Vanitas (lat. „leerer Schein, Nichtigkeit, Eitelkeit“) ist ursprünglich die christliche beziehungsweise jüdische Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen, die im Buch Kohelet im Alten Testament ausgesprochen wird (Koh. 1, 2): „Es ist alles eitel.“ Diese Übersetzung Martin Luthers verwendet „eitel“ im ursprünglichen Sinne von „nichtig“.

Vanitas-Motive zeigen, dass der Mensch das Leben nicht in der Gewalt hat. Mit dem Aufstreben der Vanitas seit der Renaissance wird ein Konflikt zwischen Mittelalter und Moderne – der Zwiespalt zwischen menschlicher Demut und menschlichem Selbstbewusstsein – auf die Spitze getrieben. Er erreicht einen Höhepunkt in der Zeit des Barocks. Seit dem späteren 18. Jahrhundert gewinnt die Befreiung von der Demut die Oberhand. Seit etwa 1760 wird die Überwindung der Vanitas ins Zentrum einer bürgerlichen Hochkultur gerückt, und ältere Vanitasmotive werden häufig einer geringer geschätzten Populärkultur zugerechnet. – Der Hinweis auf die eigene Nichtigkeit bleibt eine Rechtfertigungsstrategie für menschliche Werke, die deren Aufwand und Anspruch vor Vorwürfen in Schutz nimmt. Trotz weitgehender Trennung von ihrem religiösen Hintergrund sind Vanitas-Motive bis heute gegenwärtig.
Antike
Klagen über die Vergänglichkeit sind schon in der Antike ein geläufiger Topos. Der Philosoph Platon interpretierte den Ausspruch Panta rhei („Alles fließt.“), der Heraklit zugeschrieben wird, auf diese Weise. Die Antike kennt jedoch noch nicht die allgemeine Verurteilung des Stolzes, die im Christentum üblich wird. Hippokrates’ Ausspruch Vita brevis, ars longa („Das Leben ist flüchtig, die Kunst dauerhaft.“) geht noch nicht davon aus, dass jede Kunst etwas der Tendenz nach Ungehöriges sei und sich mit ihrer eigenen NIchtigkeit rechtfertigen müsse.
Mittelalter
Der Historiker Philippe Ariès hob hervor, dass auf spätrömischen heidnischen Grabsteinen mit einer Menge von Bildern und Texten versucht wird, sich am Vergänglichen festzuklammern. Die gleichzeitigen christlichen Grabsteine dagegen zeigen oft nur das Kreuz.[1]
Auf Bildern erscheint das Vergängliche dauerhaft und beherrschbar. Dies bleibt nach mittelalterlich-religiöser Auffassung jedoch Schein, weil sich das Wesentliche und Lebendige nicht festhalten lasse. Eine Verbindung von Monotheismus und Bilderfeindlichkeit, wie sie in der jüdischen Religion vorgeprägt ist, zeigt sich auch in der christlichen und in der islamischen Welt stets von Neuem. Auf eine Blütezeit der Ikonen im Bereich der Ostkirchen folgten als Gegenbewegungen etwa der byzantinische Bilderstreit und das Bilderverbot im Islam.
Die Nichtigkeit jeder menschlichen Darstellung ist ein Grundgedanke des christlichen Weltbilds, und gegen diese Vorstellung müssen sich mittelalterliche Darstellungen aller Art durchsetzen. Dies geschieht in der Regel durch das Eingeständnis der eigenen Nichtigkeit. Der Quem-quaeritis-Tropus im 10. Jahrhundert als Keimzelle der westlichen Theaterkultur ermöglicht eine Darstellung nur mit der Botschaft, dass nichts dargestellt werden könne: Die Auferstehung Christi wird gezeigt, indem sein leeres Grab präsentiert wird. Sie ist ein spurloses Verschwinden, aber seine Gegenwart soll geglaubt werden.
Jede Darstellung des unweigerlichen menschlichen Scheiterns ist selbst zum Scheitern verurteilt. Totentanz-Darstellungen seit dem Spätmittelalter rechtfertigen sich zum Beispiel dadurch, dass sie nicht erfolgreicher sind als ihr Dargestelltes: Das Bild bleibt ebenso tot wie das dargestellte Gerippe. Es tanzt nicht, so wie das Gerippe nicht tanzen kann, und seine Betrachtung ist ein ebenso beziehungsloses Spiel wie der dargestellte Gesellschaftstanz. Auch die anonyme Verbreitung des Bildes durch den Buchdruck konnte sich auf diese Weise rechtfertigen. Ars moriendi-Schriften, die zahlreich gedruckt wurden, enthalten Bilder und Texte mit Symbolen der Vergänglichkeit.
Insbesondere Narren standen im Mittelalter für Vanitas. Hofnarren sollten ihren Herrscher an die Vergänglichkeit erinnern. Eine verbreitete Allegorie der Eitelkeit war die Frau Welt. Literarische Spiegel hielten der Welt ihre Nichtigkeit vor. Unter dem Motto der eigenen Vergänglichkeit stand die Zeit der Fastnacht, in der seit dem 15. Jahrhundert Tanz-, Musik- und Theaterveranstaltungen organisiert wurden.
Ein zentrales Vanitas-Symbol ist die Musik, die unmittelbar verklingt. Die spätmittelalterliche Marienklage drückt den unwiederbringlichen Verlust des irdischen Christus aus, und die singende Maria beziehungsweise ihre Interpretin werden ihm bald folgen. Das Verklingen des Gesangs war ein mahnendes Zeichen dafür. – Eine ähnliche Botschaft vermittelte das Ubi-sunt-Motiv in der mittelalterlichen Dichtung. Die Anklage des Todes, wie sie durchaus üblich war, geschah im Bewusstsein ihrer eigenen Machtlosigkeit. Beim Lesen entstand der Eindruck, dass jemand mit Schrift erfolglos versucht hat, etwas festzuhalten.
