Wilhelm Reich
Wilhelm Reich, (* 24. März 1897 in Dobrzcynica in der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Bukowina, 3. November 1957 in Lewisburg, Pennsylvania, USA .) war Psychoanalytiker und gilt als der "Vater" der sog. Körperpsychotherapien (Bioenergetik, Biodynamik, Biosynthese etc.).
Wilhelm Reich, dessen Eltern Gutsbesitzer in der Bukowina, sich aus der jüdischen Tradition ihrer Vorfahren gelöst und der deutschen Kultur assimiliert hatten, war Kriegsteilnehmer und studierte ab 1919 in Wien Medizin (Dr. med. 1922). Er wurde bereits als Student Mitglied der von Sigmund Freud gegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und trat bald mit innovativen Konzepten hervor (Theorie der "Funktion des Orgasmus", Widerstands- und Charakteranalyse). Seine Tätigkeit am psychoanalytischen Ambulatorium führte ihn zudem zu einer soziologischen Betrachtung der Pandemie der psychischen Störungen und schliesslich zum Versuch einer theoretischen Fusion von Psychoanalyse und Marxismus. Weitere Quellen seines Denkens sind Henri Bergson, Max Stirner und Friederich Kraus.
Diese Synthese bereicherte er um ethnologische und sexualwissenschaftliche Studien und versuchte auf dieser Basis einen neuen Wissenschaftszweig, die Sexualökonomie, zu begründen. Diese Theorie hatte zeitweise starken Einfluss auf die deutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre. In diesen Jahren wurde Reich zum meistgedruckten Autor der studentischen Raubdrucke.
Reichs "Freudomarxismus" war für ihn nicht nur eine Sache der Theorie. Nach dem Mord von Otto Rothstock an dem Herausgeber sexualaufklärerischer Populärliteratur Hugo Bettauer, dem Freispruch von Rothstock, und den Ereignissen in Schattendorf, die zum Brand des Justizpalastes in Wien führten, trat Reich erst der sozialistischen, später der kommunistischen Partei bei. 1930 geht Reich nach Berlin, Anfang 1933 nach Dänemark ins Exil. Dort erschien 1933 sein Buch "Massenpsychologie des Faschismus", das den Sieg der Nationalsozialisten analysiert und mit den Illusionen der Parteilinken aufräumt. Er wird deshalb noch 1933 aus der KPD ausgeschlossen. 1935 wird das Buch in Deutschland verboten.
Gravierender war der plötzliche Ausschluss des inzwischen hoch angesehenen Psychoanalytikers aus allen Organisationen der Psychoanalyse im August 1934. Er war das Resultat eines seit Reichs Formulierung seiner "Orgasmustheorie" (1927) schwelenden Konflikts zwischen Reich und Freud, bei dem es um grundsätzliche anthropologische Probleme ging. Freud verweigerte jede Stellungnahme zu Reichs Position und betrieb stattdessen im Hintergrund - unter Ausnutzung der politisch prekären Situation der Psychoanalyse im NS-Deutschland - die Exkommunikation Reichs, deren Begründung damals ebenfalls verweigert wurde und bis heute ungeklärt bzw. umstritten ist.
Reich verfasste die einzige zeitgemäße psychoanalytische Monografie über den Faschismus (Massenpsychologie des Faschismus, 1933) und war damit seiner Zeit weit voraus. Er betonte die persönliche Mitbeteiligung des Einzelnen in seiner massenhaft verbreiteten sexuellen Frustration als Mitursache des Faschismus.
Der von Marxisten und Psychoanalytikern gleichermassen verfemte Reich begann im skandinavischen Exil (ab 1934 in Oslo) mit der Fundierung seiner psychologischen Erkenntnisse zunächst im somatischen Bereich ("vegetative Strömung" von Friedrich Kraus), schliesslich in der Biologie (vgl. sein Buch "Die Bione" 1938). 1939, kurz vor seiner Abreise in die USA, kam er zu der Auffassung, die von ihm beobachteten Phänomene nur unter der Annahme deiner spezifisch biologisch wirksamen Energie erklären zu können, die er Orgonenergie nannte. Er lernte in Oslo den Pädagogen Alexander Neill kennen, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verband.
