Mystik
Kevin Obermann mein: Der Ausdruck Mystik kommt von griechisch mystikós, „geheimnisvoll“, dies wiederum steht in Verbindung mit griech. myein, „sich schließen, zusammen gehen“, was zunächst auf die Augen bezogen war. Das Wort mystisch wurde anfangs auf Mysterien und Geheimriten bezogen und später generell im Sinne von dunkel und geheimnisvoll verwendet. In der Spätantike findet der Ausdruck dann auch in philosophischen Kontexten Verwendung, wenn der verborgene Sinn einer Äußerung angesprochen ist, und wird insbesondere von Proklos auf den Bereich des Göttlichen bezogen.[1].

Das Wort bezeichnet heute im allgemeinen Sprachgebrauch Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer höchsten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine solche Erfahrung. Ähnlich wie hin und wieder Mystik selbst bezeichnen davon abgeleitete Worte wie Mystizismus und mystisch in der Umgangssprache auch als unverständlich, rätselhaft oder unsinnig empfundene Redeweisen - ohne dass ein Bezug auf spezifische Traditionen religiöser Mystik mitgemeint wäre.
Das Thema „Mystik“ ist ein Forschungsgegenstand innerhalb der Theologien der Offenbarungsreligionen und der Religionswissenschaften, in Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaft, in der Philosophie und Psychologie. Ein fachwissenschaftlicher Konsens über eine präzisere Begriffsbestimmung besteht nicht.
Begriffsbestimmung
Im Alltagssprachgebrauch bezieht sich "Mystik" meist auf religiöse Erfahrungen, die als solche nicht objektiv zugänglich scheinen. Die meisten fachwissenschaftlichen Forschungsansätze analysieren dagegen lediglich Berichte über mystische Erfahrungen, psychologische Korrelate oder philosophisch-theologische Interpretationskategorien derselben.
Zu den bekannteren Forschern zählen dabei für die jeweiligen Einzelwissenschaften beispielsweise:
- in der Theologie: Karl Rahner, Dorothee Sölle, Ernst Troeltsch, Joseph Maréchal, Dietmar Mieth, Gershom Scholem, Hans Urs von Balthasar, Walter Nigg
- in der Theologiegeschichte: Rudolf Haubst, Vladimir Lossky, Hugo Rahner, Josef Sudbrack, William J. Hoye
- in der Literaturwissenschaft: Bernhard Teuber, Alois Maria Haas, Walter Haug, Niklaus Largier, Kurt Ruh, Michael Egerding, Burkhart Hasebrink, Susanne Köbele, Otto Langer
- in der Religionswissenschaft: Rudolf Otto, Annemarie Schimmel, John Walbridge, Roland Pietsch, Richard King, Thomas A. Forsthoefel, Robert H. Sharf
- in der Geschichtswissenschaft: Bernard McGinn, Michel de Certeau, Peter Dinzelbacher, Robert E. Lerner
- in der Philosophie: William James, William Alston, Jerome Gellman, Steven T. Katz, C. D. Broad, Evan Fales, J. William Forgie, Wayne Proudfoot
- in der Philosophiegeschichte: Jasper Hopkins, Karl Albert, Ian Almond, John D. Caputo, Oliver Davies, Maurice de Gandillac, Alain de Libera, Kurt Flasch, Werner Beierwaltes, Joseph Bernhart, Ruedi Imbach, Josepf Koch, Klaus Kremer, Andrew Louth, Burkhard Mojsisch, Michael Sells, Loris Sturlese, Frank Tobin, Ellior R. Wolfson
- in der Psychologie: Carl Albrecht, Eugene d'Aquili, Andrew Newberg, James H. Austin, Michael A. Persinger, Peter Fenwick
Dabei ist eine nähere Bestimmung des Begriffs sehr kontrovers. Zur Problematik trägt bei, dass das Thema Mystik unterschiedlichste Wissenschaftsdisziplinen betrifft, innerhalb welcher nochmals sehr unterschiedliche Forschungsrichtungen existieren.
Im alltäglichen Sprachgebrauch sowie in populärer Literatur findet das Thema „Mystik“ ebenfalls breites Interesse. Entsprechend vielfältig ist die populäre Literatur, in welcher der Ausdruck „Mystik“ oft in sehr unbestimmtem Sinne verwendet wird.
Gleichwohl lassen sich Merkmale angeben, die zumeist für mystisches Erleben und mystische Spekulation für typisch gehalten werden. Auch ist für mehrere Personen unstrittig, dass diese weithin als Mystiker gelten.