Renaissance
Gleichzeitig mit dem Aufblühen der Künste und der Aufwertung der heidnischen Antike in der Renaissance entstand ein großer Rechtfertigungsbedarf für diese Bemühungen (mit stetigen Rückschlägen wie Savonarolas Kunstvernichtung im „Feuer der Eitelkeiten“ 1497). Je größer die Öffentlichkeit eines Kunstwerks wird, desto mehr muss es sich durch seine warnende Botschaft verteidigen. So erhält der in mehreren Auflagen erschienene Totentanz von Guyot Marchant 1485 den Untertitel: „heilsamer Spiegel für alle Leute aller Stände“.[2]
Francesco Petrarca lässt in seinen Trionfi (vor 1374) neben dem Tod und der Zeit auch die menschlichen Tugenden triumphieren. Albrecht Dürers Holzschnitt Die Apokalyptischen Reiter (1498) zeigt, wie der Mensch sich selbst seinen Untergang bereitet – eine Warnung, die dem Künstler erlaubt, seine Virtuosität zu entfalten.
Satiren wie Sebastian Brants Narrenschiff (1494) oder Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit (1511) verstanden sich in der Tradition des Narren, der die Narrheit der Welt enthüllt (und dabei vielleicht etwas Kluges sagt, ohne Anspruch darauf zu erheben). Michel Foucault sprach in diesem Zusammenhang von einem „Ersetzen des Todesthemas durch das des Wahnsinns“[3]. Der Dichter Torquato Tasso versuchte in seinem Hauptwerk La Gerusalemme liberata (1574), Frömmigkeit und Künstlerstolz zu verbinden, und verzweifelte daran.
Berühmt ist Ligier Richiers Skulptur Le Transi (1547) des lebendigen Leichnams von Renatus (Oranien-Nassau). In der Malerei des 16. Jahrhunderts war es üblich, auf der Rückseite (Verso) von Porträts mahnende Symbole der Vergänglichkeit abzubilden. Der reformatorische Bildersturm verschärfte den Rechtfertigungsbedarf für bildliche Darstellungen.
Barock
Vanitas ist ein bedeutendes Motiv in Literatur, Kunst, Theater und Musik des Barockzeitalters. Es ist der Gipfelpunkt einer kontinuierlichen Tradition. Schönheit und Verfall werden miteinander verbunden. Die Grundstimmung der Vanitas findet sich beispielsweise 1643, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in einem Sonett des Andreas Gryphius, das tiefe Lebensresignation ausdrückt und in der Nachkriegszeit nach 1945 in Deutschland wieder oft zitiert wurde:
„Du sihst / wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden.
Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:
Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein,
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen asch und bein.
Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itzt lacht das Gluck vns an / bald donnern die beschwerden.
Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Sol denn das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten,
Als schlechte nichtikeitt / als schaten, staub vnd windt.
Als eine wiesen blum / die man nicht wiederfindt.
Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.“
Beliebte Sinnsprüche, die die Vergänglichkeit alles Irdischen ins Gedächtnis rufen sollten, waren Memento mori („Gedenke, dass du sterben musst“) und Carpe diem („Nutze den Tag“, ein Zitat von Horaz), ferner Et in Arcadia ego.
Walter Benjamin betonte vor dem Zweiten Weltkrieg in seiner gescheiterten Habilitationsschrift, dass das barocke Trauerspiel im Unterschied zur antiken griechischen Tragödie nicht den Mythos, sondern die Geschichte behandelt und als permanenten Verfall darstellt.[5]
Vanitas-Symbole
Vanitas-Symbole sollen, meist in moralisierender Absicht, an die Vergänglichkeit des Lebens und der irdischen Güter erinnern.
Häufige Vanitas-Attribute in der bildenden Kunst sind der Totenschädel, die erlöschende Kerze, die Sanduhr und die verwelkte Blume. Im weiteren Sinn auch Einsiedler- und Kasteiungsszenen (Hl. Hieronymus, Maria Magdalena): Sie verdoppeln die Einsamkeit des Bildbetrachters und seine Verzweiflung über die Abwesenheit des Abgebildeten im Bild.
In der darstellenden Kunst sind die hauptsächlichen Vanitas-Attribute Schatten, Echo und Spiegelbild, die in Opern und Balletten als bloßer Schein thematisiert werden. Aufzeichnungen wie Bilder und Briefe dienen als Zeichen dafür, dass der Absender oder die Abgebildeten nicht da, vielleicht sogar unwiederbringlich verloren sind wie Verstorbene oder ungetreue Geliebte. Diese Situation ist oft Anlass für eine Arie.
Das „Spiel im Spiel“ im Barocktheater wird verstanden als Schein im Schein (vgl. etwa Pedro Calderón de la Barcas Das Leben ist ein Traum, 1635). Die Heuchelei des Darstellers von Molières Tartuffe (unter der Voraussetzung, dass jede Darstellung Lüge ist) rechtfertigt sich dadurch, dass er die Heuchelei der dargestellten Figur entlarvt. Dem entspricht die „Abbildung in der Abbildung“ als Grundfigur von Vanitas-Darstellungen. Dieses Verfahren wird auch Mise en abyme genannt.
In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts im Einflussgebiet der Universität Leiden entstanden kunstreiche und bis heute vorbildliche Vanitas-Darstellungen. Vor dem Hintergrund grassierender Pestseuchen, nicht enden wollender Gräuel der Religionskriege und bombastischer Pracht- und Machtentfaltung wird dies als eine zeitkritische Haltung verständlich. Meist steht das Motiv der Vanitas in Verbindung mit einem Appell zur Hinwendung an Gott und den christlichen Glauben.
Sehr beliebt waren Vanitas-Stillleben, die den Augenreiz eines perfekt gemalten Arrangements scheinbar beliebiger Gegenstände mit einem Geflecht von Symbolen verbanden, die um den Begriff der Vanitas kreisen. Diese Symbole waren den zeitgenössischen Betrachtern durchaus geläufig.
