Gewissen

besondere Instanz im menschlichen Bewusstsein angesehen, die bestimmt, wie man urteilen soll
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Das Gewissen (lateinisch conscientia, wörtlich "Mit-Wissen") wird im Allgemeinen als eine spezielle Instanz im menschlichen Bewusstsein angesehen, die einem Menschen sagt, wie er sein eigenes Handeln beurteilen soll. Es drängt den Menschen, aus ethischen bzw. moralischen Gründen bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Entscheidungen können dabei als unausweichlich empfunden werden oder mehr oder weniger bewusst, also im Wissen um ihre Voraussetzungen und denkbaren Folgen, getroffen werden (Verantwortung).

Das einzelne Gewissen wird meist als von Normen der Gesellschaft aber auch von individuellen sittlichen Einstellungen der Person abhängig angesehen. Üblicherweise fühlt man sich gut, wenn man nach seinem Gewissen handelt. Man spricht dann von einem guten oder reinen Gewissen. Handelt man indessen entgegen seinem Gewissen, so hat man ein subjektiv schlechtes Gefühl. Man spricht dabei von schlechtem Gewissen, nagendem Gewissen oder Gewissensbisse haben.

Begriffsherkunft

Die heutige Bedeutung von „Gewissen“ geht wesentlich auf Luther zurück. Vor ihm konnte "Gewissen" auch Bewusstsein oder ein verstärktes Wissen ausdrücken. Diese verengte Wortbedeutung stammt vom griechischen "syneidêsis" -Begriff und dessen lateinischer Übertragung „conscientia“. "conscientia" kann nicht angemessen mit „Bewusstsein“ oder mit „Gewissen“ übersetzt werden; eine neutrale Übersetzung wäre „Mitwissen“. Darunter kann man konkret das Mitwissen einer übergeordneten Instanz um das eigene Handeln verstehen, manchmal eher unser eigenes, handlungsbegleitendes Wissen um den moralischen Wert dieser Handlung.

Juristische Sicht

Der bundesdeutsche Gesetzgeber gesteht dem individuellen Gewissen eine hohe Bedeutung zu; - beispielsweise, indem er seinen Bürgern die Freiheit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen einräumt (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, GG Artikel 4, Absatz 3).

Verschiedene Gewissensvorstellungen

Freudsche Psychoanalyse

Die Psychologie nach Sigmund Freud beruht auf der Unterscheidung der drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Seiner Vorstellung nach wird das unbewusst-triebhafte Es in seinen Äußerungen durch das Über-Ich hemmend kontrolliert. Dabei wird das Über-Ich verstanden als Introjekt, also Verinnerlichung der elterlichen und gesellschaftlichen Autorität, wodurch sich das Gewissen herausbildet. Es veranlasst das Kind, gesellschaftlich übliche oder erwartete Verhaltensweisen und Erwartungen einzuhalten. Das reife Ich, die individuelle Persönlichkeit mit ihren aus Erfahrung gewonnenen bewussten Wertsetzungen, bildet sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt und durch Überwindung der Anforderungen des Über-Ichs.

Philosophische Sichtweisen

Kantsche Philosophie

Nach Immanuel Kant enthält die praktische Vernunft ein a priori, ein jeder Moral vorhergehendes Grundprinzip. Dieses a priori bestimmt den kategorischen Imperativ. Dieser gilt absolut und überall und ist von jedem anwendbar. Er wird auch als „das gute Gewissen“ umschrieben und sei eine notwendige, aber keine hinreichende Grundlage für gutes Handeln.

Nietzsche

In Nietzsches Genealogie der Moral [Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes., Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Band 5, Hrsg. Colli und Montinari, dtv, de Gruyter, S. 291 ff.] wird das „Gewissen“ mit „Schuld“, „Pflicht“ und „Heiligkeit der Pflicht“ auf eine Ebene gestellt. Instinkte, die nicht aktiv gelebt werden können, „wenden sich nach innen“ [a.a.O., S. 322]. „Schuld“ und „Pflicht“ gegenüber den vorherigen Generationen werden in Gestalt des „schlechten Gewissens“ schließlich zu einer unabzahlbaren Schuld: „[Im Schuldner], in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ‚ewigen Strafe‘) concipiert ist -;...“ [a.a.O., S. 331].

