Pfadabhängigkeit ist die Anwendung eines alltäglichen Begriffs, des Pfades, in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften, um organisatorische Prozesse zu beschreiben, deren zeitlicher Verlauf strukturell einem Pfad ähnelt. Wie bei einem Pfad gibt es dort Anfänge und Kreuzungen, an denen mehrere Alternativen oder Wege zur Auswahl stehen. Anschließend, nach Auswahl einer solchen Alternative, folgt eine stabile Phase, in der die Entwicklung durch positive Feedback-Effekte auf dem eingeschlagenen Weg gehalten wird. Während an den Kreuzungspunkten kleine Störungen einen grossen Effekt haben können, bewirken sie in der darauffolgenden stabilen Phase kaum mehr eine Richtungsabweichung. Ein späteres Umschwenken auf eine, der am Kreuzungspunkt noch mühelos erreichbaren Alternativen, wird, in der stabilen Phasen nach der Entscheidung, zunehmend aufwendiger, da die Rückkkopplungseffekte Hindernisse aufbauen. So wird an einem Pfad unter Umständen auch dann festgehalten, wenn sich später herausstellt, dass eine andere Alternative überlegen gewesen wäre. Das Besondere an pfadabhängigen Prozessen ist, dass sie sich an den Kreuzungspunkten nicht deterministisch sondern chaotisches verhalten. Eine kleine Störung führt über positive Rückkopplung zu einem ganz anderen Ausgang. Da andererseits der Übergang in eine stabile Phase unabhängig von der Qualität der getroffenen Entscheidung stattfindet, sind pfadabhängige Prozesse nicht selbstkorrigierend sind sondern im Gegenteil dazu prädestiniert Fehler zu verfestigen.
Geschichte
Pfadabhängigkeit in den Wirtschaftwissenschaften
Traditionell konzentrieren sich die Wirtschaftswissenschaften eher auf das Auffinden von Gleichgewichtspunkten. Diese ergeben sich zum Beispiel in der Neoklassischen Theorie durch das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage. Diese Sichtweise führt zu einem Modell der Wirtschaft, das vorhersagbar und effizient ist. Jeder Schritt, der das System vom Gleichgewicht wegführt, löst Negative Feedback-Effekte aus, die das System wieder im Gleichgewichtszustand stabilisieren. Das Gleichgewicht kann als die beste und effizienteste Verteilung der Resourcen unter den gegebenen Umständen angenommen werden.
In den 80er Jahren entdeckten Wirtschaftwissenschaftler, dass einige Prozesse wie die Standortentwicklung oder die Ausbildung von Industriestandards nicht in dieses Schema passen. Stattdessen bewirkten hier Positive Feedback-Effekte, das jeder Schritt auf einem bestimmten Weg, belohnt wird durch neue Vorteile, die die Entwicklung auf dem eingeschlagenen Weg vorantreiben. [1].
1993 erhielt Douglass North den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeit über wirtschaftlichen und institutionellen Wandel[2]. Er argumentierte darin, dass das Wirtschaftswachstum eines Staates von einer institutionellen Infrastruktur, deren Entwicklung pfadabhängig ist.
[3]
Pfadabhängigkeit in der Politik
In der Politikwissenschaft griff Paul Pierson[1] die Arbeit von North auf. Institutionen spielen in der Politik eine ebenso wichtige Rolle. Pierson argumentierte, dass die Pfadabhängigkeit in der Politik zum Teil gewollt ist. Insbesondere in Demokratien mit wechselnden Regierungen kann politische Stabilität nicht in der Form kontinuierlicher personeller Führung erreicht werden. Institutionen sorgen mittels Pfadabhängigkeit für ein stabiles politisches Klima, in dem die Politik den amtierenden Politiker, der sie angestoßen hat, überlebt. Der Nachteil ist, dass sich so unter Umständen ineffektive Institutionen durchsetzen, die lange den Gang der Dinge negativ beeinflussen. Pfadabhängigkeit ist der Grund dafür, dass sich institutionelle Unterschiede zwischen Staaten auch heute noch sehr lange halten, während in anderen Bereichen etwa der Firmenorganisation Modelle oft über Ländergrenzen hinweg kopiert werden.
