Als Porajmos (auch Porrajmos, deutsch: „das Verschlingen“) wird mit einem Romanes-Wort der nationalsozialistische Genozid an Roma und Sinti bezeichnet.
Überblick
Der Porajmos wurde anders als die Shoa bisher unzureichend erforscht. Er wurde nicht nur zentral geplant und durchgeführt. Den Massenmorden seit Kriegsbeginn ging eine flächendeckende Unterdrückungspolitik voraus, an der in hohem Maße die unteren Ebenen von Polizei und Administration beteiligt waren. Ab 1937 internierten lokale Behörden Roma und Sinti im Deutschen Reich in zahlreichen Orten in besonderen „Zigeunerlagern“. Die 1937 begonnene zentral organisierte Erfassung der Minderheit, die die Voraussetzung der späteren Deportationen in das Vernichtungslager KZ Auschwitz-Birkenau darstellte, vollzog sich in enger Kooperation mit kommunalen und regionalen Instanzen, mit protestantischen und katholischen Kirchengemeinden und mit Unterstützern und Zuarbeitern aus der Sozialarbeit und aus der Heimatforschung. Auch hier also gab es ein erhebliches Mitwirken der unteren administrativen Ebene sowie von nichtstaatlichen gesellschaftlichen Akteuren.[1].
Die Massenmorde geschahen wie die an den Juden ganz überwiegend in Osteuropa, seltener in besonderen Vernichtungslagern. Sie begannen regional zu unterschiedlichen Zeitpunkten und wurden verschieden intensiv durchgeführt. Seit Kriegsbeginn wurden "Zigeuner" in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Opfer der Mordaktionen der Einsatzgruppen. Während Roma in einigen Ländern mit Beteiligung der dortigen Regierungen fast vollständig ausgerottet wurden, wurden sie anderswo noch jahrelang zu Zwangsarbeit herangezogen. Ein großer Teil der deutschen, französischen, böhmischen und niederländischen Sinti und Roma wurde ab Ende Februar 1943 in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie waren in einem zynisch als "Zigeunerfamilienlager" bezeichneten separaten Bereich untergebracht, in dem die meisten von ihnen innerhalb weniger Monate an den Haft- und Arbeitsbedingungen starben. Die Überlebenden wurden 1944 durch Gas erstickt, soweit sie nicht zur Sklavenarbeit in andere Konzentrationslager verlegt wurden. Die Transporte dorthin und die Lagerbedingungen dort bedeuteten ebenfalls für viele von ihnen den Tod.
Die Gemeinschaften der Roma in Osteuropa waren nicht so gut organisiert wie die jüdischen Gemeinden, so dass sie ihre Verluste in der NS-Zeit nicht exakt bestimmen und festhalten konnten. Hinzu kam ihre fortlaufende Diskriminierung nach 1945 und die fehlende einheitliche Interessenvertretung, was die erforderlichen Ermittlungen erschwerte. Die Opferzahlen sind durch die späte und mangelnde Erforschung sowie unvollständige Dokumentation bisher nicht zuverlässig feststellbar. Schätzungen sprechen von mindestens 100.000 Opfern rekonstruierbarer Mordaktionen und rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Genannt werden bis zu 800.000 Tote. In öffentlichen Darstellungen wird oft die Zahl 500.000 genannt. Dem liegt eine Angabe in einer Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog zugrunde. Im Wissenschaftsdiskurs ist diese Zahl umstritten.[2].