Eine wichtige Rolle bei bildnerischen Vanitas-Motiven spielt das Paradoxon, dass das Vergängliche darin dauerhaft festgehalten ist, aber trotzdem unwirklich bleibt (vgl. Trompe-l’œil). Das lebendig Wirkende ist tot, der Glanz des Goldes ist Schein, das offensichtlich Duftende oder Stinkende riecht nicht, das Klingende klingt nicht, der wache Blick von Abgebildeten ist blind. Wenn Leichen oder Kadaver abgebildet werden, verdoppelt sich die Unfähigkeit des Bildes zur Wiedergabe des Lebendigen im Abgebildeten.
Rhetorische Verdoppelungen (Pleonasmus) wie das Tote im toten Bild, das Stumme im stummen Bild, das Unbewegliche im unbeweglichen Bild, das Blinde im blinden Bild, das Verständnislose im verständnislosen Bild sind charakteristisch für Vanitas-Darstellungen. Die Nichtigkeit enthält sich selbst. Dies soll den Betrachter vor der Illusion warnen und auf sich selbst zurückwerfen. Trotzdem wird die Illusion möglichst perfekt gemacht. Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich bemerkte dazu: „Je raffinierter die Illusion, desto eindringlicher die Moral vom Gegensatz zwischen Schein und Sein.“[6] Die gleichzeitige Warnung rechtfertigt den Genuss.
Leere Formen
- Masken
- Die Maske ist ein Zeichen für die Abwesenheit des Maskenträgers, ebenso wie das Bild nicht das Abgebildete enthält. Außerdem steht sie für Karneval, festliches Vergnügen, verantwortungslose Anonymität.
- Schädel
- So wie das Bild nur noch eine Form des einst Lebendigen darstellt, ist der Schädel nur noch eine Form des lebendigen Kopfs. Der Betrachter soll den Totenschädel als sein Spiegelbild wahrnehmen. Er versinnbildlicht heute noch am deutlichsten die Vergänglichkeit unserer Existenz.
- Machtinsignien
- Kronen – auch die Tiara, Lorbeerkränze oder Turbane –, Zepter, Harnische, Helme, Amtsketten usw. sind Zeichen für die irdische Weltordnung und ihre Vergänglichkeit, der die himmlische Weltordnung als ewige Institution gegenübersteht. Die Macht, die sie repräsentieren, ist vergänglich. Ähnlich wie Masken symbolisieren sie die Abwesenheit der dekorierten oder gekrönten Persönlichkeiten. Schlüssel stehen zum Beispiel für die Macht der Hausfrau, die Vorräte und Güter verwaltet. Diese sind materieller Natur und somit vergänglich.
- Schneckengehäuse
- Leere Schneckengehäuse oder Perlboote (siehe Nautiluspokal) sind Überbleibsel einst lebendiger Tiere. Sie stehen deshalb für Tod und Vergänglichkeit. Ebenso die Muschelschalen. Schnecken sind als kriechende Tiere darüber hinaus eine Verkörperung der Todsünde der Trägheit. Die meisten Landschnecken sind als Zwitterwesen zudem Symbol der Wollust, einer weiteren Todsünde.
- Leeres Glas
- Ein leeres Glas, oft einem vollen gegenübergestellt, symbolisiert den Tod. Auch die Brille ohne Brillenträger hat eine ähnliche Bedeutung.
Luxusgüter
Ein populäres und ambivalentes Symbol sind Luxusgüter aller Art. Im Verständnis der calvinistisch geprägten Niederländer des Barock ist Luxus die wohlverdiente Belohnung des Rechtschaffenen und Frommen. Er ist ein äußeres Zeichen für das Auserwähltsein und für Gottes Segen. Der Reichtum des Frommen ist zugleich eine Verpflichtung zu vorbildlichem und tugendhaftem Lebenswandel im Bewusstsein des Vergänglichen und Äußerlichen. Der gedankenlose Genuss von Luxus und das maßlose Streben nach Reichtum sind sündhaft und müssen zum Verlust der Güter führen.
Mit Hilfe der Vanitas-Symbolik konnte Reichtum stolz vorgezeigt und zugleich als etwas Vergängliches und Nichtiges heruntergespielt werden. Kostbare Schalen, Glaskelche, getriebene Metallbecher, aber auch Geld, Schmuck oder exotische Lebensmittel wie Zitrusfrüchte stehen für Luxus, für das menschliche Streben nach materiellen Reichtümern.
- Spiegel und Schmuck
- Spiegel, Schmuck und Kosmetik stehen für Schönheit, weibliche Anziehungskraft, aber auch für ihre Vergänglichkeit, Eitelkeit, Selbstverliebtheit und die Todsünde der Hoffart. Ebenso thematisieren sie die Abwesenheit der Gespiegelten oder Geschmückten.
- Dose
- Kostbar verzierte Dosen vertreten das „weibliche“ Prinzip der Sexualität. Über den gedanklichen Umweg „Frau = Evastochter“ ist die Dose indirekt ein Symbol für den Sündenfall.
- Uhren
- Uhren stehen für die Zeit, insbesondere für die Lebenszeit. Sie symbolisieren unverblümt die Sterblichkeit. Es müssen keine Sanduhren sein; mechanische Taschenuhren vermitteln die gleiche Botschaft. Doch sie stehen als Luxusgüter auch für Wohlstand und die vergänglichen irdischen Güter.
Pflanzen
- Blumen, Blätter, Zweige
- Sie stehen für Vitalität und Lebenskraft. Blühendes Gezweig ist jedoch zum Verwelken verurteilt. Schnittblumen sind dem Tod geweiht. Um den Aspekt der Vergänglichkeit zu betonen, werden oft schon angewelkte Blumen neben aufblühenden dargestellt. Neben dieser allgemeinen Bedeutung gilt natürlich noch die besondere Symbolik der einzelnen Pflanzen und Blumen. Intensiv duftende Blumen oder Kräuter werden auch deshalb dargestellt, weil das Bild den Duft nicht vermitteln kann.