Beispiele
Industriestandards
Die Entwicklung von Industriestandards verläuft bei der Einführung neuer komplexer Technologien oft pfadabhängig. [4]Selbstverstärkende Effekte erfolgen hier durch die Notwendigkeit einer aufwendige Vorlleistung, die eine Entwicklungsvorsprung vor der Konkurrenz sichert. Es entstehen Experten, die die Entwicklung in der eingeschalgenen Richtung weitertreiben. Die Nutzer, beinflusst durch die Erwartung, dass sich nur ein Standard durchsetzen wird, versuchen schnell einen Sieger auszumachen und dieser Standard wird dann weiter aufgewertet durch die einsetzende allgemeine Anpassung.
Konkrete Beispiele bei Industriestandards
- Die QWERTY Tastaturbelegung für PCs wurde bereits vom Erfinder der Schreibmaschiene mit entwickelt und hat sich bis heute im PC Zeitalter als Standard erhalten, obwohl es an Kritikpunkten und Alternativvorschlägen nicht mangelte.[5].
- Das VHS System bei Videorecordern entschied in den 80er Jahren einen Formatkrieg für sich, gegen die Konkurrenz von Betamax und Video2000.Obwohl technisch im Nachteil, sicherte es sich seinen Vorsprung durch geschicktes politisches Paktieren etwa mit der Porno-Industrie. Seine Vormachtsstellung als Standard konnte es anschliessend über die ganze Zeit der Video-Filme hinweg behaupten.
Standortvorteile
Auch die Entwicklung von Standortvorteilen verläuft mithilfe von selbstverstärkenden Mechanismen. Eine biotechnische Firma etwa, zieht Experten an, die weitere biotechnische Firmen gründen. Der Standort wird für Spezialisten und Firmengründer aus dem Gebiet der Biotechnologie zunehmend attraktiver.
Konkrete Beispiele bei Standortvortreilen
- Silicon Valley in den USA entwickelte sich aus einem Program der Stanford University, die Absolventen in dern Nähe behalten wollte und ihnen deshalb als Unternehmer Geld und Land zurverfügung stellte, sowie weiterhin Zusammenarbeit unterstützte. So emtstand neben dem Campus der Stanford University der Stanford Industrial Park auf einem ehemaligem Unversitäts-Grundstück.
- Norditalienhat sich ebenfalls pfadabhängig als Standort für gehobene Kleidermode etabliert[6].
Institutionen
Pfadabhängigkeit in anderen Bereichen
Pfadabhängigkeit im Alltag
Pfadabhängige Enticklungen kommen auch im Alltag vor. Etwa die Berufs-Entwicklung von Menschen verläuft pfadabhängig, weshalb vom Karrierepfad gesprochen wird. Natürlich sind auch Spazeirgänge pfadabhängig.
Pfadabhängigkeit in den Naturwissenschaften
Chaotischen Systeme in der Physik, wesien zwar dieselbe Empfindlichkeit gegenüber den Anfangsbedingungen auf, haben aber anders als pfadabhängige Prozesse nicht anschliessend eine stabile Phase. In der Mathematik gibt es das Polya-Urnen-Experiment. Pfadabhängige Enticklungen kommen auch im Alltag vor. Etwa die Berufs-Entwicklung von Menschen verläuft pfadabhängig, weshalb vom Karrierepfad gesprochen wird. Natürlich sind auch Spazeirgänge pfadabhängig.
REST
Konkrete Beispiele
Pfadabhängige Entwicklungen in Wirtschaft und Politik | |||||||||
eingeschlagener Pfad | Kategorie | Bewertung des Ausgangs | Literatur | ||||||
QWERTY als Standard für PC-Tastaturen | Industriestandard | ist ergonomisch anderen Tastaturen unterlegen | Paul David[5] | ||||||
Norditalien als Standort für gehobene Kleidermode | Standortvorteil | Die Wahl dieses Standorts hat weder besondere Vor- noch Nachteile für die Modebranche | Paul Krugman[6] | ||||||
Systematik pfadabhängiger Prozesse
Definition
Als pfadabhängig werden Prozesse bezeichnet, bei denen am Anfang und zu ausgewählten Zeitpunkten mehrere Alternativen zur Wahl stehen, während sich unmittelbar danach die eingeschlagene Richtung allein durch Rückkopplungseffekte verfestigt, so dass ein Abweichen vom Pfad mit der zeitlichen Entfernung vom Kreuzungspunkt einer zunehmend größeren Störung bedarf. Die Kreuzungspunkte heißen offene Phasen, während die stabilen Phasen als geschlossen bezeichnet werden. Während der Prozess in offenen Phasen extrem empfindlich auf Störungen reagiert, ist er in geschlossen Phasen kaum mehr zu beeinflussen.