Religionsgeschichtliche Perspektive
Religionsgeschichtlich versteht man unter Mystik eine Sonderform eines religiösen und damit auf ein Absolutes oder Jenseits ausgerichteten Erlebens und Beschreibens. Mystische Erfahrungen werden deswegen stets im Rahmen des individuellen Kontext ausgedrückt. Doch ist das transzendente Element in theistischen Kontexten stets Gott.
Als Gotteserfahrung gedeutete mystische Erlebnisse kennen u. a. Strömungen des Judentums, des Christentums, des Islams und des Hinduismus. Sie finden in unterschiedlichsten Begriffen und Wendungen Ausdruck, die von späteren Mystikern für die Darlegung ihrer mystischen Theologie oder Berichte ihrer Gotteserfahrung verwendet wurden: Nacht und Dunkelheit, Feuer (Mose), „sanftes, leises Säuseln“ (1 Kön 19,12), Liebe (Johannesbriefe), göttliches Du, Gott als innerstes Innen (z.B. bei Augustinus); göttliche Mutter (Ramakrishna).
Nichttheistische Traditionen wie Buddhismus, Jainismus und Daoismus setzen mystische Erfahrungen mit einer letztendlichen Wirklichkeit ohne Bezug auf eine göttliche Wesenheit in Beziehung.
Mystik in den Weltreligionen
Christliche Mystik
Der Ursprung der christlichen Mystik ist in den Gotteserfahrungen der Mystiker der Kirche zu finden. Im späten Mittelalter unterschied der französische Theologe Johannes Gerson die Theologia mystica als experimentelle Erkenntnis Gottes bzw. Erfahrungswissen von Gott (cognitio dei experimentalis) von einem lehrhaft vermittelbaren theoretischen Wissen von Gott (cognitio dei doctrinalis).
siehe Hauptartikel Christliche Mystik
Personen
In christlichen Kontexten sind wichtige Personen der Mystikgeschichte:
- Augustinus von Hippo (354-430)
- Hildegard von Bingen (1098-1179)
- Amalrich von Bena († 1206)
- Franz von Assisi (1181/1182-1226)
- Mechthild von Magdeburg (1207/10-1282/94) und Mechthild von Hackeborn (1241/42-1299) und hl. Gertrud von Helfta (1256-1301/2) (aus Helfta in Eisleben (Sachsen-Anhalt)
- Margareta Porete (1250/60-1310), Begine, verfasste den „Spiegel der einfachen Seele“, den meistverbreiteten mystischen Traktat des 14. Jh.s und wurde als Häretikerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt
- der Kirchenlehrer und Franziskanertheologe Johannes Bonaventura (vor 1221-1274), der auch Werke wie die „Pilgerreise der Seele zu Gott“ verfasste
- der deutsche Theologe und Philosoph Meister Eckhart (1260 - 1328) (für welchen das Etikett „Mystiker“, wie für viele andere Personen, umstritten ist)
- der Augustiner Heinrich von Friemar (der Ältere) (1250-1340), welcher, teils von Eckhart beeinflusst, den ersten Traktat über die Unterscheidung der Geister und die mystischen Traktate De adventu Verbi in Mentum und Tractatus de adventu Domini verfasste
- der deutsche Mystiker Johannes Tauler (†1361), der zu Zeiten der Pest in Straßburg wirkte und einer stark nachgefragten privaten Frömmigkeit entgegenkam mit seiner Predigt von der Einheit des Menschen mit Gott (unio mystica), die aktiv zu betreibende ethische Vervollkommnung erfordert.
- der Nonnenseelsorger Heinrich von Nördlingen (um 1310-nach 1356), durch Tauler beeinflusst, dessen Briefverkehr Aufschluss über die oberdeutschen bzw. Basler „Gottesfreunde“ gibt und der Mechthild von Magdeburgs „Spiegel der einfachen Seele“ übersetzte
- die Dominikanernonne Margareta Ebner (1291-1351), die wie etwa Eufemia Frickin mit Heinrich von Nördlingen brieflich verkehrte
- die Dominikanerin Christine Ebner (1277–1356), mit Margareta Ebner nicht verwandt
- der deutsche Mystiker Heinrich Seuse (1295–1366), von dem ein inneres Gnadenerlebnis, Ekstasen und Askesen berichtet werden, die wohl teils hagiographischen Ursprungs sind. Als Student am Studium Generale des Dominikanerordens ist er begeisterter Schüler Eckharts. Diesen verteidigt er gegen Kritiker und wettert selbst gegen die Brüder des freien Geistes, später gerät er wie Eckhart unter Häresieverdacht. Seine Schriften sind ihres poetischen Reichtums wegen bekannt und prägen ein noch immer verbreitetes Bild der „Deutschen Mystik“. Sein „Büchlein der Wahrheit“ war ein beliebtes Andachtsbuch im Mittelalter, seine geistliche Vita ist die erste in deutscher Sprache (wenngleich mit Einflüssen seiner geistlichen Tochter Elsbeth Stagel).