Seine "Entdeckung" des Orgons als sich auf alle Lebensbereiche auswirkende Bioenergie führte zur Begründung der Orgontherapie. Diese Energieform sei nach Reich und seinen Anhängern die biophysikalische Grundlage für die Wirksamkeit der Psychotherapie und sei in so genannten Orgon-Akkumulatoren speicherbar. Ein Verbot dieser Geräte wurde von seinem Mitarbeiter Micheal Silver missachtet und von Reich vor Gericht gedeckt. Er wurde verurteilt, die Orgon-Akkumulatoren, sowie alle seine Bücher vernichtet in einer Müllverbrennungsanlage und führte 1956 zu einer zweijährigen Haftstrafe wegen Missachtung des Gerichts. Während der Haft starb Reich an plötzlichem Herztod.
Reichs soziologisch orientierte Formulerung des "Urkonflikts zwischen Triebbedürfnis und Aussenwelt" im Gegensatz zu Freuds Formulierung als innerem Konflikt zwischen Selbsterhaltung und Libido ebenso wie sein leidenschaftliches Verwerfen von Freuds Todestrieblehre stellen eine radikale Anklage der körperfeindlichen Zivilisation und eine Anleitung zur Veränderung dar.
Wilhelm Reichs frühe Werke, insbesondere die "Charakteranalyse" (1933) gehören heute noch zur Pflichtlektüre jeder Ausbildung zum Psychoanalytiker. Das Werk wurde im selben Jahr verfasst, in dem Reich in der Psychoanalytischen Vereinigung für verrückt erklärt worden war.
Reich distanzierte sich schon vor 1940 vor der sexuellen Befreiung in den 1960-er Jahren von einer rein mechanistisch-pornografischen Auffassung der Sexualität und betonte immer, dass sowohl die zärtliche als auch die sinnliche Seite, der tiefe emotionale Kontakt, das Wesentliche eine zufriedenstellenden Sexualität sei.
Seine Untersuchung über das Verhalten von Einzellern (Die Bione, 1938) gehören zu den frühesten und zu einer heute vernachlässigten radikal anderen Art von Verhaltensforschung als jene von Konrad Lorenz und seinen Schülern.
Reich hinterließ zahlreiche teils konkurrierende Schüler, lehnte aber die Gründung von Vereinen und Organisationen ab, da er glaubte, dass diese sein Denken zerstören würden so wie die Kirchen das Denken Jesu oder der Marxismus das Denken Marx' zerstört hätte.
Laut Reichs Testament soll 50 Jahre nach seinem Tod vermutlich größere Mengen unveröffentlichtes Material zugänglich gemacht werden.