Neben Sinti und Roma waren auch als "nach Zigeunerart umherziehende Landfahrer" bzw. als "Nichtzigeuner" kategorisierte Jenische von der Politik der "Zigeunerbekämpfung", der "Asozialenbekämpfung" und der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" betroffen, außerdem wurde eine unbekannte Anzahl von Jenischen und anderen Personen, die sich nicht als "Zigeuner" verstanden, aufgrund ihrer Abstammung oder des bloßen Augenscheins als "Zigeuner" oder "Zigeunermischlinge" eingestuft. Ihr Schicksal im Nationalsozialismus ist nur in den Grundzügen bekannt.[3]
Ältere Formen mehrheitsgesellschaftlichen Umgangs mit "Zigeunern"
Der Antiziganismus hat in Europa eine lange Tradition. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert unterlagen die als "Heiden", „Zigeuner“ oder "Ägypter" Bezeichneten wie die gesamte Armutspopulation außerhalb der Untertanenverbände einem rigiden rechtlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ausschluss. Sie waren grundsätzlich rechtlos, nirgendwo aufenthaltsberechtigt und also zur Dauermigration gezwungen, auf Nischenerwerbsweisen verwiesen und als "herrenloses Gesindel" stigmatisiert. Auch als sich im 19. Jahrhundert Niederlassungsmöglichkeiten durch die Reform des Niederlassungsrechts ergaben, wurden sie doch häufig weiterhin von Ort zu Ort abgeschoben. Nach einer Niederlassung blieben sie in der Regel in städtischen oder dörflichen Peripheriequartieren ausgegrenzt und isoliert von der Mehrheitsbevölkerung. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden sie als "asozial" stigmatisiert.
Zur jüngeren Vorgeschichte des nationalsozialistischen Antiziganismus
Eine hervorgehobene Maßnahme staatlich-zentraler Vereinheitlichung der Verfolgungsmaßnahmen bildeten 1906 die "Anweisungen zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens", die sich sowohl gegen Sinti und Roma wie auch gegen jenische "Landfahrer" richteten, soweit sie nicht ortsfest lebten. 1924 wurden sie erneuert.
Das seit 1899 bestehende bayerische Amt für Zigeunerangelegenheiten in München wurde in der Weimarer Republik 1929 zur Zentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens umgeformt und kooperierte fortan eng mit einer entsprechenden Behörde in Wien. Dieses Amt ermächtigte die Polizei, Roma und Sinti ohne feste Arbeitsstelle zu Zwangsarbeit zu verpflichten. Die SS begann schon 1931 Roma und Sinti zu erfassen.[4]
Nationalsozialismus
"Zigeuner" als "Artfremde"
Bald nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten und ihre Bündnispartner im Januar 1933 verschärften vor allem lokale polizeiliche und administrative Instanzen die traditionelle Diskriminierung deutlich. Ab 1935 wurden sie wie die Juden in die rassistische Gesetzgebung einbezogen. Obwohl die Nürnberger Gesetze "Zigeuner" nicht ausdrücklich nannten, schloss der maßgebliche Kommentar zum Reichsbürgergesetz sie wie Juden ausdrücklich als „artfremd“ mit ein. Sinti und Roma wurden erstmals in einem Runderlass des Reichsinnenministers zur "Bekämpfung der Zigeunerplage" vom 6. Juni 1936 als "dem deutschen Volkstum artfremdes Zigeunervolk" kategorisiert. Ebenfalls 1936 wurden Roma als „Asoziale“ in das KZ Dachau deportiert.
Das Eingreifen nationalsozialistischer "Wissenschaft"
1936 richtete der Arzt und Pädagoge Robert Ritter im Reichsgesundheitsamt die Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle ein. Ihre erste Aufgabe bestand im Aufbau eines "Zigeunersippenarchivs", das seine Bestandsaufnahme 1942 im Großen und Ganzen abschließen konnte. Es folgte die Einrichtung eines „Landfahrersippenarchivs“, das jedoch unabgeschlossen und regional begrenzt blieb.[5] Die Forschungsstelle erstellte bis zum März 1943 nahezu 24.000 Gutachten.[6] Nach Darstellung von Ritter, der sich für seine Beurteilungen die Spielräume selbst setzte und zudem manipulierte, handelte es sich bei der ganz überwiegenden Mehrheit ("mehr als 90%") der erfassten "inländischen Zigeuner" um "Zigeunermischlinge". Anders als im Fall der jüdischen Minderheit wurden "Zigeunermischlinge" stärker als Gefährdungspotential für die "Reinheit" und "Gesundheit" des "deutschen Volkskörpers" betrachtet als "stammechte Zigeuner", weil diese sich abseits halten würden, das schädliche "Blut" der "Zigeunermischlinge" aber durch "Blutsvermischungen" mit "Randexistenzen" der deutschen Volksgemeinschaft in dieselbe Eingang finden würde. "Zigeuner" sollten in Arbeitslager gesteckt und zwangssterilisiert werden.
