Artemidor von Daldis, auch Artemidor von Ephesos (griechisch Vorlage:Polytonisch, Artemídoros ho Daldianós, lateinisch Artemidorus Daldianus), war ein Traumdeuter und Wahrsager aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts. Artemidor ist der Verfasser der Oneirokritika (griech. „Traumdeutung“).
Leben und Werk
Artemidor stammte wohl aus Ephesos, wird aber oft, auch zur Unterscheidung von dem Geographen Artemidor von Ephesos, nach der Stadt Daldis in Lydien benannt, aus der seine Mutter stammte. Seine Lebenszeit fällt etwa in die Jahre vom Tod Domitians (96 n. Chr.) bis zur Thronbesteigung des Commodus (180 n. Chr.). Aufgrund bestimmter Denkfiguren und Bezüge in seiner Traumdeutung (so z. B. die Idee der Pronoia und Personifikationen von Sternen, Winden und Wolken) wird vermutet, dass Artemidor ein Stoiker war.
Artemidor unternahm mehrere Bildungsreisen durch Kleinasien und auf die großen Inseln der Ägäis; er besuchte Griechenland und Italien. Er übte das Traumdeuten und Wahrsagen, ein zu seiner Zeit übliches Gewerbe, beruflich aus. Artemidor konsultierte auf seinen Reisen auch Wahrsager, die auf Märkten den Leuten ihre Träume deuteten, um auf diese Weise mehr über alte Traumgesichte und deren Erfüllungen zu erfahren. Er hatte einen Sohn, der wie er Traumdeuter wurde. Gebildet und vertraut mit der klassischen griechischen Literatur, rühmt sich Artimidor in der Vorrede zum ersten Buch seiner Traumdeutung, dass es kein Buch über Traumdeutung gebe, dass er nicht erworben und studiert habe.[1] Artemidor hatte einerseits das Bestreben, die Traumdeutung unter dem Einfluss der Emprischen Schule[2] auf einer empirischen Methode (Beobachtung, Überlieferung, Analogieschluss) zu begründen, andererseits gibt er an, Apollon selbst habe ihn in Träumen zum Verfassen seines Traumbuchs inspiriert. Neben der Traumdeutung verfasste Artemidor auch ein Handbuch der Vogelschau, das verloren ist.
Die Traumdeutung (griech. Oneirokritika) besteht aus fünf Büchern. Das Werk ist Cassius Maximus (vermutlich Maximus von Tyros) gewidmet. Ursprünglich war es wohl auf eine Beispielsammlung von zwei Büchern angelegt. Die Bücher I bis III erschienen zuerst und waren für ein breiteres Publikum bestimmt. Die Bücher IV und V dagegen hat Artemidor ausschließlich für seinen Sohn, der ebenfalls Traumdeuter war, geschrieben. Das vierte Buch ist eine Verteidigung der Traumdeutung gegen Kritiker und enthält darüber hinaus praktische Ratschläge für den Traumdeuter und Erörterungen theoretischer Probleme der Traumdeutung.[3] Im fünften Buch versucht Artemidor, 95 Träume und ihre Bedeutung für das wirkliche Leben zu erklären. Träume und Traumsymbole werden als Omen mit günstiger oder ungünstiger Vorbedeutung für den Träumenden ausgelegt.
Ein Beispiel:
„Sich [sc. im Traum] zu kämmen bringt Mann und Frau Nutzen; denn der Kamm ist gleichbedeutend mir der alle Widerwärtigkeiten überwindenden Zeit. Das Haarflechten ist nur Frauen und jenen Männern von Nutzen, die es auch sonst [sc. im Wachen] zu tun pflegen, allen anderen Menschen zeigt es Verwicklungen in ihren finanziellen Verpflichtungen, hohe Darlehensschulden, bisweilen auch Gefängnis an.“
Das Werk des Artemidor gilt heute als interessantes Beispiel für den antiken Aberglauben. Zugleich ist es ein früher Versuch, das scheinbar Chaotische, Sinnlose und Rätselhafte der Träume zu systematisieren und daraus eine gleichsam empirisch gestützte Technik der Deutung zu entwickeln.
Darüber hinaus ist das Traumbuch eine wertvolle historische Quelle für das damalige Lebensgefühl und die Vorstellungswelt des antiken Menschen. Das Interesse der Kundschaft eines griechischen Traumdeuters war, wie aus Artemidors Deutungen zu erschließen ist, nicht ein Gewinn an Selbsterkenntnis oder existenzielle Deutung, sondern ein Blick in die Zukunft, der zumeist von materiellen Anliegen bestimmt war: Armut oder Reichtum, Krankheit oder Gesundheit, Erfolg oder Mißerfolg in der beruflichen Arbeit, in Wettkämpfen, im öffentlichen Leben, Ehe und Kindersegen, Wetter und Ernte, gefahrvolle oder glückliche Reise etc.
