Geiselnahme von Gladbeck

Bankraub mit Geiselnahme im August 1988 in Deutschland
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Das Gladbecker Geiseldrama bezeichnet ein aufsehenerregendes Verbrechen im August 1988, in dessen Verlauf drei Menschen starben.

Am Morgen des 16. August 1988 nahmen die vorbestraften Bankräuber Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner im Anschluss an ihren Überfall auf die Filiale der Deutschen Bank im nordrhein-westfälischen Gladbeck mehrfach Geiseln und flüchteten mit ihnen zwei Tage lang durch Deutschland und die Niederlande. Das Drama sorgte insbesondere durch die fragwürdige Rolle der beteiligten Journalisten, die den Verbrechern auf deren Wunsch unter anderem Liveinterviews in Radio und Fernsehen gewährten, für großes Aufsehen und für eine bis heute anhaltende Diskussion über die Verantwortung und Ethik in der Berichterstattung der Medien. Das Drama endete am 18. August 1988 in einer ebenfalls äußerst kontrovers diskutierten Polizeiaktion auf der Autobahn 3 zwischen der Anschlussstelle Siebengebirge und der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz.

Im Laufe der odysseeartigen Flucht erschoss einer der beiden Haupttäter einen 15-jährigen Italiener in einem gekaperten Linienbus. Eine zweite Geisel starb während der abschließenden Polizeiaktion auf der Autobahn. Laut Behördenangaben wurde der tödliche Schuss auf sie aus der Waffe eines der Geiselgangster abgegeben. Während der Verfolgung in die Niederlande war zuvor bereits ein Polizist bei einem Zusammenstoß mit einem LKW ums Leben gekommen.

Neben der heftigen Kritik an der Rolle der Journalisten (Behinderung der Polizeiarbeit, Hilfeleistung gegenüber den Gangstern, gewissenlose Liveberichterstattung) wurden auch gegen die Verantwortlichen bei der Polizei der beteiligten Bundesländer schwere Vorwürfe wegen schlechter Einsatzkoordination erhoben.

Chronik der Ereignisse

16. August

Am Morgen des 16. August 1988 verschafften sich die beiden vermummten und mit einem Colt M1911 A1 und einem Smith & Wesson-Revolver bewaffneten Täter Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner (damals 32 bzw. 31 Jahre alt) vor Schalteröffnung Zugang zu einer Filiale der Deutschen Bank im Gladbecker Stadtteil Rentfort.

Die Bank befindet sich im Atriumbereich des Geschäftszentrums Rentfort-Nord an der Schwechater Straße 38 und ist nur von zwei Seiten zugänglich. Auf der Rückseite des Gebäudes befanden sich hochgelegene Oberlichter, die zu einem breiten, um den gesamten Gebäudekomplex verlaufenden Versorgungsweg führten. Der Eingangsbereich lag in einem der vier überdachten Zugangsbereiche des Atriums. Links und rechts der Bank befanden sich weitere Ladenlokale. Deswegen war es Degowski und Rösner kaum möglich, aus der Bank heraus die potentiellen Fluchtwege zu beobachten. Sie hatten lediglich einen Teileinblick ins Atrium sowie die Sicht auf die zwei überdachten Zugänge zum Atrium zur linken und rechten Seite. Der linke Zugang führte zum für Verkehr gesperrten Versorgungsweg, der rechte zur Straße.

Um 8:04 Uhr ging bei der Polizei der Notruf eines Arztes ein, dessen Praxis im ersten Obergeschoss des Gebäudes war, nachdem er die Täter beim Eindringen unbemerkt beobachtet hatte. Die ersten eintreffenden Beamten parkten ihren Streifenwagen direkt vor dem zur Straße liegenden Zugang. Als Degowski und Rösner die Bank – zunächst noch ohne Geiseln – verließen, entdeckten sie das Fahrzeug sofort, kehrten um und nahmen zwei Bankangestellte als Geiseln. Daraufhin forderten sie einen Fluchtwagen und Lösegeld.

Um ihre Forderungen zu unterstreichen, gaben sie einige Schüsse ab. Ein Rundfunksender führte das erste Interview.

Nach stundenlangen Verhandlungen erhielten sie 300.000 DM (nominal umgerechnet 153.388 Euro) und einen weißen Fluchtwagen des Typs Audi 100. Damit fuhren sie und die beiden Geiseln um 21:45 Uhr los. Die Freundin Rösners, Marion Löblich, stieg noch in Gladbeck zu.

17. August

Sie fuhren über die Autobahn nach Bremen. Im Ortsteil Huckelriede brachten sie am 17. August um 19:00 Uhr einen Bus der Linie 53 mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt. Dann standen sie ganz offen der Presse Rede und Antwort. Auch die beiden Geiseln, denen die Pistole an die Kehle gehalten wurde, wurden von Reportern interviewt.