Auf dieser pseudowissenschaftlichen Grundlage befahl der „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler am 14. Dezember 1937, auch jeden als „reinrassig“ eingestuften Rom in „Polizeiliche Vorbeugehaft“ zu nehmen, sofern er „ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein unsoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet.“ Im Widerspruch dazu betrafen weitere Richtlinien vom 4. April 1938 unterschiedslos „Bettler, Landstreicher (Zigeuner), Dirnen ... ohne festen Wohnsitz“. Damit ging ihre rassistische Abwertung noch über die der Juden hinaus.[7]
Fallgruppen, Einstufungen, Inhaftierungen, Deportationen
Seit 1937 wurden Sinti und Roma auf lokale und regionale Initiative in örtlichen „Zigeunerlagern“ interniert. Im April und im Juni 1938 wurden reichsweit mehr als 10.000 Roma, Juden und Angehörige zahlreicher Gruppen "deutschblütiger Asozialer" nach einem Erlass des Reichsinnenministers zur "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" im Rahmen der "Aktion arbeitsscheu Reich" als "Asoziale" verhaftet und in mehrere Konzentrationslager verschleppt. Es kam zu zahlreichen Tötungen durch individuelle Angriffe und durch die Haftbedingungen.[8]
Am 8. Dezember 1938 verfügte ein Runderlass Himmlers "betr. Bekämpfung der Zigeunerplage" die "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus". In einer seit dem 19. Jahrhundert üblichen Dreiteilung unterschied der Erlass zwischen „rassereinen Zigeuner“, „Zigeunermischlingen“ und Menschen, die „nach Zigeunerart umherziehen“ würden. Mit den Ausführungsbestimmungen des Reichskriminalpolizeiamts vom 1. März 1939 wurden für die drei Gruppen verschiedenfarbige Ausweise eingeführt. Dabei wandelte sich die Kategorisierung der dritten Gruppe zum offeneren Sammelbegriff der "Nichtzigeuner". Diese und als solche „geltende“ „vorwiegend deutschblütige Zigeunermischlinge“ waren nun ausgenommen aus den eskalierenden Ausschlussvorschriften und -maßnahmen.
Gegen Ende des Überfalls auf Polen organisierte Reinhard Heydrich am 21. September 1939 in Berlin eine Konferenz über die Rassenpolitik, die das weitere Schicksal der Roma und Sinti mit dem der deutschen Juden und der Polen verknüpfte. Die Dokumente dazu sind nur unvollständig überliefert. Ein Expressbrief des Reichssicherheitshauptamts vom 17. Oktober 1939 spricht davon, die „Zigeunerfrage“ werde in Kürze gründlich im Reichsgebiet geregelt werden. Adolf Eichmann empfahl, sie gleichzeitig mit der Judenfrage zu lösen.
Am 17. Oktober 1939 wurde mit dem „Festschreibungserlaß“ des Reichskriminalpolizeiamts Sinti und Roma verboten, ihren Wohnort zu verlassen.
Im Mai 1940 wurden 2.500 westdeutsche Sinti und Roma "in geschlossenen Sippen" ins Generalgouvernement deportiert. Sie sollten ursprünglich in das seit 1939 geplante „Judenreservat“ bei Lublin gebracht werden, das nicht zustande kam. Ihr Transport gilt als ein Vorlauf und Übungsfeld für die späteren Judendeportationen.
