest und Widerstand.[1]

Historischer Rahmen

Frühe Neuzeit

Die Gräfin Leonora Christina Ulfeldt wurde von 1663 bis 1685 im „Blauen Turm“ des Kopenhagener Schlosses vom dänischen Königshaus gefangen gehalten. Anfang der 1670-er Jahre verbesserten sich ihre Haftbedingungen, sodass sie sich Bücher kaufen konnte. Auf Anraten des Sohnes ihres einstigen Arztes begann sie 1673 mit dem Schreiben ihrer Autobiografie. Nach deren Vollendung arbeitete sie sowohl an einem genauen Bericht über ihre Gefangenschaft – Jammers minde (erst 1869 erschienen) – als auch an biografischen Skizzen historischer und mythologischer Frauen, die sie nach ihrer Freilassung unter dem Titel Preis der Heldinnen veröffentlichte. Darüber hinaus entstanden in dem Gefängnis viele geistliche Gedichte.

Als frühes Beispiel für einen inhaftierten Intellektuellen kann Christian Friedrich Daniel Schubart gelten, der zwischen 1777 und 1787 Gefangener des württembergischen Herzogs war: „[…] ein Jahr Totalisolation in einem dunklen, kalten und muffigen Keller auf verfaultem Stroh mit Schreib- und Leseverbot – und zusätzlich noch ideologisch durch den Festungskommandanten und einen Geistlichen traktiert; je nach seinen ‚Fortschritten’ wurden ihm allmählich stufenweise Hafterleichterungen gewährt: Licht, frische Luft, die Beteiligung am Abendmahl, die Erlaubnis zum Briefeschreiben und Besuche, schließlich Schreib- und Lesemöglichkeit.“ [2] Verzweiflung, Anklage, Todessehnsucht und Fügsamkeit sind dominierende Elemente seiner während der Haft entstandenen Schriften.

Eine bis heute kontrovers diskutierte Figur ist Donatien Alphonse François de Sade. Dieser befand sich zwischen 1777 und 1789 in Festungshaft, nachdem er mehrmals wegen seiner pornografischen Skandale angeklagt worden war. Dank der allen Adligen zugestandenen Privilegien konnte er zahlreiche Bücher lesen, was ihn schließlich dazu veranlasste, selbst zur Feder zu greifen – Die 120 Tage von Sodom sowie Justine sind in der Pariser Bastille entstanden. Nach seiner Verlegung in eine Irrenanstalt und der dortigen Entlassung im Jahre 1790 sowie einer kurzen Karriere als Jakobiner geriet er im Zuge der Terrorherrschaft 1793 erneut in Gefangenschaft und wurde zum Tode verurteilt. Zur Vollstreckung des Urteils kam es durch den Sturz Robespierres jedoch nicht, Ende 1794 wurde er wieder freigelassen. Unter Napoléon Bonaparte wurde er 1801 aufgrund der Publizierung von Justine (1791) und Juliette (1796) inhaftiert. Von 1803 bis zu seinem Tod lebte er in jener Irrenanstalt, aus der er 1790 entlassen worden war und verfasste noch drei biografische Romane.

Kurzer Exkurs in die Rechtsgeschichte

Der öffentlich und mündlich geführte Prozess sowie die Haftstrafe wurden in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur gängigen Praxis der Rechtsprechung. Das grundlegend neuartige Straf- und Rechtsverständnis äußerte sich vor allem in folgenden Punkten:

  • Die Strafgewalt lag von nun an in der Hand der Gesellschaft,
  • jeder Gesetzesverstoß wurde als individueller Vertragsbruch gegenüber der Gesamtgesellschaft betrachtet,
  • Prozess und Urteilsfindung hatten Priorität,
  • die jeweilige Haftdauer war abhängig von der Schwere der Tat.

Da es sich bei Gefangenenliteratur ausschließlich um authentisch-subjektive Erfahrungstexte handelt – Flugblätter, Schauergeschichten und Verhörprotokolle somit nicht dazugehören – sind fast keine Texte von Nicht-Intellektuellen aus der Anfangsphase des Gefängnissystems (um 1800) erhalten. Gefängnis-Tagebücher können zwar dazugezählt werden, bei ihrer Rezeption ist jedoch zu berücksichtigen, dass sie mit der Gewissheit über Beobachtung und Beurteilung verfasst wurden.

20. Jahrhundert

Max Hoelz wurde 1921 in der Weimarer Republik wegen Mordes an einem Gutsbesitzer zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, obgleich er nicht der Täter war. Der Publizierung seiner Zuchthausbriefe (1927) folgte die gemeinsame Forderung vieler namhafter Intellektueller nach einer Revidierung des Urteils; 1928 ließ man ihn frei. Acht Jahre in deutschen Zuchthäusern lautet der zweite Teil seiner Autobiographie Vom weißen Kreuz zur roten Fahne aus dem Jahre 1929 und ist eine Niederschrift angestauter Eindrücke.

Wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung verbrachte Luise Rinser 1944 und 1945 einige Monate in einem Frauenknast des Dritten Reichs. Ihr Gefängnistagebuch (1946) hatte sie zum Teil auf Packpapier und alten Verbrecherlisten, die als Klopapier dienten, verfasst.

Zwischen 1948 und 1956 war Walter Kempowski im Sowjetischen Speziallager Nr. 4 inhaftiert aufgrund von (vermeintlicher) Wirtschaftsspionage. Seine literarische Verarbeitung dieser Zeit wurde 1969 unter dem Titel Im Block. Ein Haftbericht veröffentlicht.

Henry Jaeger saß von 1955 bis 1963 als einstiger Anführer der "Jaeger-Bande" in einem bundesdeutschen Zuchthaus ein. Seinen Roman Die Festung von 1962 hatte er heimlich auf ganzen Klopapierrollen geschrieben, die jeweils vom Anstaltspfarrer rausgeschmuggelt wurden.

Siehe auch

Literatur

  • Detlef Melzer: Freiheit ist die Dame, die ich liebe. Gedichte aus dem Knast. Capek Gesellschaft für Völkerverständigung und Humanismus e.V., 1985, ISBN 3925447024
  • Nicola Keßler: Schreiben, um zu überleben. Studien zur Gefangenenliteratur. Forum Verlag Godesberg, 2001, ISBN 3930982781
  • Uta Klein, Helmut H. Koch (Hrsg.): Gefangenenliteratur. Sprechen - Schreiben - Lesen in deutschen Gefängnissen. Padligur, Hagen 1988 ISBN 3922957153
  • Uta Klein: Gefangenenpresse. Über ihre Entstehung und Entwicklung in Deutschland. Forum Verlag Godesberg, 1992, ISBN 3927066559
  • Sigrid Weigel: „Und selbst im Kerker frei...!“ Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur 1750-1933. Guttandin & Hoppe, Marburg, 1982, ISBN 3922140149
  • Dokumentationsstelle f. Gefangenenliteratur d. Universität Münster u.a. (Hrsg.): Nachrichten aus Anderwelt., Agenda Verlag, 2002, ISBN 3896880977

Einzelnachweise

  1. Klein/Koch 1988, S. 9–13
  2. Sigrid Weigel: Zur Geschichte der Gefängnisliteratur. In: Klein/Koch 1988, S. 75