Zitate über Artemidor
„Artemidoros von Daldis, wahrscheinlich zu Anfang des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung geboren, hat uns die vollständigste und sorgfältigste Bearbeitung der Traumdeutung in der griechisch-römischen Welt überliefert. Er legte, wie Th. Gomperz hervorhebt, Wert darauf, die Deutung der Träume auf Beobachtung und Erfahrung zu gründen, und sonderte seine Kunst strenge von anderen, trügerischen Künsten. Das Prinzip seiner Deutungskunst ist nach der Darstellung von Gomperz identisch mit der Magie, das Prinzip der Assoziation. Ein Traumding bedeutet das, woran es erinnert. Wohlverstanden, woran es den Traumdeuter erinnert!“
„Das Traumbuch des Artemidor ist der einzige uns vollständig erhaltene Text aus einer Literaturgattung, die in der Antike reichlich sproß, der Traumkritik. (...) Artemidor jedenfalls hat etwas ganz anderes getan, als nur die berühmtesten Beispiele für Traumvorzeichen, die von der Wirklichkeit bestätigt wurden, zu sammeln. Er hat es unternommen, ein methodisches Werk zu schreiben, und das in zweifacher Hinsicht: es sollte ein in der Alltagspraxis brauchbares Handbuch sein; daneben sollte es eine theoretisch angelegte Abhandlung über die Gültigkeit der Deutungsverfahren sein. (...) Es handelt sich also um eine Anleitung zum Deuten. Indem es sich nicht auf die prophetischen Wunderwerke der Träume, sondern vorrangig auf die techné konzentriert, (...) will [Artemidor] den Analysetechnikern und den Experten ein Werkzeug an die Hand geben.“
Liste älterer Autoren und Schriften zum Traum
Die älteren Traumbücher, auf die Artemidor zurückgreifen konnte und mit denen er sich auseinandersetzte, sind uns größtenteils nicht überliefert und nur als Titel oder fragmentarisch durch ihre Nennung bei Artemidor selbst oder durch Zitate bei anderen Autoren bekannt.
- Antiphon von Athen
- Poseidonios: Abhandlung Über die Weissagekunst in 5 Büchern
- Aristandros von Telmessos in Karien
- Dementrios aus Phaleron: Abhandlung in 5 Büchern
- Alexander von Myndos (157-86 v. Chr.)
- Nikostratos von Ephesos
- Panyassis von Halikarnassos
- Apollodoros von Telmessos
- Phoibos von Anioacheia
- Dionysios von Heliopolis
- Geminos aus Tyros: Abhandlung in 3 Büchern
- Artemon von Milet: 22 Bücher
- Aristoteles: De somno et vigilia, De insomnis (beide erhalten)
Siehe auch
Ausgaben und Übersetzungen
Historische Ausgaben
- Artemidori De somniorum interpretatione Libri Quinque, De Insomniis, Quod Synesii Cuiusdam nomine circumfertur. Venetiis in Aedibus Aldi, et Andreae Soceri Mense Augusto 1518. (Venedig 1518)
- Artemidori et Achmetis Sereimi F. Oneirocritica, Astrampsychi et Nicephori versus etiam Oneirocritica, Nicolai Rigaltii ad Artemidorum Notae. Lutentiae 1603. (Paris 1603)
- Ioannes G. Reiff Artemidori Oneirocritica notis integris Nicolai Rigaltii et Ioannis Iacobi Reiskii suisque illustravit. Lipsiae 1805. (Leipzig 1805)
- Artemidori Daldiani Onirocriticon Libri V ex Recensione Rudolfi Hercheri. Lipsiae 1864. (Leipzig 1864)
Kritische Ausgabe
- Roger A. Pack (Hrsg.): Artemidori Daldiani Onirocriticon libri V. Teubner, Leipzig 1963.
Leseausgaben
- Karl Brackertz (Übers.): Artemidor von Dalis: Das Traumbuch. Artemis-Verlag, Zürich/München 1979, ISBN 3-7608-3661-5. (auch als dtv-Taschenbuch) (mit Anmerkungen und textkritischem Apparat)
- Friedrich S. Krauss (Übers.): Traumkunst. Reclam, Leipzig 1991, ISBN 3-379-00712-9.
Literatur
- Walther Sontheimer: Artemidoros, Nr. 4. In: Der Kleine Pauly, Bd. 1 (1964), Sp. 617–618.
- Lexikon der Antike, Leipzig, 1987, S. 62
- István Hahn: Traumdeutung und gesellschaftliche Wirklichkeit. Artemidorus Daldianus als sozialgeschichtliche Quelle. Univ.-Verl. Konstanz, Konstanz 1992, ISBN 3-87940-395-3.
- Christine Walde: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2001, ISBN 3-538-07117-9.
- Wolfram Kurth: Das Traumbuch des Artemidoros im Lichte der Freudschen Traumlehre. In: Psyche 4, 1951, S. 488-512
Weblinks
Nachweise
- ↑ Artemidor: Das Traumbuch. Übers. v. K. Brackertz. dtv, München 1979, S. 8.
- ↑ Empirische Schule: Eine seit Mitte des 3. Jahrhunderts bestehende Ärzteschule, die aus dem Skeptizismus von Pyrrhon von Elis hervorgegangen ist und die Heilkunde einzig und allein auf Erfahrung gründete. Quelle: Brackertz, a.a.O., S. 356.
- ↑ Artemidor: Das Traumbuch. Übers. v. K. Brackertz. dtv, München 1979, S. 349ff.
- ↑ Artemidor: Das Traumbuch. Übers. v. K. Brackertz. dtv, München 1979, S. 116
- ↑ Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900a). Frankfurt am Main 1991, S. 112
- ↑ Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 3: Die Sorge um sich (1984). Frankfurt am Main 1989, S. 10f.
Personendaten | |
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NAME | Artemidor von Daldis |
ALTERNATIVNAMEN | Artemidoros von Ephesos; Artemidorus Daldianus |
KURZBESCHREIBUNG | griechischer Traumdeuter und Wahrsager im 2. Jahrhundert |