Das „schlechte Gewissen“ in seiner „aktivischen“ Gestalt ist nach Nietzsche möglicherweise die Bedingung für die Entstehung ästhetischer Empfindung im Sinne von „Bejahung und Schönheit“ [vgl. a.a.O., S. 326].

Der Begriff „schlechtes Gewissen“ wird mit unterschiedlicher Konnotation verwandt. Es schimmert eine Parallele zwischen Phylogenese und Menschwerdung im individuellen, subjektiven Sinne durch. Das „schlechte Gewissen“, eine nach Nietzsche offenbar genuin menschliche Eigenschaft, die – ganz klar wird das nicht – wohl jedem Menschen zukommt, zumindest aber dem Künstler eigen ist, muss überwunden werden, bejaht werden, vielleicht auch integriert werden, um Schönheit, Seele, Ideale schaffen zu können.

Dialektischer Materialismus

Nach dem Dialektischen Materialismus (Marx) spiegelt das Gewissen den wandelbaren Gesellschaftszustand, welcher sich aus wechselnden materiellen Produktionsverhältnissen erkläre, wider. Da die Materie, die einzige Wirklichkeit, sich ständig verändere, gelte keine sittliche Wahrheit absolut.

Richard Mervyn Hare

Richard Mervyn Hare erklärt das schlechte Gewissen als eine Art Ersatz für echte Präskriptivität. Durch die Eigenschaft der Präskriptivität muss sich jeder moralisch handelnde Agent als an seine eigenen Urteile gebunden betrachten, so dass er sie ausführen muss, wann immer er physisch und psychisch dazu in der Lage ist. Mit anderen Worten: Nach Hare ist es nicht sinnvoll zu sagen "Ich sollte X tun." und dies dann doch zu unterlassen. Es fällt aber manchmal leichter (und einigen erscheint es sogar als die einzige Möglichkeit, sich die Dinge zu erklären), sich in Selbstvorwürfe (Versagen im „kritischen Denken“) oder aber in eine gewisse Opfermentalität („psychische Unfähigkeit“) zu flüchten, statt die volle Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen und entsprechend zu handeln. (Hare, Richard M.: Freiheit und Vernunft. Frankfurt a.M.1983, S. 94)

Dass es viele vorziehen, Selbstverantwortung so weit wie möglich an äußere oder innere Sündenböcke (den Staat, die Polizei, die Nachbarn, die Ausländer, Süchte, das eigene Unvermögen) abzugeben, ist bekannt. Es wird jedoch kritisiert, dass das Stützen dieser Verhaltensweise durch wissenschaftliche Theorien ungeeignet ist, den Menschen zu einem moralisch verantwortungsvollen Dasein zu verhelfen.

Religiöse Gewissensvorstellungen

Christliche Gewissensvorstellungen

Gewissen in der Bibel

Das Alte Testament kennt das Herz als Ausgangspunkt guter wie böser Taten, allerdings ist nirgends die Rede von einer kritischen Instanz im Geist oder in der Seele des Menschen. Erst Paulus hat den Begriff Gewissen in die christliche Theologie eingeführt.

Thomas von Aquin

Thomas von Aquin definiert, im Anschluss an Albertus Magnus, das Gewissen als Vollzug eines Urteils über den moralischen Wert einer Handlung. Er erkennt im Gewissen zwei Aspekte, eine Gewissensanlage (synteresis) und den konkreten Gewissensakt (Conscientia), in dem von Außen herangeführte Normen und Erfahrungen auf Grund der Gewissenanlage zu einem Urteil verschmelzen. Das Urteil des Gewissens ist für Thomas die letzte Instanz, nach der sich der Mensch zu richten hat, auch wenn er damit der offiziellen Kirche widerspricht. Das Gewissen vollzieht die Gründe und Überlegungen nach, die zu dieser Handlung geführt haben, ist aber nicht wie das Streben nach Vermögen, dem Einfluss durch Emotionen und Affekte ausgesetzt. Deshalb kann es zu einem Missverhältnis zwischen Handlungswahl und Gewissensurteil kommen (genannt „schlechtes Gewissen“). Das schlechte im Sinne eines peinigenden Gewissens tritt aber erst bei Luther in den Vordergrund, der dieses zur Grundform des Gewissens erklärt.

