Erinnerungsverfälschung
Als Falsche Erinnerungen werden Gedächtnisinhalte bezeichnet, die keinem vergangenen tatsächlich erlebten Geschehen entsprechen und dennoch als faktisch so erlebt empfunden werden. Sie können entweder rein fiktiv sein oder aber in wesentlichen Punkten vom tatsächlichen Geschehen abweichen. Von hoher juristischer Relevanz ist dieses Phänomen bei der Bewertung von Aussagen vor Gericht. Sie unterscheiden sich von der bewussten Falschaussage (Lüge) dadurch, dass der Betreffende selbst von der Richtigkeit seiner Aussage überzeugt ist.
Die Mechanismen, die zur Ausbildung solcher Falschen Erinnerungen führen können, sind Gegenstand aktueller Forschung in Neurophysiologie und Neuropsychologie.
Es gilt als gesichert, dass das Einspeichern der Falschen Erinnerungen ein zeitlich eng begrenztes Phänomen ist und sowohl als Folge einer Suggestion als auch spontan (ohne äußere Beeinflussung) unter Stress oder bei Erschöpfungszuständen auftreten kann. Der Begriff ist damit methodisch abgrenzbar gegen pathologische Wahnvorstellungen, wie sie als Symptom einiger Geisteskrankheiten auftreten können
Wesentlich ist, dass die gedankliche und gefühlsmäßige Reproduktion des Gedächtnisinhaltes als Abbild einer vergangenen objektiven Realität erlebt wird - anders als bei einer Erinnerung an einen Traum, eine Vision oder eine aktive Imagination: Dort ist dem Erinnernden bewusst, dass seiner Erinnerung keine solche objektive Realität entspricht. Auch im Fall einer lückenhaften, vagen Erinnerung ist sich der Erinnernde dieser Unvollständigkeit und Unvollkommenheit bewusst.
Hirnphysiologische Experimente (zum Beispiel zur Gesichtserkennung) haben gezeigt, dass auch korrekt erinnerte Gedächtnisinhalte die Beteiligung unbewusster psychischer Abläufe in entscheidendem Umfang erfordert: Entgegen gängiger Annahme müssen (und können!) nicht alle zutreffend reproduzierbaren Gedächtnisinhalte vor ihrer Speicherung vollständig durch das Nadelöhr des Bewusstseins gelaufen sein, sie sind also nicht (oder nur ausnahmsweise) in vollem Umfang zur Bewusstheit gelangt.
Diese Erkenntnis sowie die Beobachtung, dass Falsche Erinnerungen zumeist von starken Emotionen begleitet sind, bilden den Ausgangspunkt für die aktuellen Forschungsansätze.
Siehe auch: deja vu
Die Objektivität dieses Artikels wird bezweifelt. Die Gegenposition findet sich im Artikel Dissoziative Identitätsstörung.
Unter dem Begriff False-Memory-Syndrom (aus dem Englischen: Syndrom der falschen Erinnerung) versteht man Erinnerungen an Geschehnisse, die niemals statt gefunden haben. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit.
Solche falschen Erinnerungen werden dabei in Therapiesitzungen von Therapeuten unbewusst bei erwachsenen Klienten und Kindern induziert, besonders bei Anwendung von Hypnose - speziell der Regressionshypnose - und Psychopharmaka. Auf Grundlage des Recovery-Paradigmas suchen dabei Therapeuten nach Erinnerungen an traumatische Erlebnisse bei Klienten, die diese unterdrückt haben. Die Klienten können dabei nicht zwischen realen und Pseudo-Erinnerungen unterscheiden, das Erinnerte hat für sie tatsächlich statt gefunden. Während das False-Memory-Syndrom in den 1980er Jahren zunächst vornehmlich bei Kindern aufgedeckt wurden, verschob sich später die Aufdeckung solcher auf Erwachsene.
In den zuständigen wissenschaftlichen Fachdisziplinen ist seit den 1990er Jahren eine heftige, teils ideologisch geführte Auseinandersetzung, um das False-Memory-Syndrom entbrannt.