Nachdem sie fünf der Geiseln freigelassen hatten, fuhren sie mit 27 Geiseln wieder auf die Autobahn. An der Raststätte Grundbergsee (zwischen den Anschlussstellen 50 - Stuckenborstel - und 51 - Posthausen) ließen sie die beiden Bankangestellten frei.

Zwei Polizeibeamte nahmen ohne dienstlichen Auftrag die Freundin Rösners fest, als diese die Toilette der Raststätte aufsuchen wollte. Rösner und Degowski verlangten die sofortige Freilassung Löblichs und drohten, nach 5 Minuten eine Geisel zu erschießen. Nach Ablauf der Zeit schoss Degowski dem fünfzehnjährigen Italiener Emanuele De Giorgi in den Kopf. Erst eine Minute später konnte Rösners Freundin freigelassen werden, weil in der Hektik der Schlüssel für die Handschellen abgebrochen war. Emanuele lebte noch 20 Minuten, bis er verblutet war, weil kein Rettungsfahrzeug mit Sanitätern zur Wundversorgung bereit stand. Ein vorhandener Rettungswagen hätte den Jugendlichen binnen kürzester Zeit ins nahe gelegene Zentralkrankenhaus Bremen-Ost bringen können.

Der Bus fuhr dann weiter in die Niederlande. Ein Polizeiwagen kollidiert während der Verfolgung mit einem LKW, ein Polizist kommt dabei ums Leben und ein weiterer wird verletzt.

18. August

Am Morgen des 18. August, um 2:30 Uhr, überquerte der Bus die holländische Grenze. Um 5:15 Uhr wurden zwei Frauen und drei Kinder freigelassen, denn die holländische Polizei weigerte sich, mit den Geiselnehmern zu verhandeln, solange noch Kinder in ihrer Gewalt waren. Die beiden Geiselnehmer bekamen um 6:30 Uhr einen BMW 735i als neuen Fluchtwagen. Dieses Fahrzeug wurde von der holländischen Polizei so präpariert, dass der Motor mittels Fernbedienung ausgeschaltet werden konnte. Als die Geiseln zu fliehen versuchten, wurden der Busfahrer und Marion Löblich verletzt.

Bei einem Zwischenstop in Wuppertal kauften die Entführer in einer Apotheke ein und bezahlten mit dem geraubten Geld.

Mit den zwei Bremer Geiseln Silke Bischoff und Ines Voitle fuhren Degowski und Rösner weiter nach Köln. Hier kam es abermals zu fragwürdigem Verhalten seitens der Journalisten, als diese gegen 11:00 Uhr inmitten von Passanten in der Fußgängerzone Breite Straße in der Kölner Innenstadt das Fluchtauto mit den Gangstern sowie den Geiseln umlagerten und Liveinterviews führten. Einige Journalisten boten sich als Lotsen an und zeigten den Geiselnehmern Fotos von Polizisten, damit sie den Verbrechern beim Austausch der Geiseln nicht untergeschmuggelt werden konnten. Besonders negativ fiel der Express-Reporter Udo Röbel auf. Er bot sich an, die Geiselnehmer im Fluchtwagen bis zur nächsten Autobahnauffahrt zu lotsen und fuhr zwischen Köln und der Raststätte Siegburg im Fluchtfahrzeug mit. Dabei wetteiferten zahlreiche Journalisten um die besten Bilder.

Um 12:00 Uhr fuhren die Geiselnehmer auf der A3 weiter in Richtung Frankfurt am Main. Nachdem ein Beamter das Fluchtfahrzeug mit einem schweren gepanzerten Einsatzfahrzeug der Mercedes S-Klasse seitlich gerammt und somit fahrunfähig gemacht hatte, griff ein Spezialeinsatzkommando der nordrhein-westfälischen Polizei mit Waffengewalt ein. Dies geschah in Höhe von Bad Honnef, kurz vor der Landesgrenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Ursprünglich beabsichtigt war, den Motor des präparierten Fluchtfahrzeuges ferngesteuert auszuschalten, doch die zur Fernsteuerung nötige Fernbedienung hatten die Polizisten vergessen. Mit einem wilden Schusswechsel endete das Geiseldrama wenig später. Die 18jährige Silke Bischoff starb durch eine Kugel aus Rösners Waffe, ihre Freundin Ines Voitele blieb weitgehend unverletzt, da sie sich durch einen Sprung in den Straßengraben retten konnte.

Das rheinland-pfälzische Innenministerium hatte bereits den Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) um Übernahme der Aktion gebeten und Beamte der GSG 9 standen hinter der Grenze zum Zugriff bereit.

Gerichtsverfahren

Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski wurden am 22. März 1991 vom Landgericht Essen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Rösners Freundin Marion Löblich erhielt eine neunjährige Haftstrafe, die sie vollständig verbüßte. Sie traten ihre Haftstrafen in Nordrhein-westfälischen Gefängnissen an.