- der sel. flämische Mystiker Jan (o. Johannes) van Ruysbroek (o. Ruusbroec o. Rusbrochius) (1293-1381)
- der unbekannte Autor des Werks »Gottesfreund im Oberland« (1346) gehört in den Zusammenhang der Laienfrömmigkeit einer Gemeinschaft von Männer und Frauen, die ethische Erneuerung und nicht klerikal gebundene Frömmigkeit suchten.
- Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) (1417–1487) zählt zu den letzten spätmittelalterlichen Mystikern. Wegen des päpstlichen Schismas waren weite Teile der Schweizer Eidgenossenschaft exkommuniziert, was Laienbewegungen Aufschwung brachte. Niklaus wurde vom Mystikerkreis des Klosters Engelberg und den Straßburger Gottesfreunden beeinflusst. Von ihm werden asketisches Fasten und ein Turmerlebnis in Jugendjahren berichtet, sowie ein Lichterlebnis, das ihn zur Heimkehr aus der Einsiedelei bewog. Er wirkte als politischer Berater, verband also Mystik und Politik. Neben Sprüchen und Reimgebeten sind eine nicht von ihm verfasste, aber seine oder verwandte Worte wiedergebende volkstümliche Erbauungsschrift überliefert.
- Sebastian Franck (1499-1542/3)
- die spanische Mystikerin Teresa von Ávila (1515–1582) gründete Karmelitinnenklöster, darunter das erste Frauenkloster Spaniens, wirkte aktiv in der Seelsorge und verfasste geistliche Texte. Die „Innere Burg“ beschreibt den Weg ins Innerste des Menschen. Sie ist bekannt für ihre Predigt der Freundschaft mit Gott.
- der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) wurde durch Theresa von Avila für Reformen des Karmelitenordens gewonnen, lebte streng asketisch und suchte eine leidenschaftliche Spiritualität. Seine ekstatischen Visionen schlugen sich in einer geistlichen Poesie nieder.
- Valentin Weigel (1533-1588)
- Franz von Sales (1567-1622)
- Jakob Böhme (1575-1624)
- Angelus Silesius (Johann Scheffler, 1624-77)
- Gerhard Tersteegen (1697-1769)
- vgl. auch Devotio moderna
Auch moderne, dem Christentum nahestehende Autoren schreiben erfahrungsbezogen über „Mystik“. Dabei verschwimmen in populären Werken oft die Grenzen zur Esoterik (im alltagssprachlichen Sinn).
Nennenswert sind:
- der Naturphilosoph Carl Friedrich von Weizsäcker
- der Logiker und Philosoph Ludwig Wittgenstein. Gern wird in diesem Zusammenhang der Schluss seines Tractatus logico-philosophicus zitiert: „Nicht WIE die Welt ist, ist das Mystische, sondern DASS sie ist.“ - und weiter: „Es gibt allerdings auch Unaussprechliches. Dies ZEIGT sich, es ist das Mystische“. Der Traktat schließt mit: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ In den privaten Einträgen seiner Tagebücher reflektiert Wittgenstein auch Thematiken, die teils der „Mystik“ zuzurechnen sind.
- die Autorin Rut Björkman
- der Autor Rupert Lay
- der Benediktiner Willigis Jäger
Merkmale
In der Beschreibung mystischer Erfahrungen gibt es große Unterschiede. So beziehen sich Autoren eher christlicher Traditionen oft auf biblische Motive. Stellen wie „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) aus den Seligpreisungen Jesu können dann auf eine Reinheit von Affekten, sinnlichen Wahrnehmungen und Handlungsmotiven bezogen sein, die als Vorbedingung für die Gottesnähe in mystischer Erfahrung beansprucht wird. Es gibt aber auch Beschreibungen teilweise sehr plötzlich eintretender mystischer Erfahrung, für die kaum spezielle Voraussetzungen genannt werden können.