Folgerungen
Die Pfadabhängigkeit von Entwicklungen oder Prozessen hat folgende Konsequenzen[1]: Der Ausgang ist an Kreuzungspunkten nicht vorhersehbar, da kleine Störungen das Ergebnis maßgeblich beeinflussen können. In geschlossenen Phasen ist die Entwicklung unflexibel. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen nicht optimiert.
Langandauernde Prozesse
Pfadabhängige Prozesse sind ein Spezialfall langandauernder Prozesse
Andere Arten langandauernder Prozesse sind in der folgenden Tabelle dargestell:
Langandauernde Prozesse | |||||||||
Kategorie | Zeithorizont | Ausgang | Beispiele | ||||||
Kumulative Prozesse | langandauernde Ursache | verhält sich proportional zur Ursache | Bevölkerungswachstum ist eine kummulativer Prozess. | ||||||
Kausal-Ketten | keine Aussagen über die Zeitdauer von Ursache und Wirkung, entscheidend ist der kausale Zusammenhang | liegt durch den kausalen Zusammenhang fest | Einführung der Schulpflicht führt über eine besseren Ausbildung der Frauen zu einer niedrigeren Geburtsrate. | ||||||
Schwelleneffekte | eine lange andauernde Ursache entlädt sich in einer kurzen heftigen Reaktion | wird am Ende des Prozesses entschieden | Eine Revolution ereignet sich, nachdem der wachsende Unmut eine Schwelle überschreitet. | ||||||
Strukturelle Effekte | Vorgänge, die auf einen Fixpunkt zustreben. Der Ausgang ist gewiss und langandauernd, der Zeitpunkt des Umbruchs ist offen. | liegt quasi als Fixpunkt fest | Eine Gesellschaft, die Analphabetismus überwunden hat, bleibt in diesem Zustand | ||||||
Pfadabhängigkeit | kurze unbedeutende Ursache mit lange anhaltenden Folgen | wird durch kleine Schwankungen am Beginn des Prozesses entschieden | siehe unten |
Diese Prozesse überlagern und ergänzen sich zum Teil:
Schwellenwert-Effekte als Störung von Pfaden
Ein ineffektiv gewählter Pfad eines pfadabhängigen Prozesses kann durch Unmut der Bevölkerung über das Ergebnis einen Schwellenwert-Effekt in Gang setzen, der den Pfad mit der genügenden Schwere erschüttert und so einen neuen Kreuzungspunkt schafft, an dem das System korrigiert werden kann. Ein Beispiel für das Zusammenwirken dieser beiden Effekte sind die Sozialversicherungssysteme, die pfadabhängig in vielen Ländern nicht optimal funktionieren, etwa das Rentensystems in Deutschland oder die Krankenversicherung in den USA. Die schlechte Versorgung der Bevölkerung sorgt für zunehmenden Druck, der, wenn ein Schwellenwert überschritten ist, in großangelegte Reformen mündet.
Kausalketten bei der Selbstverstärkung
Die Selbstverstärkung eines pfadabhängigen Prozesses kann in Form von Kausalketten erfolgen. Als Beispiel kann die Entscheidung eines Staates für eine Privatisierung der Bahn bewirken, dass diese profitorientierter plant und schlecht ausgelastete Strecken stilllegt. Dies kann dazu führen, dass die Bahn von der Bevölkerung weniger genutzt wird, da sie nicht mehr flächendeckend ist. Dies gibt zu weiteren Stillegungen Anlass.
Einzelnachweise
- ↑ a b c Paul Pierson: Politics in time – History, Institutions and Social Analysis, Princeton University Press 2004
- ↑ Liste der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften
- ↑ Douglass North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990, Cambridge University Press
- ↑ Brian Arthur: Increasing returns and path dependence in the economy, 1994, Ann Arbor: University of Michigan Press.
- ↑ a b Paul David: Clio and the Economics of QWERTY, American Economic Review 1985, Vol75, pp. 205-20
- ↑ a b Paul Krugman: History and Industy Location: The Case of the Manufacturing Belt, American Economics Review 1991, Vol. 81, No.2
Weblinks
- Freie Universität Berlin Wirtschaftswissenschaften Pfadkolleg Graduierten-Kolleg eingerichtet zum Studium der Pfade organisatorischer Prozesse.