Anstand bezeichnet gute Sitte bzw. ein schickliches Benehmen, dessen Zweck in der Zügelung des individuellen Hochmuts besteht. Mit Anstand als Einstellung und als Verhalten respektiert der anständige Mensch die Persönlichkeit des Gegenübers und achtet darauf, dass sein Gegenüber nicht bloßgestellt oder benachteiligt wird.
Umdeutung und Instrumentalisierung der Begriffes
Gemeinsam mit anderen dem Gebiet der Moralphilosophie zugeordneten Begriffen ist der Begriff Anstand aufgrund verbreiteter Unkenntnis seines Bedeutungsgehalts leicht instrumentalisierbar, umdeutbar und dem Missbrauch preisgegeben, insbesondere wenn er sich gleichsam als maskierter Hochmut darstellt, obwohl er diesen ja eigentlich zu zügeln sucht. Nicht selten bezeichnen sich Menschen selbst gegenüber anderen als anständig, obwohl sie in Wahrheit dadurch nichts anderes zum Ausdruck bringen wollen, als dass sie die Lebens- und Verhaltensweisen eines Gegenübers zutiefst verachten. Wahrer Anstand ist demgegenüber niemals wertend oder gar belehrend, sondern im Gegenteil von überlegter Zurückhaltung geprägt.
Der Begriff hat insbesondere seit der 68er Bewegung vermehrt eine negative Konnotation erfahren. Im Gegensatz zum Begriff Fairness wird hier auch Angepasstheit, Konformismus, unkritische Loyalität zum Staat, fehlende Zivilcourage, Untertanenverhalten und biedermeierliches Spießertum assoziiert. Diese Untertanenmentalität wird seitdem immer wieder kritisiert, auch als Wegbereiter totalitärer Systeme, da der (in diesem Sinne) anständige Bürger keinen Widerstand leiste, sondern sich brav unterordne, gleichgültig, was die Obrigkeit fordert. Um diese Konnotationen zu vermeiden werden stattdessen oft Begriffe wie respektvolles Verhalten, Fairness oder ähnliches verwendet.
Andererseits kann gerade Anstand auch die Grundlage von Widerstand sein. Ein Beispiel war der Aufruf zum „Aufstand der Anständigen“[1] nach Anschlägen auf Synagogen. Viele Beispiele zu auf Anstand basierendem unaufgefordertem Widerstand gab es auch in der Geschichte und gibt es in der Gegenwart, hier insbesondere in der Wirtschaft (Whistleblower). Der Begriff des „Widerstandes der Anständigen“ kann aber auch als Instrument zur reaktiven Abwertung[2] Andersdenkender missbraucht werden. Beispiele für bis zur Militanz reichende Instrumentalisierungen gibt es in vielen Bereichen, unter Anderem in den Debatten um Abtreibung, um Globalisierung und um Homosexualität.
Darüberhinaus wird Anstand nicht selten auch in totalitären Regimen (Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus), nationalistischen und religiös-fundamentalistischen Bewegungen als nebensächlich resp. „(klein-)bürgerlicher Krimskrams“ eingestuft, der die „gute Sache“ nur behindere oder wird in einem eingeschränkten Sinne dann als kultivierte Umgangsform nur für die und innerhalb der bevorzugten Bevölkerungs- und Glaubensgruppen respektive Herrschaftsschichten zur Anwendung gebracht, um die „äußeren Formen“ und den Anschein zu wahren (Anschein statt Anstand).
Zwar vereinfacht Anstand als Vertrauensgrundlage das Leben der Menschen, aber gleichzeitig führt die Verletzbarkeit und Missbrauchbarkeit des Begriffes zu einer Vielzahl von Widersprüchen. Des Einen Unanständigkeit ist des Anderen Anständigkeit. Außerdem ist Anstand nicht statisch, sondern Anstand verändert Anstand: „Umwertung aller Werte: das ist meine Formel für den einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit... Mein Los ist, dass ich der erste anständige Mensch sein muss, der sich gegen die Verlogenheit von Jahrzehnten im Gegensatz weiß...“ meinte beispielsweise Friedrich Nietzsche (Ecce Homo, 1888) als einer der Vielen sich zwischen Maßfindung und Anmaßung bewegenden Vertreter der gleichzeitig Anständigen und Unanständigen.