Hinduistische Mystik
Nach hinduistischen Lehren ist eine Einheitserfahrung mit dem göttlichen Brahman möglich. Das ist in Worten kaum wiederzugeben, da Begriffe es nicht fassen. Typische Beschreibungen bedienen sich Metaphern wie: das Bewusstsein weitet sich ins Unendliche, ist ohne Grenzen, man erfährt sich aufgehoben in einer Wirklichkeit unaussprechlichen Lichts und unaussprechlicher Einheit (Brahman). Dieser Einheitserfahrung entspricht die Lehre der Einheit von Atman („Seele“) und göttlichem Brahman.
Dieses Einssein fassen verschiedene Vertreter unterschiedlich auf:
- pantheistisch: Wie ein Salzklumpen sich im Wasser auflöst, gehe der Atman im göttlichen Brahman auf.
- panentheistisch: Die Seelen behalten einen Eigenstand, wenngleich mit dem Brahman unauflöslich verbunden.
- monotheistisch: Einheit in Vielfalt. Qualitative Einheit und gleichzeitige individuelle Vielfalt, die der Seele eine ewige mystische Liebesverbindung mit Gott ermöglicht (Vishishta-Advaita).
Nach hinduistischer Lehre ist die alltägliche Wahrnehmung auf Vieles gerichtet, die mystische Erfahrung aber eine Einheitserfahrung. Das göttliche Eine ist in Allem gegenwärtig, jedoch nicht einfachhin erfahrbar. Es zu erfahren setzt voraus, die Wahrnehmungs-Art zu ändern. Dazu dienen Konzentrationstechniken des Yoga (Meditation) und die Askese (Enthaltung, Verzicht). Askese führt zur Freiheit gegenüber weltlichen Bedürfnissen. Dies kann Essen und Trinken, Sexualität oder Machtstreben einschränken.
Buddhistische Mystik
In der buddhistischen Mystik, die insbesondere in den Strömungen des Mahayana und Vajrayana verbreitet ist, geht es wie in allen buddhistischen Schulen nicht um direkte Erfahrung eines göttlichen Wesens. Die Natur des Geistes wird als nicht-dual verstanden. Dies ist jedoch in der Regel nicht bewusst und wird durch das Anhaften am Ich verschleiert. Aus dieser grundlegende Unwissenheit entsteht die Vorstellung eines unabhängig von anderen Phänomenen existierenden Ichs. Damit geht das Auftreten der Geistesgifte Verwirrung/Unwissenheit, Hass, Gier, Neid und Stolz einher, die Ursachen allen Leidens. Ziel ist es, die Geistesgifte in ursprüngliche Weisheit umzuwandeln, die Ich-Vorstellung aufzulösen und die den unerleuchteten Wesen eigene Aufspaltung der Phänomene in Subjekt und Objekt zu überwinden. Die den fühlenden Wesen innewohnende, bis dahin verschleierte Buddhanatur wird als immer schon zugrundeliegend erkannt. Wer dies erreicht wird erleuchtet oder schlicht Buddha genannt. Praktiken wie Meditation, Gebet, Opferdarbringungen, verschiedene Yogas und spezielle tantrische Techniken sollen dies ermöglichen.
Daoistische Mystik
Die in China entstandene Philosophie und Religion des Daoismus besitzt in ihren verschiedenen Formen eine spezifische Mystik. Schon die ältesten Texte die sich mit dem Dao, dem Urgrund des Daseins, befassen, das Daodejing und Zhuangzi, beschäftigen sich mit der Idee des Erlangens des Ureinen und der mystischen Inneschau sowie einer bestimmten geistigen Haltung, die den daoistischen Mystiker auszeichnet. Die ab dem 2 Jh. entstandene daoistische Religion hatte dann in ihren verschiedenen Schulen einen ausgeprägten Hang zu mystischen Formen von Ritual und Magie, Meditation und Innenschau, basierend auf komplexen Annahmen über die Natur des Dao und des daraus entstandenen Kosmos.