Der Erlass zur „Auswertung der rassenbiologischen Gutachten über zigeunerische Personen“ vom 7. August 1941 unterschied zwischen „Vollzigeunern bzw. stammechten Zigeunern“, „Zigeuner-Mischlingen mit vorwiegend zigeunerischem Blutsanteil“ (1. Grades, 2. Grades), „Zigeuner-Mischlingen mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“ und „Nicht-Zigeunern“: „NZ bedeutet Nicht-Zigeuner, d. h. die Person ist oder gilt (!) als deutschblütig [Klammern im Original].“
Massenmorde
Schon 1940 erschossen örtliche Polizeieinheiten ohne übergeordneten Befehl Roma im besetzten Polen. Diese unorganisierten Morde häuften sich seit dem Balkanfeldzug und dem Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945.
Seit August 1941 kam es auch in von der Wehrmacht eroberten sowjetischen Gebieten zu Massenerschießungen von Roma. Die Mörder verteilten sich auf verschiedene Behörden, die unterschiedlich vorgingen. Die Opfer wurden oft als „Spione hinter der Front“ oder „Asoziale“ deklariert und dabei nicht von anderen ethnischen Gruppen unterschieden. Die meisten Roma der besetzten sowjetischen Gebiete wurden in kleineren Gruppen von Wehrmachtseinheiten ausgeliefert und dann von der Sicherheitspolizei erschossen.
In der Südukraine ermordete die Einsatzgruppe D alle Roma, die sie fand und festnehmen konnte. Im „Heeresgebiet Mitte“, d.h. im Osten Weißrusslands und mittleren Frontabschnitt vor Moskau, wurden nur die nichtsesshaften Roma ermordet, während die mehr als zwei Jahre Sesshaften verschont blieben. Im Baltikum stritt die deutsche Zivilverwaltung mit SS und örtlicher Polizei jahrelang über die Behandlung der dortigen Roma. Dabei drängte die Zivilverwaltung am meisten auf ihre völlige Ausrottung. In Estland, Lettland und Litauen sind Massenmorde nachgewiesen, jedoch entgegen der Anordnung des Reichssicherheitshauptamts nicht überall flächendeckend.
In Serbien entrechtete die deutsche Militärverwaltung alle nichtsesshaften Roma ebenso wie die Juden. Männliche Roma wurden vielfach als Geiseln gegen Partisanenüberfälle genommen und als Vergeltung dafür massenhaft erschossen. In Kroatien verfolgte die ultranationalistische Regierung die kroatischen Roma unmittelbar nach ihrer Machtergreifung von sich aus gemeinsam mit Regionalbehörden, ebenso wie dortige Juden und Serben. Sie wurden enteignet, entrechtet und vielfach abgeschoben in andere Orte. Ab Mai 1942 deportierten die deutschen Besatzer sie in das Lagersystem der verbündeten Ustascha von Jasenovac. Dort wurden alle katholischen Roma bis zum Jahresende brutal ermordet; nur die wenigen muslimischen Roma wurden durch Eingriffe führender Muslime Bosniens gerettet.
Rumänien hatte die größte Romaminderheit in Südosteuropa. Sie wurde von den mit Hitlerdeutschland verbündeten rumänischen Behörden selbst verfolgt. Besonders die nichtsesshaften und im zurückeroberten Bessarabien und der Nordbukowina lebenden Roma wurden vielfach erschossen. Die übrigen etwa 25.000 nichtsesshaften und sesshaften Roma wurden von Juni bis September 1942 nach Transnistrien bei Odessa vertrieben, wo sie in ghettoartigen Bezirken verhungerten oder an Krankheiten starben. Rückkehrversuche gelangen zunächst nur Roma, die Angehörige in der rumänischen Armee hatten. Im Sommer 1944 durften etwa 6.000 Überlebende aus Transnistrien zurückkehren.
In Bulgarien wurden die Roma zwar auch diskriminiert, z.B. mit geringeren Lebensmittelrationen, aber kaum deportiert. Einige Roma Mazedoniens gelangten wahrscheinlich zusammen mit den dortigen Juden nach Auschwitz.