Theorie der unterdrückten Erinnerung
In den 1980er Jahren kam die Theorie auf, dass manche Menschen Erinnerungen an traumatische Erlebnisse für Jahrzehnte derart unterdrücken, dass diese Erinnerungen für sie nicht mehr zugänglich sind. Häufig werde diese Unterdrückung durch eine Aufspaltung der Persönlichkeit des Klienten in viele - zum Teil Hunderte - Persönlichkeiten bewerkstelligt (Dissoziative Identitätsstörung, früher Multiple Persönlichkeitsstörung genannt). Der Theorie zu Folge lösen die unterdrückten Erinnerungen häufig eine posttraumatische Belastungsstörung aus und sind damit Ursache vieler psychischer Probleme. Die Unterdrückung und die dabei häufig auftretende Spaltung in multiple Persönlichkeiten seien ein Überlebensmechanismus, der es ermögliche, die traumatischen Erlebnisse zu überstehen. Es wurde die Theorie aufgestellt, dass die Im Rahmen einer so genannten Aufdeckungstherapie (englisch: recovered memory therapy) diese Erinnerungen wieder erinnerbar gemacht und das Trauma erneut durchlebt werden soll, um den Genesungsprozess bei den Klienten in Gang zu setzen.
Die aufgedeckten Erinnerungen steigern sich im Laufe der Therapie häufig in Intensität und Ausmaß der traumatischen Erlebnisse bis hin zu Erinnerungen an Missbrauch und Folter durch satanistische Gruppen und an Entführung durch Außerirdische. Die Aufdeckung ist zum Teil mit heftigen körperlichen Reaktionen verbunden. In einigen Fällen wurden Klienten in so genannten "abrection rooms" auf Liegen geschnallt. In Aufdeckungstherapien treten nahezu ausschließlich Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit, nicht aber an andere traumatische Erlebnisse auf.
Die Unterdrückung von Erinnerungen wird oft mit dem psychoanalytischen von Sigmund Freud entwickelten Konzept der Verdrängung verwechselt, das besagt, dass Menschen versuchen, unangenehme Erlebnisse zu verdrängen. Nach dem Konzept von Freud sind diese Erinnerungen jedoch ständig vorhanden, dringen in gewissen Zeitabständen in das Bewusstsein vor und werden wegen ihres unangenehmen Inhalts wieder verdrängt. In der Theorie der unterdrückten Erinnerungen hingegen sind diese nicht erinnerbar und müssen erst durch spezielle Aufdeckungstechniken wieder erinnerbar gemacht werden.
Die Ausbreitung der Theorie um die unterdrückten Erinnerungen ging im Wesentlichen auf die Tätigkeit einiger weniger Interessengruppen zurück, die diese Theorie verbreiteten, während die Fachwelt dies zu Beginn eher skeptisch-neutral verfolgte und ignorierte.
Falschanschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs
Dies änderte sich in den 1980er und 1990er Jahren. In einigen westlichen Ländern kam es in Folge von Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern durch aufgedeckte Erinnerungen zu Justizskandalen. Ausgelöst wurden diese häufig durch Mitarbeiter von Kinderschutzvereinen oder Jugendarbeitern, die darauf geschult wurden, sexuellen Missbrauch bei Kindern aufzudecken.