Islamische Mystik
Vertreter des Sufismus (islamische Mystiker) lehren, dass Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Diesen Funken verschleiert die Liebe zu allem, was nicht Gott ist - etwa Wichtignehmen der (materiellen) Welt, sowie Achtlosigkeit und Vergesslichkeit (siehe Nafs). Nach dem Propheten Mohammed sagt Gott den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“
Die Sufis praktizieren eine tägliche Übung namens Dhikr, was Gedenken (also Gedenken an Gott, bzw. Dhikrullah) bedeutet. Da rezitieren sie bestimmte Stellen aus dem Koran und wiederholen eine bestimmte Anzahl der neunundneunzig Attribute Gottes. Darüber hinaus kennen die meisten sufischen Orden (Tariqas) ein wöchentliches Zusammentreffen in sogenannten Tekkes, bei dem neben der Pflege der Gemeinschaft und dem gemeinsamen Gebet ebenfalls ein Dhikr ausgeführt wird. Je nach Orden kann dieser Dhikr auch Musik, bestimmte Körperbewegungen und Atmungsübungen beinhalten.
siehe auch: Kategorie:Sufi
Jüdische Mystik
Im Judentum hat die Mystik besonders in der Kabbala eine breite Tradition. Mehr auf rationale Sicht des Glaubens bedachte Denker haben diese Bewegung oft kritisiert.
Nennenswerte Vertreter und Quellen sind:
- Jochanan bei Sakkai (1. Jh. n.)
- Rabbi Akiba und sein Schüler Schimon ben Jochai
- das Buch Jezira (3.-6. Jh. n.)
- Abulafia (1240-1292)
- Gikatilla (1248-1325?)
- der Sohar (Ende 13. Jh.), die wohl bedeutendste kabbalistische Schrift
- Isaak Luria (1534-1572)
- Gershom Scholem (Beurteilt unter anderem in seinem Buch «Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967) die Kabbala und den Chassidismus)
Neuere Tendenzen aus Philosophie und Psychologie
- Der analytische Psychologe Carl Gustav Jung versteht Mystik als religionsunabhängige innere Kontemplation jenseits der Spaltung in verschiedene Konfessionen und Bekenntnisse. Ein Vorbild für ihn ist der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe (Bruder Klaus).
- Ludwig Wittgenstein hat sich, u.a. in Tagebüchern und zum Schluss seines Tractatus Logico-Philosophicus und anderen Schriften, über Mystik geäußert
- Einige Theoretiker aus dem Kontext der Systemtheorie haben Studien zur Mystik vorgelegt, darunter Niklas Luhmann und Peter Fuchs.
- der Psychologe Erich Fromm, der einem säkularen Judentum nahesteht und u.a. von Maimonides und Meister Eckhart beeinflusst wurde, hat sich auch zu Zusammenhängen von Mystik und Politik geäußert (u.a. am Ende seines Werks Haben oder Sein)
Übergreifende und spezielle Aspekte
Mystik und Lebenswelt
Weltabgewandtheit - Vermeidung von körperlichen Freuden durch Fasten, Askese und Zölibat oder den Rückzug in die Einsamkeit als Eremit hat in vielen Religionen eine lange Tradition. Teilweise wird beansprucht, eine solche Haltung sei Vorbedingung mystischer Erfahrung. Andere Traditionen betonen die Zusammengehörigkeit von Kontemplation und aktivem Leben. Die christliche Theologie spricht in diesem Zusammenhang von „vita activa“ und „vita contemplativa“. Beide Seiten gehören etwa für Meister Eckhart stets zusammen. Teilweise wird auch ein wesentlicher Zusammenhang von Mystik und Politik beansprucht, wie er sich etwa bei Nikolaus von Flüe und Meister Eckhart findet.
Auch Traditionen des Zen betonen, dass Spiritualität und Alltag nicht entkoppelt werden dürfen. So beschreiben etwa die Verse „Der Ochse und sein Hirte“ den Entwicklungsweg eines Zen-Schülers im alten Japan und enden mit der Rückkehr auf den Marktplatz. Auch der Zen-Meister Willigis Jäger betont: „Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg.“
Erfahrung und Erfahrenes
In der mystischen Erfahrung lassen sich Erfahrung und Erfahrenes unterscheiden. Die christliche Mystik bezeichnet die Erfahrung als Mysterium oder Unio Mystica, im buddhistischen Kulturraum wird sie etwa als Satori oder Kensho benannt, im hinduistischen Raum als Nirvikalpa Samadhi. Sie bezieht sich immer auf das Erfahrene, die höchste Wirklichkeit, die im christlichen Kulturraum mit Gott, im buddhistischen Raum etwa mit Nirwana, im hinduistischen mit Atman/Brahman bezeichnet wird. Diese höchste Wirklichkeit hat stets ihren spezifischen individuellen Hintergrund (Religion, Kultur, Wissenschaft). Aus phänomenologischer Sicht ist daher unentscheidbar, ob die in unterschiedlichen Strömungen beschriebene höchste Wirklichkeit identisch ist und gleich erlebt wird.