Humanismus
Vertreter eines Anstandsbegriffs im humanistischen Sinne verweisen darauf, dass diese oben als kultiviert bezeichneten Umgangsformen nicht Anstand in dem von ihnen verstandenen Sinne seien: wie sollten auch Kriegsplanungen, Pogrome, Kreuzzüge, politische, ethnische oder religiöse Repression und entsprechende „Säuberungen“ mit den nachfolgenden Folterungen und Massenmorden bis hin zu Genozid, Klassenvernichtung (z.B. die Vernichtung der Großbauernschaft („Kulakentum“) in der Sowjetunion unter Stalin oder in Rot-China unter Mao Tse Dong) oder der faschistische Holocaust am europäischen Judentum „erfolgreich“ bis zum bitteren Ende mit Anstand in dieser humanistischer Bedeutung bewerkstelligt werden? Anstand, Fairness, Toleranz, Gerechtigkeitssinn und Mitgefühl in ihrer universalen Dimension, die alle Menschen in ihrer kreativen Verschiedenartigkeit anerkennt und sie ebenso wie die gesamte Schöpfung als schützenswert umgreift, werde von diesen Bewegungen verteufelt, unterdrückt und verfolgt.
Anstand und Wirtschaft
Eine Wiederbelebung erfährt der Begriff Anstand in den letzten Jahren in der Wirtschaft[3]. Hier wird versucht, eine stärkere Normierung und Einhaltungskontrolle (Compliance) von Spielregeln einzuführen, an die sich ein Unternehmen halten muss. Ein Grund dafür ist, dass viele große Unternehmen heute mehreren unternehmensfremden und global verstreuten Anteilseignern gehören. Das erfordert eine höhere Transparenz und eine weitergehende Offenlegung von unternehmensinternen Vorgängen, als dies bei Privatunternehmen der Fall ist. Konkrete Vorgänge in der deutschen Industrie zeigten, dass Vorstände trotz hervorragender wirtschaftlicher Erfolge ihrer Unternehmen zurücktraten, wenn auch nur der Verdacht eines unanständigen Verhaltens aufkam.
Die konkrete Bedeutung von Anstand für die Wirtschaft liegt darin, dass Anstand die Grundlage von Vertrauen ist. Vertrauen reduziert die Komplexität des zwischenmenschlichen Umgangs[4]. Damit vereinfacht Anstand wirtschaftliches Handeln. Spieltheoretisch hat Anstand eine Bedeutung bei wiederholten und fortgesetzten Spielen: Bei jedem Spiel wird sowohl um Nutzfunktionen gespielt (das eigentliche Spiel) wie auch um Spielregeln (Metaspiel[5]). Einigen sich die Spieler im Metaspiel auf ein von ihnen als anständig eingestuftes Verhalten, dann reduziert sich die Komplexität des Spiels, denn die Spieler können sich in Folgespielen (z.B. in Verhandlungen) auf das Spiel um die Nutzfunktionen konzentrieren.
Das bewusstere Herangehen an das Thema Anstand in der Wirtschaft ist auch eine Folge der verschiedenen Globalisierungsperioden[5], in denen Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zunächst für ihr wirtschaftliches Handeln sich Spielregeln erarbeiten musste, deren Einhaltung (Compliance) eine ausreichende Zuverlässigkeit im Umgang miteinander ermöglicht. Die intensive Globalisierungsperiode im 19. Jahrhundert war dabei noch durch eine stark asymmetrische Kräfteverteilung der Spieler geprägt (Kolonialismus). In den Wertedebatten der gegenwärtigen Globalisierungsphase spielen die tatsächlichen und vorgeblichen Anstandsregeln großer Schwellenländer eine zunehmend bedeutendere Rolle - bis hin zu dem Bestreben[6], historische Asymmetrien umzukehren.
Quellen
- ↑ Hagalil: Bundeskanzler Schröder und der Aufstand der Anständigen, 2005-05-23
- ↑ Günter Bierbrauer, Sozialpsychologie, 2005, ISBN 3-17-018213-7
- ↑ brand eins: Ohne Rücksicht auf Verluste, Schwerpunkt: Anstand & Kapitalismus, 2007-06
- ↑ Niklas Luhmann: Vertrauen - Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 1968, ISBN 3-8252-2185-7
- ↑ a b Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter - Neue weltpolitische Ökonomie, 2002, ISBN 3-518-41362-7
- ↑ Mahatir bin Mohamad als Premierminister von Malaysia: „Asiatische Werte sind universell, und europäische Werte sind europäisch.“ (asiatisch-europäische „Gipfelgespräche“, März 1996, Bangkok)