So unterzogen in den USA derart geschulte Sozialarbeiterinnen die Kinder der McMartin Preschool suggestiven Befragungen und lösten dadurch ein Gerichtsverfahren großen Umfangs aus. Sie stellten bei 369 von etwa 400 Kindern sexuellen Missbrauch durch Betreuer fest. Die Kinder berichteten u.a. von Folterungen und rituellen satanistischen Handlungen, die zum Teil während der Öffnungszeit der Kindertagesstätte stattgefunden haben sollen. Der Fall entwickelte sich zu einem der längsten und teuersten Justizirrtümer der amerikanischen Geschichte. Die Videobänder der Befragungen belegten, wie die Kinder zu den Schilderungen gedrängt wurden. Die Angeklagten wurden frei gesprochen. In der darauf folgenden Zeit entwickelte sich eine Panik um rituellen satanistischen Missbrauch. Das National Center of Child Abuse and Neglect untersuchte in den USA darauf hin etwa 12.000 Fälle von Anschuldigungen wegen rituellen satanistischen Missbrauchs. Kein einziger Verdacht konnte bestätigt werden. Unter den Vertretern der Theorie der unterdrückten Erinnerungen entwickelte sich so die Theorie, dass ein Jahrhunderte altes Netzwerk von Satanisten in Verbindung mit der CIA bestünde, die die Gesellschaft unterwandert hätten, um ihre Verbrechen zu vertuschen.
In Deutschland sorgten die Justizskandale von Worms, Nordhorn, Coesfeld und Flachslanden für öffentliches Aufsehen. In Worms wurden 25 Personen angeklagt, einen Kindersexring gebildet und ihre Kinder sexuell missbraucht zu haben, nachdem eine Mitarbeiterin des Kinderschutzvereins Wildwasser die Kinder einer suggestiven Befragung unterzog. Die Angeklagten wurden frei gesprochen. In Coesfeld wurde ein Erzieher eines Kindergartens wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt, nachdem eine Mitarbeiterin des Kinderschutzvereins Zartbitter Erinnerungen an sexuellen Missbrauch eingeredet hatte. In Nordhorn wurden gegen Lehrer Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 187 Fällen erhoben. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. Ähnliche Skandale fanden in Großbritannien, den Niederlanden und Norwegen statt.
Wissenschaftliche Auseinandersetzung
In Folge der Skandale um Falschanschuldigungen entwickelte sich ein wissenschaftlicher Diskurs um die Theorie der unterdrückten Erinnerungen. In Versuchen zeigte sich, wie leicht sich falsche Erinnerungen bei Menschen, insbesondere bei solchen die aufgrund psychischer Problem einen Therapeuten aufsuchen, hervorrufen lassen. In Studien zum Beleg der Theorie der unterdrückten Erinnerungen zeigten sich - zum Teil gravierende - wissenschaftliche Mängel.
Ein wesentlicher Bestandteil der Theorie um unterdrückte Erinnerungen bestand in der Annahme, dass das menschliche Gehirn Erinnerungen detailgetreu wie ein Videorecorder aufzeichnet und so wieder von sich geben kann. Bei Klienten von Aufdeckungstherapien wurde beobachtet, dass sich ihre Erinnerungen durch eine hohe Detailgenauigkeit auszeichnen und dass im Verlauf solcher Therapien immer mehr Details zu Tage traten. Gerade wegen dieser Detailgenauigkeit wirkten diese Erinnerungen glaubhaft. Diese Videorecorder-Theorie ist mittlerweile widerlegt. Das menschliche Gehirn speichert Informationen nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern in einer abstrakten Speicherplatz sparenden Kodierung ab. Eine detailgenaue Aufzeichnung von Informationen ist dem menschlichen Gehirn auf Grund eng begrenzter Speicherkapazität nicht möglich. Beim Wiedererinnern können zudem solche abstrakten Informationen mit phantasierten Details ausgeschmückt werden (Konfabulation).
Psychische Probleme können dadurch ausgelöst werden, dass traumatische Erlebnisse nicht verarbeitet werden. Während in manchen Fällen die Probleme dadurch geprägt sind, das traumatische Erlebnisse immer wieder erinnert werden, wirkt sich bei der unterdrückten Erinnerung die Unfähigkeit des Individuums zur Verarbeitung dahingehend aus, dass sie verdrängt wird, so dass keine permanente Auseinandersetzung mit dem nicht allein zu bewältigenden Trauma stattfindet. Psychologische Betreuung kann hier helfen.
