Ein Überlebender aus Warschau

Komposition von Arnold Schönberg
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 9. Februar 2008 um 19:14 Uhr durch Boris Fernbacher (Diskussion | Beiträge) (Musikalische Form). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Ein Überlebender aus Warschau (Originaltitel A Survivor from Warsaw for Narrator, Men’s Chorus and Orchestra op. 46) ist ein Melodram von Arnold Schönberg für einen Sprecher, Männerchor und Orchester aus dem Jahre 1947. Die Uraufführung fand am 4. November 1948 in Albuquerque (New Mexico) unter der Leitung von Kurt Frederic, mit Sherman Smith als Sprecher statt. Es ist wie alle Werke Schönbergs seit den 1920er Jahren in Zwölftontechnik geschrieben. Thema des nur circa siebenminütigen Werks ist die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto. Der von Schönberg verfasste Text [1] ist dreisprachig. Der Erzähler spricht englisch, zitiert aber die Kommandorufe des Feldwebels (sergeant) auf Deutsch. Der Schlusschor, das „Sch'ma Jisrael“ ist in Hebräisch. Ein Überlebender aus Warschau gilt als eines der ausdrucksstärksten Werke Schönbergs und ist eine der wichtigsten und meistrezipierten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust. [2]

Inhalt und historischer Hintergrund

 
Denkmal zur Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto

Das Werk ist in der Zeit der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann, angesiedelt. Dem Aufstand war die „große Aussiedlung“ ab dem 23. Juni 1942 mit dem Abtransport in die Vernichtungslager, meist nach Treblinka, vorausgegangen.

Der Erzähler, der sich halbtot geschlagen in den Untergrund retten konnte, ist Augenzeuge der Ereignisse. Die entrechteten Juden werden niedergeknüppelt und ermordet oder nach dem Appell mit dem Befehl zum Abzählen in die Vernichtungslager deportiert. In all dieser Brutalität besinnen sich die Juden auf ihre religiösen Wurzeln und beginnen, das Schema Israel, das jüdische Glaubensbekenntnis zu singen, womit das Stück endet.

Entstehung

 
Schönberg, um 1948

Schönberg war 1925 zum Leiter eines Meisterkurses für Komposition an der Preußischen Akademie Berlin ernannt worden. Nachdem ihm diese Stelle aus rassistischen Gründen im September 1933 entzogen worden war, kehrte er - evtl. auch aus Protest gegen den Nationalsozialismus - zum jüdischen Glauben zurück und emigrierte in die USA, wo er eine Professur in Kompositionslehre erhielt und 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Schönberg begann die Komposition des Überlebenden aus Warschau am 11. August 1947 und vollendete sie am 23. August 1947. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes erstellte er nur das Particell. René Leibowitz, ein Freund Schönbergs, komplettierte die Partitur.

Das Stück war bei der Uraufführung im November 1948 ein überwältigender Erfolg und musste nach einer Schweigeminute wiederholt werden. Erst nach der Wiederholung gab es frenetischen Beifall. Zur Uraufführung schrieb die Time:

"Cruel Dissonants. First the audience was jolted upright by an ugly, brutal blast of brass. [...] The harmonies grew more cruelly dissonant. The chorus swelled to one terrible crescendo. [...] While the audience was still thinking it over, Conductor Kurt Frederick played it through again, to give it another chance. This time, the audience seemed to understand it better, and applaused thundered in the auditorium." [3]

Schönberg selber äußerte sich in einem Brief an Kurt List 1948 folgendermaßen zu seinen Intentionen bezüglich des Werkes:

Now, what the text of the Survivor means to me: it means at first a warning to all Jews, never to forget what has been done to us, never to forget that even people who did not do it themselves, agreed with them and many of them found it necessary to treat us this way. We should never forget this, even such things have not been done in the manner in which I describe in the Survivor. This does not matter. The main thing is, that I saw it in my imagination. [4]

Noch heute gilt der Überlebende aus Warschau als eines der eindringlichsten Werke Schönbergs, das sich dem Hörer auch ohne Kenntnis der musikalischen Strukturen erschließt.