Die Deportationen von „Zigeunern“ aus dem Reichsgebiet im Frühwinter 1941 standen in einem unmittelbaren Kontext mit der im Gefolge des Überfalls auf die Sowjetunion eingeleiteten Vernichtungspolitik gegen die jüdische Minderheit. Himmler kündigte im September 1941 an, dass das „Altreich“ und das „Protektorat“ „vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit“ werde. Analog dazu sollte das Deutsche Reich „zigeunerfrei“ werden. Seit Mitte Oktober 1941 wurden 20.000 westeuropäische Juden in das Arbeitsghetto Litzmannstadt ('Łódź') verschleppt. Zwischen dem 5. und 9. November 1941 trafen in Viehwaggons aus den Reichsgauen Niederdonau und Steiermark 5.007 Roma ein, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder, die in einem durch doppelten Stacheldrahtzaun abgetrennten Ghettobereich untergebracht wurden, wo sich unter den gegebenen Verhältnissen bald Flecktyphus ausbreitete. Die bis zum Jahresende 1941 die Haftbedingungen Überlebenden wurden im Januar 1942 in dem inzwischen installierten Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) in Gaswagen erstickt. Das im November 1940 zurückgelassene Eigentum der Roma wurde durch die Behörden konfisziert und an die regionale Mehrheitsbevölkerung veräußert, nachdem es zuvor zu spontanen Plünderungen durch Angehörige der "Volksgemeinschaft" gekommen war.
Himmler befahl am 16. Dezember 1942 im „Auschwitz-Erlass“, „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen Dauer in ein Konzentrationslager einzuweisen“. Zuständig dafür blieb die Kriminalpolizei. Am 29. Januar verfügte das Reichssicherheitshauptamt die Ausführungsbestimmungen:
- Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz. [...] Die künftige Behandlung der reinrassigen Sinte- oder der als reinrassig geltenden Lalleri-Zigeuner-Sippen bleibt einer späteren Regelung vorbehalten.
Im "Gedächtnisbuch der Sinti und Roma", die im KZ Auschwitz-Birkenau starben, steht dazu:[9]
- Das Himmlerdekret vom 16. Dezember 1942 (Auschwitz-Erlass), nach dem die Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau deportiert werden sollten, hatte die gleiche Bedeutung für diese wie die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 für die Juden. Dieses Dekret, und die Bekanntmachung, die am 29. Januar 1943 folgte, kann so als die logische Konsequenz der Entscheidungen, die in Wannsee getroffen wurden, gesehen werden. Nachdem entschieden worden war, daß das Schicksal der Juden in der massenhaften Ausrottung enden sollte, war es selbstverständlich für die zweite Gruppe rassisch verfolgter Menschen, den „Zigeunern“, Opfer der gleichen Politik zu werden, was am Ende sogar Soldaten der Wehrmacht beinhaltete.
Am 26. Februar 1943 begann die Deportation der Roma Südosteuropas in das „Zigeunerfamilienlager“ in Birkenau. Ab März 1943 folgten Deportationszüge aus dem Reich, Böhmen und Frankreich dorthin. Bis Mai 1944 folgten einige Hundert Roma aus den Niederlanden. Insgesamt wurden etwa 23.000 Menschen in das Lager gebracht, wo sie zunächst Zwangsarbeit leisten mussten. Einige Tausend von ihnen wurden im Mai 1943 wegen „Fleckfieberverdacht“ isoliert und vergast. Die übrigen starben an Hunger, Frost und qualvollen medizinischen Experimenten; viele wurden auch in andere KZs weitertransportiert und starben dort. Im Mai 1944 beschloss die Lagerleitung von Auschwitz, die übrigen etwa 2.900 Roma und Sinti von Birkenau zu ermorden. Diese leisteten verzweifelten Widerstand, worauf die SS vom ersten Räumungsversuch Abstand nahm. Erst in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 überfiel und erschoss sie die restlichen Häftlinge.[10]
Zur Wahrnehmungsgeschichte der NS-Verbrechen nach 1945
Fortgesetzte Diskriminierung
Bis 1979 wurde der Völkermord an den Sinti und Roma in der Bundesrepublik ignoriert und bestritten.