Allerdings gab es auch Fälle in den USA, in denen Therapeuten, die ihren - überwiegend weiblichen - Klienten falsche Erinnerungen induzierten, zu hohen Schadenersatzzahlungen verurteilt wurden. Aufgrund der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse um die Entstehung falscher Erinnerungen wurden viele Straffälle neu aufgerollt und vormals Verurteilte frei gesprochen.
Aktueller Stand
In der wissenschaftlichen und juristischen Auseinandersetzung ist allgemein akzeptiert, dass das Syndrom der falschen Erinnerungen existiert. In der Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof in Deutschland mit seiner Entscheidung vom 30. Juli 1999 (1 StR 618/98) strenge Anforderungen für die Verwendung wiedererlangter Erinnerungen in Strafverfahren formuliert. In Folge der Panik um falsche Erinnerungen an rituellen sexuellen Missbrauch in den Niederlanden erließ das niederländische Justizministerium eine Polizeirichtlinie, nach der bei Anschuldigungen von rituellem Missbrauch zuerst die Therapeuten der Klienten einer Untersuchung zu unterziehen sind. Vertreter der Theorie um unterdrückte Erinnerungen räumen mittlerweile ein, dass die Erinnerungen der Klienten nicht der Realität entsprechen müssen und man diese vorsichtig anzweifeln solle. Dennoch werden von Therapeuten weiterhin Aufdeckungstherapien angewandt. In Deutschland ist bereits ein erster Fall einer Klienten bekannt geworden, die ihren Therapeuten auf Schadenersatz verklagt hat.
Siehe auch:
Literatur
- Making Monsters: False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria, Richard Ofshe und Ethan Watters, University of California Press
- Missbrauch vergisst man nicht, Hans F. M. Crombag, Harald L. G. Merckelbach,
- The Myth of Repressed Memory: False Memories and Allegations of Sexual Abuse, Elizabeth Loftus, Katherine Ketcham, St. Martin's Press
- Vater unser in der Hölle, Ulla Fröhling, Kallmeyer
- Multiple Persönlichkeiten, Michaela Huber, Fischer (Tb.), Frankfurt
Fachartikel
- Critchlow, Stephen (1998): False Memory Syndrome: Balancing the Evidence For and Against. In: Irish Journal of Psychological Medicine 15 (2), S. 64-67.
- Dallam; Stephanie (2001): Crisis or Creation?: A Systematic Examination of ‚False Memory Syndrome‘. In: Journal of Child Sexual Abuse 9 (3/4), S. 9-36.
- Friedman, Stanley (1997): On the ‚True-False‘ Memory Syndrome: The Problems of Clinical Evidence. In: American Journal of Psychotherapy 51 (1), S. 102-122.
- Lego, Suszanne (1996): Repressed Memory and False Memory. In: Archives of Psychiatric Nursing 10 (2); S. 110-115.
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- McElroy, Susan L; Keck, Paul E. (1995): Recovered Memory Therapy: False Memory Syndrome and other Complications. In: Psychiatric Annals 25, S. 731-735.
- Nash, Michael R. (1994): Memory Distortion and Sexual Trauma: The Problem of False Negatives and False Positives. In: International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 42, S. 346-362.
- Perlman, Stuart D. (1996): ‚Reality‘ and Countertransference in the Treatment of Sexual Abuse Patients: The False Memory Controversy. In: Journal of the American Academy of Psychoanalysis 24, S. 115-135.
Weblinks
- http://www.novo-magazin.de/63/novo6332.htm - Therapie auf Teufel komm raus
- http://www.novo-magazin.de/41/novo4134.htm - Invasion der Opfermacher
- http://faculty.washington.edu/eloftus - Homepage Elizabeth Loftus (englisch)
- http://www.fmsfonline.org/ - False Memory Syndrome Foundation
- http://www.recoveredmemory.org/ - Informationsseite mit etwa 100 dokumentierten Fällen von wiedererlangter Erinnerung (englisch)
- http://www.dissoc.de/02-05.html - Die Multiple Persönlichkeitsstörung im Zerr-Spiegel des Feuilletons