Besetzung

Die Besetzung umfasst ein übliches Streichorchester, die paarweise besetzte Holzbläsergruppe (Piccoloflöte, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott), eine mit jeweils drei Vertretern dazu relativ stark besetzte Blechbläsergruppe (Hörner, Trompeten, Posaunen, und Tuben), ein umfangreiches Arsenal an Schlagwerk (Pauke, verschiedenen Trommeln, Becken, TamTam, Xylophon, Kastagneten, Glocken, Schellen, und Harfe), den Männerchor, sowie den Sprecher.

Musikalische Form

Das Werk besteht aus drei Teilen. Einer instrumentalen Einleitung, der von einem Sprecher vorgetragenen und vom Orchester begleiteten Erzählung, und dem von einer Posaune begleiteten Schlusschor mit dem Sch'ma Jisrael.

Die Komposition basiert auf einer einzigen Zwölftonreihe F# - G - C - Ab - E - D# - Bb - C# - A - D - F - B. Dabei sind in der Reihe mit einem übermäßigen, großen Dreiklang (Ton 3, 4 und 5), kleinen Dreiklang (Ton 9, 10 und 11), und einem Septakkord ohne Grundton (Ton 10, 11 und 12) durchaus tonale Anknüpfungspunkte vorhanden.

Sowohl Schönbergs Text in drei Sprachen als auch der musikalische Ausdruck charakterisieren unterschiedliche Ebenen. So wird die Brutalität der nationalsozialistischen Besatzer durch aggressive Blechbläser, Schlagzeug, und Kommandos in deutscher Sprache unterstrichen und die Empathie für die Leidenden mit dem Klang der Streicher vom Ensemble bis zur Solovioline verstärkt.

Einleitung

Datei:Warschau4.png
Fanfarenmotiv und Reihenkonstruktion ab Takt 1

Das Werk beginnt mit einem grellen, in zwei Sechstongruppen unterteiltem und wiederholtem Fanfarensignal der Trompeten, welches die Zwölftonreihe einleitet. Dabei ist die zweite Sechsergruppe mit der Tonfolge B - Bb - F - A - C# - D die Umkehrung der auf die Unterquinte transponierten Originalreihe der Töne 1 bis 6, welche gleichzeitig (mit leichten Positionsveränderungen), die Anforderung der Schönbergschen Zwölftonmusik des Erklingens aller Reihentöne vor einem Wiederauftreten dieser Töne annähernd erfüllt. Diesen Akkorden folgt ein instrumentationstechnisch - im Sinne der auch von Webern verfolgten punktuellen Instrumentation - zerrissener Teil. Nacheinander treten Snaredrum, Piccoloflöte, Celli und im Pizzicato behandelte Kontrabässe aus der manchmal tonweise wechselnden Besetzung kurzzeitig hervor. Der Gegensatz zwischen hohen und tiefen Tönen widerspricht herkömmlichen Hörerwartungen. Die Anwendung von Trillern und Tonrepititionen wirkt mechanisch und enttäuscht zusätzlich die Erwartung des Hörers nach einem greifbaren Thema.

Sprachabschnitt

Datei:Warschau1.png
Notation des Rhythmus und relativer Tonhöhenunterschiede in Takt 12 und 13

Die Sprechstimme rezitiert ab Takt 12 in einer für Schönberg typischen und schon im Pierrot Lunaire von 1912, Moses und Aron, und der Ode to Napoleon Buonaparte von 1942 ähnlich praktizierten Art eine Sprechmelodie. Schönberg deutet auf, über und unter einer Notationslinie die relativen Höhenunterschiede der Sprache an, die aber nach seinen Anweisungen keineswegs in Gesang übergehen darf. Die Sprachrhythmen sind äußerst genau erfasst. Schönberg schreibt diesbezüglich selber:

"[...] diese Sprechstimme darf niemals so musikalisch aufgeführt werden wie meine andern strengen Kompositionen. Niemals darf gesungen werden, niemals darf eine wirkliche Tonhöhe erkennbar sein. [...] Das ist sehr wichtig, weil durch Singen Motive entstehen, und Motive ausgeführt werden müssen." [5]

Ob diese Technik von Schönberg zwecks Fokussierung der Höreraufmerksamkeit auf die zentralen Textaussage oder nur in Fortsetzung seiner schon seit dem Pierrot angewandten Ausdrucksmittel verstanden werden kann, ist mangels eigener Aussagen von ihm zu dieser Frage nicht zu entscheiden.