- Rose
- Die Rose als Blume der Venus vertritt vor allem die Liebe und die Sexualität. Diese weltliche Liebe ist aber – wie alles Menschliche – eitel.
- Mohn
- Mohn, bekanntlich ein Beruhigungsmittel, steht für den Schlaf und die Todsünde der Trägheit. Darüber hinaus symbolisiert er des Schlafes Bruder, den Tod. Wegen seiner roten Farbe ist der Mohn andererseits ein Symbol für die Passion Christi.
- Tulpen
- Im 17. Jahrhundert erlebten Tulpen in Holland einen unglaublichen Boom. Über Nacht wurden aus den orientalischen Tulpenzwiebeln eine begehrte Handelsware und ein Spekulationsobjekt. Im Zuge einer aberwitzigen Tulpenmanie wurden viele Hasardeure mit dem Handel von Zwiebeln reich. Noch mehr verloren durch Fehlspekulation Hab und Gut. Deshalb steht die Tulpe – zumindest bei niederländischen Stillleben dieser Zeit – auch für Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit und unvernünftigen Umgang mit der Gottesgabe Geld.
- Früchte
- Früchte bedeuten Fruchtbarkeit, Fülle und im übertragenen Sinn Reichtum und Wohlstand. Auch dieser ist natürlich nicht von Dauer. Dies wird oft veranschaulicht, indem neben appetitlichen Früchten überreifes und angefaultes Obst liegt. Etliche Früchte haben eigene symbolische Bedeutungen. Der Sündenfall kann zum Beispiel von Birnen, Tomaten, Zitrusfrüchten, Trauben, Pfirsichen oder Kirschen symbolisiert werden. Und natürlich vom Apfel. Erotik kann von Feigen, Pflaumen, Kirschen, Äpfeln oder Pfirsichen angedeutet werden.
Tiere
- Mäuse, Ratten
- Diese fruchtbaren Tiere waren große Vorratsschädlinge und damit Boten der Vergänglichkeit. Sie werden mit dem Teufel in Verbindung gebracht und symbolisieren oft den Sündenfall.
- Eidechse
- Die Eidechse war ein unreines Tier, eine Schlange mit Füßen, ein kleiner Drache, Begleiter des Teufels. Andererseits war sie aber auch, da sie sich gerne der Sonne aussetzt, ein Symbol für die hingebungsvolle Zuwendung zu Jesus Christus.
- Fliegen, Spinnen und andere Insekten
- Fliegen und andere Insekten symbolisieren die Kurzlebigkeit. Darüber hinaus sind sie Nahrungsmittelschädlinge. Besonders die Fliege gilt als Begleiterin des Teufels (Beelzebub = Herr der Fliegen). Eine Ausnahme bilden die Schmetterlinge (siehe Christussymbole).
- Papagei
- Ein Papagei ist ein kostbares Tier und deshalb ein Luxusgut. Aber er ist auch ein Tier, das die menschliche Sprache nachahmt, also ein Echo, das ebenso wie das Bild nicht wirklich antworten kann. Da der Papagei nie versteht, was er sagt, ist er ein Symbol für die Eitelkeit des Menschen, der unsinnigen Moden nachläuft, anstatt sich seinem Gott zuzuwenden.
Nahrungsmittel
Kochkunst war ebenso wie Musik ein Inbegriff der vergänglichen Kunst.
- Konfekt, Zuckerzeug
- Kostbares Naschwerk ist einerseits ein Symbol für den christlichen Glauben, da es schon einen Vorgeschmack auf „die süßen Genüsse des Himmels“ liefert. Andererseits ist es wegen des hohen Preises ein Zeichen für Luxus und eitle Verschwendung.
- Käse
- Käse ist verderblich und steht deshalb für Vergänglichkeit. Dass sein Geruch nicht wahrgenommen werden kann, obwohl der Käse täuschend echt dargestellt ist, war ein Reiz des Bildes: Das Bild stellte seine eigene Beschränkung bloß, forderte aber auch die Vorstellungskraft des Betrachters heraus. Käse konnte zudem, weil aus Milch hergestellt, als Symbol für Christus verstanden werden, der „die Milch des Himmels“ ist.
- Zitrone
- Die damals sehr teure Südfrucht ist ein Zeichen für Luxus. Da man sie wegen ihrer Säure nur sparsam einsetzt und nicht gierig verzehrt, ist sie auch ein geläufiges Symbol für die Tugend der Mäßigung.
- Wildbret oder Jagdbeute
- Besonders in den Küchenstillleben finden sich oft Wildbret oder Jagdbeute, was einerseits die üppigen Tafelfreuden andeutet und für Wohlstand, Wohlleben und Luxus steht. Anderseits führen die drapierten, stillen Tierkadaver augenfällig die Sterblichkeit allen irdischen Lebens vor Augen. Kadaver sind blind und stumm wie das Bild selbst. Bei den Beutetieren kommt dem Hasen eine besondere Bedeutung zu. Der Hase ist wegen seiner kurzen Vorderbeine bergauf am schnellsten. In seiner Wehrlosigkeit steht er für den gläubigen Menschen. Wie der Hase bergauf flieht, so soll sich der Christ seinem Gott als Berg der Weisheit zuwenden. (In der Ikonografie wird zwischen Kaninchen und Hase nicht unterschieden.)
Haushaltsgerät
- Kerze
- Die brennende Kerze ist ein Sinnbild für Materie und Geist, die Flamme steht für die menschliche Seele, ihr Verlöschen für den Tod. Oft wird der Rauch der verloschenen Kerze dargestellt.
- Kerzenlöscher
- Das Löschhütchen, mit dem die Kerzenflamme erstickt wird, ist natürlich ebenfalls ein Symbol für das Sterben und Vergehen.