Protestantische Theologie

Die Reformation setzt mit Luthers Gewissenskrise auf Grund der Kirche seiner Zeit ein. Für viele Protestanten hat die individuelle Gewissensentscheidung im Glauben mehr Gewicht als die Unterwerfung unter kirchliche Autoritäten oder bestimmte Lesarten der Bibel. Diese Entwicklung beginnt schon bei Martin Luther selbst. Am 18. April 1521 musste Luther vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag zu Worms erscheinen und zu seinen Schriften Stellung nehmen. Er beschließt seine Rede mit den Worten:

„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ (Zitiert nach: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Bd. I: Aufbruch zur Reformation, Insel TB 1751, Frankfurt a.M/Leipzig: Insel, 1995, S. 269.)

Luther beruft sich damit auf die Freiheit des Gewissens. Das ist an sich nichts radikal Neues gewesen; seit Thomas von Aquin wurde das Gewissen als die Instanz im Menschen verstanden, dem unbedingt zu folgen ist, selbst wenn es irrt. Darauf beruft sich Luther vor dem Reichstag zu Worms; und doch bestimmt er den Begriff des Gewissens neu: Es ist hier nicht die von Gott in den Menschen gelegte handlungsorientierende Instanz, sondern es ist in der Bindung an das Wort Gottes handlungsbeurteilende Instanz. (Vgl. Reiner Anselm, Art. Gewissen, in: Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe, hrsg. von Alf Christophersen und Stefan Jordan, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2004, S. 131-133: 132.) D.h. das Gewissen ist nunmehr nicht göttlichen Ursprungs, wie in der mittelalterlichen scholastischen Theologie (synteresis vs. conscientia, s. oben), sondern nichts anderes als das innerpsychische Mitwissen des Menschen mit seinem Tun und die von äußeren, vorgegebenen Werten geprägte Beurteilungsinstanz im Menschen selbst. Damit orientierte Luther sich an der Bedeutung von "Gewissen", wie er es in den Briefen des Apostels Paulus vorgefunden hat (Röm 2,15; 9,1; 13,5; 1Kor 8,7 u.ö.; 10,25 u.ö.; 2Kor 1,12; 4,2; 5,11): Hier verwendet Paulus das Wort syneidesis, was das "Mitwissen" mit sich selbst bedeutet.

John Henry Newman

Für John Henry Newman gibt es im Gewissenserlebnis Momente der Tiefe, in denen der Mensch das Echo der Stimme Gottes vernimmt. Er vertritt damit eine eher mystische Auffassung von der Anwesenheit Gottes im menschlichen Gewissen.

2. Vatikanisches Konzil

Im Zweiten Vatikanum besteht eine Spannung in der Erklärung der Wirkungsweise des Gewissens, die vom Kompromisscharakter der Konzilstexte herrührt. Nach der Pastoralkonstitution Gaudium et spes ist das Gewissen ausgezeichneter Ort der Gottesbegegnung, „verborgenste Mitte“ und „Heiligtum im Menschen“. An anderer Stelle ist jedoch die Rede von einem „Gesetz, [...] dem der Mensch gehorchen muss“.

Hier sehen einige Interpreten einen Widerspruch zwischen autonomer Gewissensentscheidung des Einzelnen und Gewissen als Ausrichtung an internalisierten kirchlichen Sittennormen. In der nachkonziliaren lehramtlichen Entwicklung, den Enzykliken Humanae Vitae oder Veritatis Splendor tritt der zweite Aspekt in den Vordergrund und die freie Gewissensentscheidung im Dialog mit der "inneren Stimme" wird als weniger bedeutsam angesehen.