Werke
- Der triebhafte Charakter (1925). In: Frühe Schriften I, Köln 1977
- Die Funktion des Orgasmus (1927). Revidierte Fassung: Frühe Schriften II, Köln 1982
- Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (1929)
- Der Einbruch der Sexualmoral (1932). Erweiterte und revidierte Fassung: Köln 1972
- Die Massenpsychologie des Faschismus (1933). Erweiterte und revidierte Fassung: Köln 1971
- Charakteranalyse (1933). Erweiterte Fassung: Köln 1970
- Was ist Klassenbewusstsein? (1934) - (Pseudonym "Ernst Parell")
- Die Sexualität im Kulturkampf (1936), Neuauflage u.d.T. Die sexuelle Revolution, Frankfurt/M 1966
- Die Bione (1938)
- The Function of Orgasm (1942). Deutsch u.d.T. Die Funktion des Orgasmus (völlig verschieden von dem Buch gleichen Titels 1927), Köln 1969
- The Cancer Biopathy (1948). Deutsch u.d.T. Der Krebs, Köln 1974
- Listen, Little Man! (1948). Deutsch u.d.T. Rede an den kleinen Mann, Frankfurt/M 1984
- Ether, God, and Devil (1949). Deutsch u.d.T. Äther, Gott und Teufel, Frankfurt/M 1983
- Cosmic Superimposition (1951)
- The ORANUR Experiment - First Report (1951)
- People in Trouble (1953). Deutsch u.d.T. Menschen im Staat, Frankfurt/M 1982; verbesserte Auflage Frankfurt/M 1995
- The Murder of Christ (1953). Deutsch u.d.T. Christusmord, Olten und Freiburg 1978
- Contact with Space, The ORANUR Experiment - Second Report (1957)
Im Verlag und Vertrieb Zweitausendeins erschienen 1995-1997 Reichs "Späte Schriften" in deutscher Übersetzung in 6 Bänden: 1) Die Bionexperimente; 2) Orop Wüste (Artikelsammlung), 3) Das ORANUR-Experiment - Erster Bericht; 4) Das ORANUR-Eperiment - Zweiter Bericht; 5) Die kosmische Überlagerung; 6) Christusmord
Postum erschienen ausserdem einige Bücher mit (auto-)biographischem Material:
- Reich Speaks of Freud, New York 1967. Deutsch auszugsweise u.d.T. Wilhelm Reich über Sigmund Freud, o.O., o.J. (1969ff)
- Beverley A. Placzek (ed.): Record of a Friendship (Correspondence Wilhelm Reich / Alexander Neill), New York 1981. *Deutsch u.d.T. Zeugnisse einer Freundschaft, Köln 1986
- Leidenschaft der Jugend (frühe Arbeiten und autobiogr. Ms.), Köln 1994
- Beyond Psychology (Letters and Journals 1934-1939), New York 1994. Deutsch u.d.T. Jenseits der Psychologie, Köln 1996
- An American Odyssey (Letters and Journals 1940-1947), New York 1999
Netzadressen
- Links zur Orgonomie
- Die Homepage der Orgonomie
- Wilhelm Reich - Leben und Werk
- Wilhelm Reich im LSR-Projekt (LaMettrie, Stirner, Reich)
- Orgontherapie - Zentrum für Orgontherapie, Berlin
- Public Orgonomic Research Exchange
- ORSO - Orgonomische Sozialforschung; Soziologie in der Tradition von Wilhelm Reich
- Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (1934-1939
Literatur
- Ilse Ollendorff-Reich: Wilhelm Reich (1969), München 1975 ISBN 3463022346 .
- David Boadella: Wilhelm Reich. Leben und Werk (1973/1980), Bern und München 1981 ISBN 3596267609 .
- Bernd A. Laska: Wilhelm Reich. Rowohlt-Bildmonographie. 1981. 5.Aufl. 1999. ISBN 3499502984
- Myron Sharaf: Der heilige Zorn des Lebendigen (1983), Berlin 1994, ISBN 3922389600
- Martin Wolkerstorfer: Wilhelm Reichs Erkenntnismodell: Gegenstand und Methode in der körperorientierten Psychotherapie. Dissertation, Salzburg, 1975
- Stefan Müschenich: Der Gesundheitsbegriff im Werk des Arztes Wilhelm Reich, Marburg 1995 ISBN 3922906540
- Karl Fallend, Bernd Nitzschke (Hg.): Der 'Fall' Wilhelm Reich, Frankfurt/M 1997, ISBN 3518288857 (Neuaufl. Giessen 2002 ISBN 3898061477 )
- Fritz Erik Hoevels: Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse, Freiburg 2001, ISBN 3894848138
Personendaten | |
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NAME | Reich, Wilhelm |
KURZBESCHREIBUNG | altösterreichischer Psychonanlytiker |
GEBURTSDATUM | 24. März 1897 |
GEBURTSORT | Dobrzcynica |
STERBEDATUM | 3. November 1957 |
STERBEORT | Lewisburg, Pennsylvania |