In Bayern wurde die dortige „Zigeunerzentrale“ der NS-Zeit als „Landfahrerzentrale“ fortgeführt. Bis 1970 arbeitete sie noch mit den Originalakten über viele deutsche Sinti weiter. Sinti und Roma blieben oft lange Zeit staatenlos, weil ihnen unter Hitler die Staatsangehörigkeit entzogen worden war. Erst während der 1980er Jahre bekamen die letzten auf erheblichen Druck der Öffentlichkeit ihre deutsche Staatsbürgerschaft wieder.
Eine Entschädigung, selbst bei schwersten gesundheitlichen Schäden, verwehrten die Landesentschädigungsämter den betroffenen Sinti und Roma. Ein deutscher Innenminister begründete dies 1950 damit, dass „sie nicht aus rassischen Gründen, sondern wegen ihrer asozialen und kriminellen Haltung verfolgt“ worden seien. 1956 entschied der Bundesgerichtshof, die Sinti und Roma seien schon vor 1943 nur zur „Kriminalprävention“ inhaftiert worden, nicht aus rassischen Gründen.
Dieses Urteil wurde 1963 aufgehoben, aber nicht die darauf beruhenden Gerichtsentscheidungen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erreichte 1981 eine Härtefallregelung für die Betroffenen und konnte in einzelnen Fällen Wiedergutmachungszahlungen erwirken. Viele Verfahren blieben aber noch bis in die 1990er Jahre offen.
Völkerrechtliche Anerkennung
Bundeskanzler Helmut Schmidt empfing am 17. März 1982 eine Delegation des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mit dessen Vorsitzenden, Romani Rose. Schmidt erkannte die aus rassischen Gründen durchgeführten Massenmorde der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma als Völkermord an. Bundeskanzler Helmut Kohl bestätigte diese Anerkennung am 7. November 1985 bei einer Bundestagsdebatte.
Bundespräsident Roman Herzog erklärte am 16. März 1997 zur Eröffnung eines Berliner Dokumentations- und Kulturzentrums der deutschen Sinti und Roma:[11]
- Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.
Gedenken
Für viele Sinti und Roma unverständlich, wurde in der Planungsphase des Holocaustmahnmals entschieden, dieses nur den Opfern der Shoa zu widmen und alle anderen Opfergruppen auszuklammern. Daraufhin versuchte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, ein eigenes Mahnmal durchzusetzen. Dies unterstützten einige Politiker und Vertreter deutscher Juden. Zur Realisierung kam es bislang nicht, weil es zwischen den Repräsentanten der Politik und zwischen den verschiedenen Interessenorganisationen der Opfer bislang zu keiner Einigung über die Beschriftung kam.
Historische Einordnung
Mit der völkerrechtlichen Anerkennung 1982 begann auch in der historischen Einordnung des Porajmos ein allmähliches Umdenken. Im Historikerstreit von 1986ff wurde die Singularität (Einzigartigkeit) der Shoa, nicht aber der Porajmos thematisiert. Mit der Diskussion um ein Mahnmal für die unter den Nationalsozialisten als „Zigeuner“ Verfolgten lebte dieser Streit wieder auf.
Die meisten beteiligten Historiker sehen den Porajmos dennoch als mit der Judenvernichtung nur bedingt vergleichbar an. Sie beziehen sich dabei nicht nur auf das Ausmaß, sondern auch auf die ideologische Vorbereitung, Planung, systematische Durchführung und das Ziel dieser Massenmorde. Eberhard Jäckel sprach von „Legendenbildungen bezüglich der Zigeuner, die sich sehr geschickt den verfolgten Juden gleichstellen möchten“. Dem widersprach Wolfgang Wippermann mit einer Neuveröffentlichung zum Pojramos 2005. Auch einige Historiker in den USA weisen darauf hin, dass die Nationalsozialisten die „Zigeuner“ noch vor den Juden zur Vernichtung ausersehen und teilweise noch rigider als diese verfolgt hätten.[12]
In der Schweiz erarbeitete die Historikerkommission „Schweiz - 2. Weltkrieg“ eine eigene Dokumentation zum Thema.[13] Seit März 1997 zeigt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg eine ständige Ausstellung zum nationalsozialistischen Völkermord an dieser Minderheit.