Der Katechismus der Katholischen Kirche (1993) betont, dass das Gewissen lebenslang anhand des Wortes Gottes gebildet und geformt werden muss, damit es ein richtiges Urteil abgeben kann (Gewissensbildung, Katechismus Nr. 1783-1785).

Zur Erforschung des Gewissens des Einzelnen beinhaltet das Gotteslob den Gewissensspiegel.

Soziologische Sichtweise

Luhmann

Niklas Luhmann interpretiert das Gewissen als eine Funktion im Dienste der Identitätsbildung.

Die Möglichkeiten, die ein Mensch hat, sich zur Welt zu verhalten, sind weit größer als die Fähigkeit, sie (alle auf einmal) zu realisieren. Ich kann ein Schurke sein, ein Heiliger, ein Feigling, ein Held - aber nicht alles auf einmal. Der Mensch wählt bestimmte Optionen und schlägt andere aus und bildet so eine Persönlichkeit aus, d.h. er wird zu einer selektierenden Struktur, die typischerweise so und nicht anders handelt. Der Mensch braucht Kontrollinstanzen, mit denen es ihm gelingt, eine konstante Persönlichkeit zu sein und zu bleiben, "und eine solche Kontrollinstanz [...] ist das Gewissen [...]. Jedes sichtbare und in diesem Sinne äußere Verhalten des Menschen [...] sagt etwas darüber aus, was der Mensch ist. Er stellt sich, ob er will oder nicht, in seinem Verhalten dar und legt sich damit fest, da die Zeit sein Verhalten unwiderruflich [...] in die Vergangenheit entrückt. Will er sich als identische Persönlichkeit darstellen, muß er die Kontrolle über sein Erscheinen behalten. Das ist nur möglich, wenn er sich durch innere Vorgänge, die dem Einblick entzogen sind, objektiviert. Wie George Herbert Mead gezeigt hat, stützt er sich bei dieser Reflexion auf die Tatsache, daß andere ihn objektivieren und daß er deren Einstellung übernehmen kann. [...] Da seine Situationen und Verhaltensprobleme recht komplex sind, muß er seine Persönlichkeit verinnerlichen, seine persönlichen Werte abstrahieren, seine Selbstdarstellungsgeschichte erinnern können. Je weiter er auf diesem Wege der Persönlichkeitsbildung kommt, desto weiter kann er seine Selbstdarstellung spannen, desto komplexer kann seine Lebenswelt sein. Nie aber braucht er die Komplexität der ganzen Welt in seinem Innern widerzuspiegeln. Die Funktion der Persönlichkeit liegt mithin auf dem Gebiet der Reduktion der unzähligen Potentialitäten des Ich zu einer kohärenten, individuellen Selbstdarstellung."

Dem dient, wie gesagt, das Gewissen. Genau so versteht auch die Alltagsintuition dessen Rolle, wenn man sagt, man müsse doch noch morgens in den Spiegel sehen können, um zu prüfen, ob man noch derselbe oder was aus einem geworden sei. Das Gewissen stellt die in die Zukunft gerichtete Frage, was aus mir werden soll, und blickt in die Vergangenheit auf das, was aus mir geworden ist - "im Gewissen stellt man das eigene Sein zur Entscheidung". "Nach der Tat [...] [zwingt] das Gewissen [...] zur Identifikation mit der Vergangenheit, zu der Erkenntnis, daß ich auch jetzt noch und für immer einer bin, der so handeln konnte. Das Gewissen fordert mich dann auf, in den Trümmern meiner Existenz die verbleibenden Möglichkeiten neu zu ordnen."

(zitiert aus: Jan Philipp Reemtsma, Über den Begriff "Handlungsspielräume", http://www.eurozine.com/articles/2003-01-24-reemtsma-de.html)

Literatur

  • Dietmar Mieth: Gewissen. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. (Bnd. 12) (Enzyklopädische Bibliothek in 30 Teilbänden) Freiburg 1981 , S.138-181.
  • Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung. Freiburg 2003.
  • Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Insel Verlag.
  • Theodor Heuss, Kurt von Stutterheim: Die Majestät des Gewissens, 1962, Christians Verlag, ASIN: B0000BOEBA