2002 lehnte das Oberlandesgericht Hamm „wegen der besonderen Schwere der Schuld“ eine vorzeitige Haftentlassung von Degowski ab. Die Haftdauer wurde auf mindestens 24 Jahre festgelegt, so dass er frühestens im Januar 2013 entlassen werden kann.

Rösners Gesuch auf vorzeitige Entlassung lehnte das Oberlandesgericht Hamm im Januar 2004 ab. Ebenfalls abgelehnt wurde eine Haftverkürzung, so dass Rösner seine Haft bis Februar 2016 verbüßen muss. Da zusätzlich Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wird er auch nach dem Verbüßen seiner Haftstrafe nicht freigelassen.

Politische Kontroversen entstanden, als Degowski unauffällig gefesselt und in Begleitung zweier bewaffneter Beamter durch die Stadt Werl geführt werden durfte, wo er inhaftiert ist.

Verarbeitung

Da das Gladbecker Geiseldrama ein traumatisches Ereignis mit möglichen Lehren für die Zukunft war, wurde mehrfach die Errichtung einer Gedenkstätte in Betracht gezogen, die zugleich der öffentlichen Verarbeitung der Ereignisse dienen soll. Dieses Vorhaben wurde allerdings trotz des regen öffentlichen Interesses nie umgesetzt.

Öffentliches Interesse

Durch ihre Live-Berichte und Interviews boten die Medienvertreter den beiden Verbrechern ein öffentliches Podium in bis dahin nicht gekannter Form. Das sensationsgierige Verhalten der Presse rief in der Öffentlichkeit Empörung hervor. Auch die Polizei-Taktik wurde heftig angegriffen. Den Einsatzleitungen wurden schwere Organisationsfehler und psychologisches Ungeschick vorgeworfen. Der Bremer Innensenator Bernd Meyer trat wegen polizeilicher Fehler zurück.

Das Verhalten der Journalisten in Bremen wurde zum damaligen Zeitpunkt unterschiedlich bewertet. Aufgrund der chaotischen Situation gelang es Journalisten, die Freilassung von fünf Geiseln zu erreichen. Auch die Freilassung der beiden Bankangestellten auf der Raststätte Grundbergsee erreichten Journalisten durch ein Gespräch mit Rösner.

Journalisten brachten den von Degowski im Bus angeschossenen, bereits verblutenden Emanuele zum Notarzt. Allerdings hielten die Reporter den herabhängenden Kopf des schwerverletzten Jungen noch einmal fotogerecht in die Kamera.

Journalisten verhinderten immer wieder, dass Polizisten die Täter fassen konnten. Die Medien trugen einen erheblichen Teil der Schuld am Tod der Geiseln.

Wegen des Fehlverhaltens der Journalisten während des Geiseldramas hat der Deutsche Presserat am 7. September 1988 festgestellt, dass es „Interviews mit Geiselnehmern während des Geschehens nicht geben darf“ und es „nicht die Aufgabe von Journalisten sei, eigenmächtig Vermittlungsversuche zu unternehmen“, und den Pressekodex entsprechend erweitert.

Künstlerische Verarbeitung

  • Eine Dark-Wave-Gruppe benannte sich nach Silke Bischoff. Heute nennt sie sich aufgrund von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Gründungsmitgliedern 18 Summers, was sich auf das Alter von Silke Bischoff zum Zeitpunkt ihrer Tötung bezieht.
  • Der Film Terror 2000 von Christoph Schlingensief entstand in Anlehnung an das Gladbecker Geiseldrama.
  • Der von ARTE und ZDF 1999 ausgestrahlte Fernsehfilm „Ein großes Ding“ (von Bernd Schadewald) stellte in einer Mischung aus Reality und Drama die Ereignisse der Geiselnahme dar.
  • Mitte der 1990er Jahre entstand für den Sender RTL ein aufwändiges Doku-Drama über die Ereignisse, wobei auch direkt Beteiligte zu Wort kamen.
  • Im Liedtext von „Hier“ auf dem ersten Album „Wichtig“ der Hamburger Gruppe Die Sterne ist vom sogenannten "Rösner-Degowski-Syndrom" die Rede.
  • Die deutsche Hardcore-Punk-Band Hammerhead setzte ein Foto der Gladbecker Ereignisse auf das Cover ihres Debütalbums „Stay Where The Pepper Grows“.
  • Mike Oldfield sampelte ein kurzes Stück aus einem Radiobericht über das Geiseldrama für sein Lied „Hostage“ (auf dem Album Earth Moving).
  • Die 2003 ausgestrahlte Folge „Amok!“ der im ZDF ausgestrahlten deutschen Polizeifilmreihe Nachtschicht weist im Finale einige Parallelen auf.
  • Die deutsche HipHop-Band Äi-Tiem hat einen Track mit dem Titel "Gladbeck" auf den Alben "Wenn hier einer schießt dann bin ich das" und "Murphys Gesetz" veröffentlicht, der sich mit diesem Thema beschäftigt.