- Messer
- Mit seiner Schärfe und Gefährlichkeit erinnert ein Messer an die Verletzlichkeit des Menschen und an seine Sterblichkeit. Es ist außerdem ein Phallussymbol und eine verdeckte Darstellung der männlichen Sexualität.
- Glas und Keramik
- Kostbar verzierte Gläser und besonders Geschirr aus Porzellan waren Luxusgüter. Darüber hinaus stellen sie Zerbrechlichkeit und damit Vergänglichkeit dar. Wegen seiner strahlenden Weiße steht das Porzellan aber auch für Reinheit. Analog dazu steht wegen seiner durchscheinenden Klarheit Glas für Keuschheit.
- Zerbrochenes Glas oder Geschirr
- Zerbrochenes Glas oder Geschirr zeigen die Verletzlichkeit menschlichen Glücks und stehen ebenfalls für den Tod.
- Krug
- Ein Krug kann das Laster der Trunksucht symbolisieren. Ebenso kann er ein Sinnbild der (gefährdeten) Jungfräulichkeit sein.
- Mörser
- Mörser und Stößel beziehungsweise Pistill sind Symbole für weibliche und männliche Sexualität und das Streben nach sexueller Erfüllung. Dieses Streben ist natürlich eitel.
Zeitvertreib
Bildung war noch nicht grundsätzlich aufgewertet gegenüber dem Zeitvertreib wie seit dem 18. Jahrhundert.
- Bilder
- Überaus häufig als Vanitas-Requisiten sind abgebildete Bilder oder Statuen: Das Bild macht sich und seine Unfähigkeit, das Abgebildete zu bewahren und lebendig wiederzugeben, zum Thema.
- Briefe
- Briefe sind materielle Produkte menschlicher Beziehungen und verkörpern sie. Diese Beziehungen sind vergänglich. Für Briefe, Bücher und Musiknoten galt noch, dass die Stimme des Lesers kein vollwertiger Ersatz war für die verklungene Stimme des Schreibers, sondern nur ihr Fehlen deutlich machte.
- Musikinstrumente, Musiknoten
- Obwohl Musik schon aufgezeichnet werden konnte, galt sie außerhalb des Liturgischen als einzigartig und unwiederholbar. Die Aufführung war vorbei, der Klang verklungen, die Musiker verschwunden und die Musiknoten und Instrumente nur noch ein Zeichen des Fehlens. Instrumentalmusik war noch minderwertig gegenüber dem Gesang. Das Musikinstrument wurde als Zeichen für den fehlenden Menschen gesehen. Darüber hinaus macht das Bild mit der Darstellung von Musik seine Unfähigkeit deutlich, auch noch den Klang zu vermitteln. Das reizt jedoch die Vorstellungskraft des Betrachters.
- Spielkarten, Würfel
- Spielkarten, Spielwürfel und andere Utensilien des geselligen Zeitvertreibs sind Zeichen für ein verfehltes Lebensziel, die Hinwendung zu flüchtigem Vergnügen, schlechter Gesellschaft, sündhaftem Leben. Die Chancengleichheit des Glücksspiels wurde noch als verwerfliche Anonymität betrachtet. Damit sollte dem genießenden Betrachter seine eigene Anonymität vor dem Bild bewusst werden. Als Kunstliebhaber oder Sammler war er nicht besser als der Glücksspieler. Die darstellende Kunst war selbst ein Spiel, und das dargestellte Spiel war ein Spiel im Spiel.
- Raucherwaren
- Tabakspfeife und weitere Raucherutensilien sind ein Zeichen für momentanen, flüchtigen Genuss. Rauch und Geruch können im Bild nicht festgehalten werden. – Das berühmte Bild Ceci n’est pas une pipe (Dies ist keine Pfeife, 1928) von René Magritte ist noch eine Anspielung auf diese Symbolik.
- Seifenblasen
- Seifenblasen und Glaskugeln sind ein Symbol für das menschliche Leben, sowohl für seine Schönheit als auch für seine Vergänglichkeit. Als Ball gesehen, können sie auch als Symbol für die Unbeständigkeit des Lebens gedeutet werden.
- Wissenschaft
- Gelehrte Bücher, Verträge, juristische Regelwerke, Pläne, Landkarten, Weltkugeln, Messinstrumente, Antiquitäten, Kuriosa, all dies versammelt nur irdisches Wissen und Streben und ist daher vergänglich.
Christussymbole
Auf vielen Vanitas-Stillleben, die nicht nur das Negative zeigen sollten, befinden sich Symbole, die sich auf die Heilslehre Christi beziehen. Wenn alles Weltliche vergehen muss, kann nur das Göttliche wirklich, wertvoll, beständig und erstrebenswert sein.
Im Unterschied zu den direkt erkennbaren, sinnlichen, aber unwirklichen Dingen sind die Symbole für die religiöse Wirklichkeit nur dann erkennbar, wenn man sie deuten kann. Diese „semiotische“ Botschaft sollen die Vanitas-Darstellungen vermitteln. Häufig verwendete Christussymbole sind:
- Fisch
- Aus dem Griechischen: ιχθύς=Ιησούς Χριστός Θεού υιός Σωτήρ (Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser – die ersten Buchstaben bilden das Wort „Fisch“.)
- Brot und Wein oder Weintrauben
- Sie weisen auf die Eucharistie hin, den Neuen Bund und die damit versprochene Erlösung.
- Kelch
- Auch der Kelch ist ein Zeichen für Wein und damit für die Eucharistie und den Neuen Bund.
- Raupe, Schmetterling
- Die Raupe, die sich zum Schmetterling wandelt, ist ein Symbol für Auferstehung und Erlösung. Der Schmetterling ist darüber hinaus ein Symbol der menschlichen Seele.
- Elfenbein
- Elfenbein ist wegen seiner Kostbarkeit und seiner Weiße schon seit dem Altertum ein Symbol für Reinheit und Beständigkeit.
- Nelke
- Wegen der nagelförmigen Samen ist die Nelke ein Symbol für die Passion Christi.