Abgrenzung zur Prophetie
Die von religiösen Strömungen im Judentum und Christentum beanspruchte mystische Erfahrung wird als Glaubenserfahrung verstanden, als intensive Form der Spiritualität. Dabei ist teilweise beansprucht, das Göttliche nicht mehr personal zu erfahren. Dieses Merkmal kann zumindest religionsphänomenologisch von Prophetien abgrenzen, sofern hier Gott stets als personales Gegenüber erfahren wird.
Mystik und Unsagbarkeit
Viele Berichte von mystischer Erfahrung betonen, dass kein Begriff und keine Aussage auch nur annähernd passen. Das Erfahrene ist, abhängig von soziokulturellen Bedingungen, vielfältig umschreibbar.
Vor theistischem Hintergrund liegt der Name Gott nahe. Atheisten sprechen etwa von der wahren Natur allen Seins oder der tiefen kosmischen Einheit aller Dinge. Gleichwohl heben viele Beschreibungen die Erfahrungsweise von weltlicher Objekterkenntnis ab. Beispielsweise, da hier kein Ich einem Höheren gegenüberstehe, sondern von diesem Höheren „umfasst“ werde. Bei gleichzeitiger Nichtbenennbarkeit und dem Verlangen, von der Erfahrung dennoch nicht nur zu schweigen, bedient sich Mystik oft ungewöhnlicher Stilmittel.
- Verschiedene biblische Texte sprechen von der Entzogenheit, Unsichtbarkeit, Nichtabbildbarkeit und Unnennbarkeit Gottes. (Beispielsweise 1 Tim 6,16: „Gott, der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat.“)
- Buddha hat das mystisch Erfahrene nicht als göttlich bezeichnet. Die höchste Wirklichkeit sei kein göttliches Wesen, das mit Verstand und Willen ausgestattet sei und handele, sondern alles überstrahlender Friede und Glückseligkeit. Die höchste Wirklichkeit bewahre Menschen auch nicht vor Unglück oder befreie nicht aus Lebensgefahren, wenn man sie in Gebeten inständig darum bäte, sondern in der Welt geschehe viel unabänderliches Leid, und dennoch sei alles in dieser höchsten Wirklichkeit geborgen. Die höchste Wirklichkeit erschaffe nicht die vielen Weltdinge wie die Quelle einen Bach hervorbringe oder wie ein Künstler sein Kunstwerk erschaffe. Über die Entstehung der Weltdinge sei nichts wissbar. Die höchste Wirklichkeit sei einfach da als souveräne, unantastbare, absolut erfüllende Wirklichkeit, die Menschen prinzipiell wahrnehmen können. Aus der mystischen Erfahrung heraus werden alle Phänomene auch als Leerheit (Nichts) beschrieben, in dem Sinne, dass sie leer von einem ihnen innewohnenden Sein sind. Das mystisch Erfahrene wird auch als Wirklichkeit beschrieben, in der es kein Leid, keinen Tod und keine Entwicklung mehr gibt, die eine absolute Erfüllung und Seligkeit bedeutet – ganz anders jedoch, als man sich Glückseligkeit vorstellen könnte und zu sagen wüsste.
- Von Thomas von Aquin, dem wirkungsgeschichtlich bedeutenden mittelalterlichen Theologen, wird legendarisch berichtet, er habe nach einer mystischen Erfahrung seine Bücher verbrennen wollen, da er dadurch erkannt habe, dass alle Gott zuschreibbaren Begriffe mehr falsch als richtig sind. Tatsächlich reflektiert die thomanische Analogielehre die Beschreibbarkeit und Unbeschreibbarkeit Gottes.
- In philosophisch-theologischen Traditionen reflektiert die „negative Theologie“ auf diesen Widerspruch. Wichtige Vertreter sind (wobei die Zuordnungen teils umstritten sind) Nikolaus von Kues, Meister Eckhart.
Mystik und Rationalität
Häufig werden Mystik und Rationalität einander entgegengesetzt. Eine Beurteilung des Verhältnisses ist abhängig davon, wie beide Begriffe verstanden werden.