Den Streit um das Mahnmal und die Nichtanerkennung des Porajmos als gleichrangig mit der Shoa erleben viele Menschen als schmerzhafte Verharmlosung dieses Massenmords und als Zeichen dafür, dass diese Opfer immer noch als „Opfer zweiter Klasse“ betrachtet und behandelt werden.
Anmerkungen
- ↑ Karola Fings/Frank Sparing, Rassismus, Lager, Massenmord. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Bd. 13), Köln 2005, S. 132ff.; Ulrich Friedrich Opfermann, 16. The registration of Gypsies in National Socialism: Responsibility in a German region, in: Romani Studies (continuing Journal of the Gypsy Lore Society), 5th Series, Vol. 11, No. 1 (2001), S. 25-52
- ↑ Vgl. die Literaturangaben bei: Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage", Hamburg 1996, S. 503
- ↑ Die Dissertation von Andrew Rocco Merlino D'Arcangelis 2004 stellt die Gruppe der Jenischen in den Mittelpunkt einer Darstellung verschiedener NS-Texte zur "Asozialenfrage".Andrew Rocco Merlino D'Arcangelis: Die Verfolgung der sozio-linguistischen Gruppe der Jenischen (auch als die deutschen Landfahrer bekannt) im NS-Staat 1934 - 1944 (Links zu Volltext in 2 pdf-Dateien) In jüngster Zeit verlangen jenische Interessenverbände, auch diese Gruppe als Opfer des Holocaust anzuerkennen. Da andere ebenfalls als "asozial" kategorisierte und verfolgte Gruppen über keine Formen der Selbstorganisation verfügen, fallen sie aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend bis völlig heraus.
- ↑ Angelika Königseder, Sinti und Roma, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1998, 3. Aufl. S. 230-231, hier: S. 730
- ↑ Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage", Hamburg 1996, S. 153, 436
- ↑ Zimmermann, S. 151
- ↑ Artikel Zigeuner, in: Enzyklopädie des Holocaust, Hrsg. Israel Gutman, München 1998, S. 1631
- ↑ Wolfgang Ayaß, "Asoziale" im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 139ff.
- ↑ Jan Parcer: Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im KZ Auschwitz-Birkenau (Ksiega Pamieci. Cyganie w obozie Koncentracyjnym Auschwitz-Birkenau), 2 Bände, Saur KG 1993
- ↑ Dieter Pohl: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2003, S. 111-115
- ↑ zitiert nach: Dokumentations- und Kulturzentrum der deutschen Sinti und Roma, ständige Ausstellung in Heidelberg
- ↑ William A. Duna (University of Minnesota): Gypsies: A Persecuted Race. Gypsies in Nazi Germany
- ↑ Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus.
Literatur
- Wlaclaw Dlugoborski (Hrsg.), Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943-1944. Vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung unter der Naziherrschaft, Oswiecim 1998
- Guenter Lewy: „Rückkehr nicht erwünscht“ - Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich. Propyläen Verlag, München 2001, ISBN 3549071418
- Till Bastian: Sinti und Roma im Dritten Reich. Geschichte einer Verfolgung. C.H.Beck, 2001, ISBN 3406475515
- Michail Krausnick: Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma. Psychosozial-Verlag, 2002, ISBN 3883500380
- Romani Rose (Hrsg.): Den Rauch hatten wir täglich vor Augen. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Wunderhorn, Heidelberg 1999, ISBN 388423143X
- Wolfgang Wippermann: „Auserwählte Opfer?“ Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse. Frank & Timme Verlag, Berlin 2005, ISBN 3865960030 (Rezension von Jan Süselbeck)
- Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“. Christians, Hamburg 1996, ISBN 3767212706
Weblinks
- The Jewish Answer to Porajmos Centre for Holocaust and Genocide Studies, Universität von Texas, Austin.
- Minderheit ringt um Anerkennung
- Streit um Text auf Mahnmal für Sinti und Roma
- Roma als Opfer des Holocaust
- „Wessen Mahnmal?“ Stellungnahme der Jenischen