Das Fanfarenmotiv des 1. Taktes übt in diesem Teil (siehe Takt 25-28 und 31-35) die Funktion eines Leitmotivs aus. [6]

In der Orchesterbegleitung treten für jeweils kurze Zeit einzelne Instrumente bzw. Instrumentengruppen (Streicher, Bläser, Xylophon, Solovioline) kurzzeitig hervor. Ihr Einsatz ist meist kolloristisch im Sinne der Filmmusik gehalten. Eigenständige Motive oder Reihen werden nur ansatzweise vorgestellt bzw. durchgeführt. Dabei agieren die Instrumente; der an- und absteigenden Erregung des Textes folgend; oft in für das jeweilige Instrument lagenmäßigen und dynamischen Extremen. Abschnitte in denen der Sprecher ganz allein zu hören ist verstärken diese gegensätzliche Klangwirkung.

Schema Israel

 
Sch'ma Jisrael-Thema mit bezeichneten Reihentönen

Im Kontrast dazu steht das Schema Israel, das von einem Männerchor unisono gesungen und bereits im ersten Teil (Takt 18-21) instrumental zitiert wird. Dieses gibt zum Schluss erstmalig die Grundgestalt der Zwölftonreihe wieder. Es wird dabei aus der ursprünglichen Reihe durch Transposition von F# auf Bb (also Bb-B-E-C-As, usw.), die Richtungsänderung einiger Intervalle, und in der Zwölftontechnik erlaubte Tonwiederholungen gewonnen. Es weist dabei auffallende Ähnlichkeiten mit Merkmalen traditioneller europäisch-jüdischer Musik auf. Ein Beispiel hierfür ist die absteigende kleine Sekunde (G# - G) zu Ende des ersten Hexachords, welche auch für den ersten Schritt der jüdischen freygischen Tonleiter typisch ist. [7]

Rezeption

Nach C. Gottwald finde die Schilderung der Rationalität einer moralisch entfesselten Welt im Werk ihre Parallele in der ästhetischen Konstruktion mittels der Zwölftontechnik. [8]

Adorno warf nach dem Kriege die Frage auf, ob die nationalsozialistischen Verbrechen zum Thema eines eventuell verklärenden Kunstwerkes gemacht werden dürften, und verneinte diese. In Bezug auf Schönbergs Werk schrieb er 1962:

"Etwas peinliches gesellt sich der Komposition Schönbergs", [...] als ob die Scham vor den Opfern verletzt wäre. Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte." [9]

Das Stück stieß in den 50er Jahren aber auch auf Ablehnung. So bezeichnete der Musikkritiker Hans Schnoor es 1956 im Westfalen-Blatt als "jenes widerwärtige Stück, das auf jeden anständigen Deutschen wie eine Verhöhnung wirken muß." [10]

Einspielungen (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Anm.: Schönberg schrieb: "This text is based partly upon reports which i have recieved directly or indirectly." Föllmi konnte allerdings nachweisen, dass es sich aufgrund zahlreicher Umarbeitungen und Entkonkretisierungen seitens Schönbergs nicht um einen als authentischen zu bezeichnenden Bericht handelt. (Beat A. Föllmi: Eine narratologische Analyse von Arnold Schönbergs Kantate "A Survivor from Warsaw" op. 46, in: Archiv für Musikwissenschaft, 55. Jahrgang, 1998, Seite 30 ff.)
  2. Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus: Das Unbehagen in der"dritten Generation" - Reflexionen des Holocaust, Antisemitismus und Nationalsozialismus, Seite 46
  3. [www.schoenberg.at/6_archiv/music/img/C19481104_a_1.jpg Artikel in der Time vom 15. November 1948]
  4. Briefzitat, Quelle: Arnold Schönberg Center, siehe Weblinks
  5. Schönberg an Leibowitz am 12.11.1948; in Briefe, Seite 268 ff.
  6. AEIOU - Musikkolleg
  7. Charles Heller: Traditional Jewish material in Schoenberg's A Survivor from Warsaw, op. 46, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute III, 1979, Seite 69 ff.
  8. C. Gottwald, 1990, im Beiheft zur CD Schönberg - Das Chorwerk mit Pierre Boulez
  9. Theodor W. Adorno: Engagement, 1962, Seite 423; zitiert nach Stephan Braese: Deutsche Nachkriegsliteratur und Der Holocaust, Seite 285
  10. Zitiert nach Monika Boll: Nachtprogramm - Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Seite 214