Viele mittelalterliche Autoren unterscheiden ratio (Vernunft) und intellectus (Verstand) in der Weise, dass der Intellekt als diskursives Vermögen verstanden Unterscheidungen trifft; während die Ratio höheren Ranges ist, weil auf Einheit ausgerichtet. Dass mystische Erfahrung kein Fall diskursiven Erkennens sein kann, bestreitet kein Mystiker. Eine solche Trennung der Hierarchien ermöglicht, den Anschein eines Gegensatzes aufzulösen. Oft wird für mystische Erfahrung eine höhere (nämlich absolute) Gewissheit gegenüber sonstigem für wahr gehaltenem reklamiert.
Bezieht man Rationalität auf die aristotelisch durchformte Wissenschaftskultur des Mittelalters, so stehen dieser viele Mystiker aus Kontexten mittelalterlicher Laienbewegungen fern. Auch viele Mystiker, die sich philosophisch-theologisch artikulieren, suchen Denkformen, die der aristotelischen Wissenschaftstheorie ferner stehen und stärker einem weisheitlichen Konzept des Wissens und höchsten Wissens nahestehen. Einige greifen dazu zurück auf die Konzeptionen von Augustinus, Boethius und der sogenannten „Schule“ von Chartres.
In modernen Kontexten unterscheidet sich ein Zugang zur höchsten Wahrheit durch unmittelbare individuelle Erfahrung von der Methodik neuzeitlicher Wissenschaft, da diese Verallgemeinerbarkeit und Reproduzierbarkeit beansprucht.
Mystik und Widerstand
In ihrem wohl bekanntestem Werk, dem 1997 erschienen Buch Mystik und Widerstand, spricht sich die evangelisch-lutherische Theologin Dorothee Sölle für die Überwindung des vermeintlichen Gegensatzes von kontemplativer Transzendenzerfahrung und politisch/gesellschaftlichem Engagement aus. Sie zeigt auf, dass z.B. Persönlichkeiten wie der Sklavenbefreier und Quäker John Woolman, der ehemalige Generalsekretär der UNO Dag Hammarskjöld und der Bürgerrechtler Martin Luther King ihre Kraft zum Widerstand gegen gesellschaftliches Unrecht aus ihren mystischen Erfahrungen schöpften. Mystische Erfahrung bedeute demnach kein bewußtes Abwenden von der Welt, sondern die direkte Transzendenzerfahrung fördere gerade ein demokratisches Glaubensverständnis.
Spezifika mystischer Erfahrung
Mystische Erfahrung und andere Bewusstseinszustände
Mystiker beschreiben ihre Erfahrungen sprachabhängig in Redewendungen und Bildern ihres Kulturkreises. Viele betonen allerdings die Notwendigkeit, von allen Bildern zu lassen. Bekannt dafür ist in christlichen Kontexten Meister Eckhart, daneben auch das Bilderverbot in dem selten vollständig zitierten ersten der "Zehn Gebote" Moses'.
Halluzinationen treten im Wachzustand auf. Von mystischen Erlebnissen sind sie schwer unterscheidbar. Anhand einer Reihe von Merkmalen wie Inhalte der Erfahrung, Dauer, Kommunikationsfähigkeit, Ausdruck, Vokabular und Emotionalität versucht man Unterschiede zwischen mystischen und psychotischen Zuständen zu fassen. Als wesentlich für mystische Erfahrungen wird etwa die Umorganisation handlungsleitender Motive, Affekte, Welt- und Selbstbildvorstellungen herausgestellt. Ob mystische Erfahrung nur eine Halluzination ist, lässt sich objektiv nicht klären.
Mystische Erfahrungen werden in einem Bewusstseinszustand eigener Art erlebt, der auch als mystisches Bewusstsein bezeichnet wird. Es fällt allerdings durchaus nicht leicht, sie allein aufgrund ihrer Beschreibungen in ihrer Art immer sicher auch von Bewusstseinszuständen anderer Art zu unterscheiden – etwa von (über "Begeisterung" deutlich hinausgehenden) enthusiastischen, fanatischen bis ekstatischen Erlebnissen verschiedener Art.
Siehe auch
- Christliche Mystik, Kabbala, Sufismus, Zen, Vajrayana (Tantrismus), Yoga
- Artikel in der Kategorie „Philosophische Mystik“
- Liste von Mystikern, Mysterium, mystische Erfahrung
- Das theosophische Menschenbild
- Die okkulte Anatomie des Menschen und seine geistige Entwicklung nach den Lehren der Theosophie
- Gotteserfahrung
Anmerkungen
- ↑ Vgl. Art. Mystik, mystisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 6, 628 mit exemplarischen Belegen
Literatur
- Primärtexte
Siehe unter den Einträgen zu den entsprechenden Autoren.