- Salz
- Salz ist ebenso lebensnotwendig, wie Christus heilsnotwendig ist. Deshalb ist Salz ein Symbol für Christus.
- Erbsenschote
- Wegen der Zartheit der Blüte und der in der Hülse schützend geborgenen Frucht symbolisiert die Erbsenblüte die jungfräuliche Empfängnis Christi.
- Ei
- Das Ei trägt Leben in sich; es ist ein Symbol der Auferstehung.
- Perle
- Perlen verkörpern Vollkommenheit und Reinheit und stehen deshalb neben anderen Symbolbedeutungen auch für Christus.
Interpretationshilfe
Die Liste ist nicht komplett. Es mag noch Hunderte weiterer Symbole geben. Entscheidend ist der Unterschied zwischen dem trügerischen Zeichen unmittelbarer Sinnlichkeit und dem indirekten religiösen Symbol, das man deuten muss. Die Analogie gibt nicht vor, das Bedeutete zu sein wie die „platte“ Abbildung. Die Maler dieser Symbole dachten wie ihr Publikum in Analogien: So wie Salz dem Menschen lebensnotwendig ist, so ist Christus notwendig für das Seelenheil, Salz für Christus.
Bei den Vanitas-Stillleben bedienten sich die Maler aus dem reichen Fundus der zeitgenössischen Emblematik, über die damalige Gelehrte wie Jacob Cats auch Bücher verfassten. Mit jedem Bild entsteht so ein neues, anderes Potpourri verschiedenster Bedeutungen, die sich teilweise ergänzen, überlagern und vielleicht widersprechen. Das macht die Interpretation oft nicht ganz einfach.
Nicht jede Dose muss zwangsläufig weibliche Sexualität bedeuten. Nicht alles muss symbolisch gemeint sein. Es ist hilfreich, zuerst einmal möglichst viele potenzielle Symbole zu sammeln und thematisch zu ordnen. Wenn mehrere Symbole in dieselbe Richtung weisen, z. B. Sexualität (Mörser, Messer, Rosen…), ist es sehr wahrscheinlich, dass die Dose entsprechend zu interpretieren ist. Mögliche Symbolbedeutungen, die isoliert stehen, sollten zum Schutz vor Überinterpretation nur sehr vorsichtig gedeutet werden. Bei der Vielfalt der Möglichkeiten ist eine zufällige Darstellung nicht auszuschließen.
Bei aller Bedeutungsfracht sollte man immer bedenken, dass diese Bilder auch und vor allem schön anzusehen sein sollten.
Moderner Wandel
Es kommt zunehmend zur Auflehnung gegen das unweigerliche Scheitern, auch wenn der Tod bis heute nicht überwunden ist. Schon in Gemälden vor 1700 erscheint der Totenschädel als Attribut und sinnvolles Studienobjekt für den Arzt oder Wissenschaftler.[7] Eine ähnliche Umdeutung der Spuren oder Relikte eines Vergangenen zeigt sich in der beginnenden Archäologie.
Seit dem späten 18. Jahrhundert dann, im Zuge des medizinischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts, aber auch einer „bürgerlichen“ Aufwertung des Geldes und der privatrechtlichen Verträge (Dingen, die man in der Hand hat, im Gegensatz zur ungewissen Gnade geistlicher und weltlicher Autoritäten), werden viele Vanitas-Motive vom Nichtigen und Vergänglichen zum Bedeutenden und Ewigen verklärt. Das Festhalten an Werten, der Glaube an ein Diesseitiges, Sinnliches, Materielles sollten nicht mehr aussichtslos sein und zu Einsamkeit führen.
„Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort“, behauptet Hegel. So entsteht die Vorstellung einer höheren Kunst, die zur „christlichen Auffassung der Wahrheit“ ein sinnliches Gegenstück bilde.[8]
Nicht mehr die Anonymität des gebannten Zuschauers vor dem Kunstwerk wird hervorgehoben, sondern die Gemeinschaft der Kunstliebhaber, zu der es Anlass gibt. Die Unfähigkeit des Kunstwerks, das Lebendige wiederzugeben, wird nicht mehr als Fehler verstanden, sondern als bleibende Herausforderung an die Vorstellungskraft seiner Betrachter gerühmt. Dies führt zu einer Art Anti-Vanitas: einer Darstellung des Gelingens an Stelle eines Scheiterns – oder einer gelungenen Darstellung, die sich von einem dargestellten Scheitern distanziert.
Darstellung des Gelingens
Das Fixierte und Behauptete des Bildes und der Schrift werden vom Verwerflichen zum Tugendhaften, so wie das geschriebene Gesetzesrecht gegenüber dem ungeschriebenen Gewohnheitsrecht an Bedeutung gewinnt. Deutlich wird diese Umwertung etwa bei Rousseaus Melodram Pygmalion (1762/1770), in dem es einem Bildhauer gelingt, sein Bild ohne göttliche Hilfe zu beleben: Nicht mehr das Tote der Statue wird durch die Verzweiflung ihres Schöpfers und Betrachters herausgestellt, sondern ihr imaginäres Leben in seinen Augen. Auch das barocke Theatrum mundi wird auf den Jahrmärkten jener Zeit zur bewunderten ingenieurtechnischen Belebungskunst.
Prominent in diesem Zusammenhang ist die Musik, die vom Symbol des im Nu Verklingenden zum Symbol „klassischer“ Beständigkeit wird, was sich in einer nie zuvor gekannten Repertoirebildung zeigt. Dem Sänger Orpheus gelingt es in Glucks Oper Orfeo ed Euridice (1762/1774) erstmals, seine verstorbene Frau lebendig zu machen. Taminos „Bildnisarie“ in Mozarts Zauberflöte (1791) besingt nicht mehr die unmögliche oder verlorene, sondern die kommende (sinnliche) Beziehung. Und das Musikinstrument als bloßer Ersatz der Gesangsstimme beginnt in der Vorstellung des Hörers zu „singen“.