- Nachschlagewerke
- Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Wörterbuch der Mystik. 2. Aufl. Kröner, Stuttgart 1998, ISBN 3-520-45602-8
- Allgemeine Literatur
- Karl Albert: Einführung in die philosophische Mystik. WBG, Darmstadt 1996, ISBN 3-534-12948-2
- Bernard McGinn: Foundations of mysticism, Presence of God: a History of Western Christian Mysticism Bd. 1, Herder 1994 Mit einem Überblick zu Forschungsgeschichte und Mystikbegriffen: 265ff
- R. Norman: Rediscovery of Mysticism, in: Gareth Jones (Hg): The Blackwell Companion to Modern Theology, Blackwell Publishing 2004, 459ff;
- M. Sells: Mystical Languages of Unsaying. Chicago; University of Chicago Press 1994u.a. zu Plotin, Eriugena, Ibn Arabi, Marguerite Porete und Meister Eckhart
- Robert P. Scharlemann (Hg): Negation and Theology, Charlottesville: University Press of Virginia 1992
- I.N. Bulhof & L. ten Kate (Hgg.): Flight of the Gods. Philosophical Perspectives on Negative Theology, New York 2000
- M.O. Olivetti (Hg.): Theologie negative, Padua 2002.
- Peter Widmer: Mystikforschung zwischen Materialismus und Metaphysik. Eine Einführung. Herder, Freiburg i.Br. u.a. 2004, ISBN 3-451-28322-0
- Islam (bes. Sufismus)
- Richard Gramlich: Islamische Mystik.Übersetzte Originaltexte aus 10 Jahrhunderten.
- Annemarie Schimmel: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik. 2. Aufl. Beck, München 2003, ISBN 3-406-46028-3
- Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Insel, Frankfurt a.M. u.a. 1995, ISBN 3-458-33415-7
siehe auch: Literaturliste Sufismus
- Christentum
- Klaus Berger: Was ist biblische Spiritualität? (GTB 1456) ISBN 3-579-01456-0
- Peter Dinzelbacher: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Schöningh, Paderborn u.a. 1994, ISBN 3-506-72016-3
- Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Herder
- Band 1. Ursprünge, ISBN 978-3-451-23381-4
- Band 2. Entfaltung, ISBN 978-3-451-23382-1
- Band 3. Blüte. Männer und Frauen der neuen Mystik (1200 -1350), ISBN 978-3-451-23383-8
- Band 4. The Harvest of Mysticism in Medieval Germany (dt. Übers. in Vorb.)
- Dietmar Mieth: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, 1969.
- Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. 5 Bde. Beck, München 1990-1999.
- Korbinian Schmidt: Mystische Erfahrung. Einheit oder Vielfalt? LIT Verlag, Münster-Hamburg-Berlin-Wien-London 2006, ISBN 3-8258-9423-1
- D. Turner: The Darkness of God, Negativity in Christian Mysticism, Cambridge 1995. u.a. zu Pseudo-Dionysius, Augustinus, Bonaventura, Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz
- Judentum (bes. Kabbala)
- Daniel C. Matt (Hrsg.): Das Herz der Kabbala. Jüdische Mystik aus zwei Jahrtausenden. Barth, Bern u.a. 1996, ISBN 3-502-65450-6
- Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977, ISBN 3-518-07809-7
- Buddhismus
- Daisetz T. Suzuki: Der westliche und der östliche Weg. Über christliche und buddhistische Mystik. Neuaufl. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1995.
Weblinks
Überblicke
- Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Artikel Mystik in Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904)
- Zeittafel und Zitate zur Mystik von Helmut Walther
- Textsammlung zur Mystik der Weltreligionen
- B. Janz: Who's Who in the History of Western Mysticism
- Joseph Schumacher: Die Mystik im Christentum und in den Weltreligionen
Sonstiges
- Raoul Mortley: Ancient Mysticism : Greek and Christian Mysticism, and some comparisons with Buddhism. Publications of The Macquarie Ancient History Association 2 (1986), 1-12
- 68seitiges Infoheft „Mystik“ für kath. Religionspädagogen (PDF)
- Bibliographie zur Spiritualität im Mittelalter, von William Harmless, S.J.
- Experientia Dei Bibliographie