Nicht nur in der Bildenden Kunst und der Musik, sondern auch in Literatur und Theater gibt es für diesen Wandel zahlreiche Beispiele: Der Sinnspruch „Et in Arcadia ego“ bedeutet für Goethe nicht mehr Todesnähe, sondern die lebendige Erinnerung an Italien. Johann-Faust-Figuren als Symbole des Nichtigen und Lächerlichen (seine Studierstube ist eine Ansammlung von Vanitas-Attributen) werden seit Goethes Faust I zum Bedeutenden oder Heroischen stilisiert. Der einst lächerliche Romanleser Don Quijote wird in der Romantheorie von Georg Lukács zum idealistischen Helden gemacht.
In all dem zeigt sich eine Umwertung der Schrift von der Spur eines unwiederbringlich Verklungenen zum Modell eines ewigen Klingens in geselliger Gemeinschaft. Um dies zu gewährleisten, müssten Weltliteratur oder der Notentext von Kunstmusik beständig gelesen werden. Lesen ist kein Scheitern mehr, sondern ein Gelingen.
Die Vanitas-Darstellungen des 17. Jahrhunderts präsentieren dagegen noch das verwaiste Buch oder die verblichenen Musiknoten als Inbegriff des Stummen. Allerdings beginnen sich schon in den niederländischen Stillleben jener Zeit der Wert und die Dauerhaftigkeit der Darstellung von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Dargestellten selbstbewusst zu unterscheiden. Hinter der vordergründigen Bescheidenheit verbirgt sich der Stolz des Künstlers.
Triumph über das Scheitern
Das Lamento als kollektives Eingeständnis des Scheiterns wird in der Oper des 19. Jahrhunderts zur frenetisch beklatschten Sterbearie. Die Figur des Sängers ist gestorben, aber der Sänger und sein Publikum haben überlebt.
Darstellungen eines Scheiterns zum Zweck des eigenen Triumphs (vgl. Hybris) erreichen ihren Höhepunkt im Fin de siècle. Selbst das Göttliche erscheint machbar und überwindbar in Richard Wagners Götterdämmerung (1876) oder Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883).
Die mitfühlende Unterordnung der Darstellung unter das Dargestellte wird zum Sieg über dessen Untergang. Theodor Adorno sprach in der Zeit des Nationalsozialismus mit Bezug auf Wagner von einer „Erhebung des Nichts zum Etwas“[9].
Populärkultur
Daneben begründen fortbestehende ältere Vanitas-Traditionen im 19. Jahrhundert eine gering geschätzte Populärkultur. Angeregt wurde dies unter anderem durch die romantische Aufwertung des Mittelalterlichen und des Irrationalen seit etwa 1800. Der Weltschmerz dient zur Unterhaltung. Männerchöre besingen mit tränenreichen Liedern die Vergänglicheit (’s Mailüfterl, Loreley). Die Moritat rechtfertigt die Darstellung von Verbrechen, indem sie vor diesen Verbrechen warnt. Kriminalliteratur zelebriert neben der Warnung auch die Aufdeckung des Verbrechens. In Horrorliteratur und -illustrationen (siehe Gothic novel) wird der religiöse Hintergrund der Vanitasmotive vollends zum Klischee.
Oft wird dies allerdings kritisch oder satirisch auf aktuelle Versuche bezogen, die Vanitas zu überwinden: Seit Mary Shelleys Victor Frankenstein oder der moderne Prometheus (1818) wird die Belebung des Toten als etwas Menschenmögliches, aber Bedrohliches dargestellt. − Höher geachtet wird die Fortführung der satirischen Tradition wie bei William Thackerays Vanity Fair (1848).
Melodramatische Musik wird im Unterhaltungstheater zum Symbol der „Poetisierung“ eines Unbelebten, bis hin zur Filmmusik des 20. Jahrhunderts. Die musikalisch geschürte Angst vor der Belebung des Toten wird im Horrorfilm gepflegt, die komische Rührung über seine Belebung wird im Animationsfilm (siehe Mickey-mousing) kultiviert.
Vanitas seit dem 20. Jahrhundert
Die Décadence um etwa 1900 wandte sich mit einer Erneuerung von Vanitas-Motiven[10] gegen einen bürgerlichen Denkmalskult oder gegen den Naturalismus in Literatur und Kunst. Vanitas bleibt auch in der Kunst seit dem 20. Jahrhundert gegenwärtig. Pablo Picasso oder Andy Warhol haben die Symbole der Vanitas-Stillleben ausgiebig verwendet.
Verlässlichkeit des Scheins
Die gewandelte Qualität der Vanitas-Motive lässt sich folgendermaßen erklären: Einerseits fällt die tröstende religiöse Heilsgewissheit für eine große Zahl der Betrachter weg, andererseits wird das Fehlen des Dargestellten nicht mehr unbedingt als Problem empfunden (denn man hält seine Darstellung für gelungen). Bei einem im Museum ausgestellten Heiligenbild ist man nicht unglücklich darüber, dass der Heilige seine Autorität in dieser Institution nicht mehr entfaltet, weil es hier auf den Künstler und sein Können ankommt. Oder: Bei vielen Spielarten der Nostalgie ist man nicht unglücklich darüber, dass die harten Lebensumstände der dargestellten alten Zeiten in Wirklichkeit vorbei sind. Die „Darstellung des Gelingens“ einer guten alten Zeit und der überlegene „Triumph über das Scheitern“ dieser Zeit sind hier auf paradoxe Weise verbunden. – Nur beim Lesen oder Betrachten, das in der Macht des Lesers oder Betrachters liegt, wird das Gelesene lebendig, und dies wird zunehmend als Vorteil der Rekonstruktion über das Rekonstruierte verstanden. Das Dargestellte scheitert mit seinen eigenen Machtansprüchen, während seine Belebung den Darstellern gelingt.
Ein Wille zur Überwindung der Vanitas zeigt sich in optimistischen Konzeptionen der Künstlichen Intelligenz seit dem 20. Jahrhundert. Auch hier kann die Abhängigkeit der Maschinen als ein willkommener Ersatz für unwillige und widerborstige menschliche Arbeitskräfte die Illusion ihres Lebendigwerdens befördern. Die Verlässlichkeit einer künstlichen Welt stellt sich über die realen Ungewissheiten.
Am deutlichsten zeigt sich dies in Horror-Motiven: In dem berühmten Vexierbild All is Vanity (1892) von Charles Allan Gilbert ist nur der Schein unheimlich, hinter dem sich eine beruhigende, banale Wirklichkeit verbirgt. Dass das Monster im Horrorfilm nicht wirklich aus dem Grab steigt, ist als beruhigende Gewissheit die Voraussetzung für den Genuss seiner Darstellungen. Beim Blick hinter die Kulissen bestätigt sich die Unwirklichkeit des Dargestellten, und an die Stelle der Wirklichkeit tritt das Know How oder Making-of. Von der populären Vanitas zum Horrorfilm gibt es eine kontinuierliche Tradition. Das im 19. Jahrhundert oft zu Allerseelen aufgeführte Schauerdrama Der Müller und sein Kind (1830) von Ernst Raupach wurde 1911 zu einem der ersten Horrorfilme. – Heute ist Halloween ein spielerischer, vom Religiösen weitgehend getrennter Umgang mit Vanitas-Attributen.
Katastrophenszenario
Eine ähnliche rhetorische Grundstruktur hat das populäre Katastrophenszenario, wie etwa die zahlreichen Darstellungen des Untergangs der Titanic. Dem Scheitern des Dargestellten wird das Gelingen seiner Darstellung gegenübergestellt, was die Katastrophe zu bannen scheint. Ein Katastrophenszenario dieser Art ist bereits Oswald Spenglers apokalyptisches Geschichtswerk Der Untergang des Abendlandes (1918/22).
In der Horror-Tradition der Vanitas-Motive steht auch der Erfolgsroman Das Parfum (1985) von Patrick Süskind, dessen Held Parfüm aus ermordeten Frauen extrahiert: Das Buch kann den Geruch des Parfüms so wenig wiedergeben, wie das Parfüm das entschwundene Leben der Frauen konservieren kann. Aber beides ist eine Herausforderung an die Vorstellungskraft der Lesenden oder Riechenden, die sich mit keinem lebendigen Gegenüber abgeben müssen.
Der Regisseur Christoph Schlingensief brachte in seiner Parsifal-Inszenierung von 2004 im Bayreuther Festspielhaus mit der Projektion eines verwesenden Hasen ein traditionelles Vanitas-Symbol mit Richard Wagner in Beziehung.
Einzelnachweise
- ↑ Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München: Hanser 1980, S. 261f.
- ↑ Alicia Faxon: Some Perspectives on the Transformations of the Dance of Death in Art, in: Liana De Girolami Cheney (Hg.): The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music, Lewiston (NY): Mellen 1992, S. 50
- ↑ Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S.34
- ↑ Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hrsg. Marian Szyrocki, Hugh Powell, Tübingen: Niemeyer 1963. Bd.1 S.33f.
- ↑ Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin: Rowohlt 1928
- ↑ Ernst H. Gombrich: „Das Stilleben in der europäischen Kunst. Zur Ästhetik und Geschichte einer Kunstgattung“, in: Derselbe: Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, ISBN 3518278371. S. 171–188, hier S. 187
- ↑ Liana De Girolami Cheney: Dutch Vanitas Paintings. The Skull, in: Dies. (Hg.): The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music, Lewiston (NY): Mellen 1992, S. 132f.
- ↑ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, hrsg. Rüdiger Bubner, Stuttgart: Reclam 1971, S. 47f.
- ↑ Theodor W. Adorno: „Versuch über Wagner“ [1937/38], in: Ders. Gesammelte Schriften, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1998, Bd.13 S.140
- ↑ vgl. Jean de Palacio: Le silence du texte. Poétique de la décadence, Leuven: Peeters 2003. ISBN 90-429-1285-5
Literatur
- Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groningen: Wolters 1966
- Alberto Veca: Vanitas. Il simbolismo del tempo, Bergamo: Lorenzelli 1981
- Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München: dtv 1982. ISBN 3423301694
- Liana DeGirolami Cheney (Hrsg.): The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music. Comparative and Historical Studies. Lewiston: Mellen 1992. ISBN 0889463999
- Richard B. Woodward: Vanitas. Meditations on Life and Death in Contemporary Art. Virginia: Museum of Fine Arts 2000. ISBN 0917046552
- Mathias Spohr: „Das Problem der Vanitas. Goethes Faust und das Faust-Sujet im populären Musiktheater“, in: Maske und Kothurn 45 (2001), H. 3-4, S. 71-91
- Ders.: „Kann eine Herkunft durch Leistung erworben werden? Vanitas in der italienischen und Identität in der deutschen Oper“, in: Sebastian Werr, Daniel Brandenburg (Hrsg.): Das Bild der italienischen Oper in Deutschland. Münster: Lit Verlag 2004, S. 177–190. ISBN 3825882799
- Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München: Fink 2003. ISBN 3770538196
- Anne-Marie Charbonneaux (Hrsg.): Les vanités dans l’art contemporain, Paris: Flammarion 2005. ISBN 2-0801-1460-3
- Karine Lanini: Dire la vanité à l’âge classique : paradoxes d’un discours, Paris: Champion, 2006. ISBN 2-7453-1319-3
Siehe auch
Weblinks
- Das Vanitasmotiv, mit Textbeispielen
- Bildersammlung (mit französischem Kommentar)
- Bebilderte historische Darstellung (französisch)
- Leitfaden für Lehrer
- Deutungshilfe für Fortgeschrittene: Das Emblembuch von Jacob Cats (Amsterdam 1627)