Alpenüberquerung






Unter Alpenüberquerung versteht man die Überquerung des Alpenhauptkamms. Die Alpen als ‚natürliches Hindernis‘ zwischen Mittel- und Südeuropa einerseits, West- und Osteuropa anderseits machten und machen Überquerungen des zwischen 150 und 250 Kilometer breiten Gebirges aus wirtschaftlichen, militärischen, religiösen und touristischen Gründen auf Transitwegen notwendig. Daneben gibt es Alpenüberquerungen als ‚Selbstzweck‘ zu Fuß, beritten, mit Fahrrad, Segelflugzeug, Ballon im Rahmen der Freizeitgestaltung.
Alpenüberquerung aus wirtschaftlichen Gründen
Handel
Handelswege über den Alpenhauptkamm sind seit der Bronzezeit nachgewiesen, wobei einzelne Funde den Warenaustausch zwischen Nord- und Südeuropa bereits in der ausgehenden Jungsteinzeit (Neolithikum) belegen. Auf schmalen Saumpfaden wurden die Waren anfangs mit ‚Kraxn‘ von Menschen getragen, später meist durch Saumtiere befördert. Wichtige Verbindungswege in vorrömischer Zeit waren unter anderem der Col de Montgenèvre, der Grosse Sankt Bernhard, der Splügenpass, der Reschenpass und die Bernsteinstraße von der Ostsee über die Julischen Alpen zur Adria. Einige der unbefestigten Saumpfade über die Alpen wurden während des Römischen Reichs aus militärischen Gründen zu Straßen ausgebaut, was nachfolgend auch dem Handel zugute kam.
Etwa ab dem 12. Jahrhundert gewannen zunehmend (meist schon aus vorrömischer Zeit bekannte) sogenannte Salzstraßen als wichtige Handelsrouten im alpenquerenden Nord-Süd- und West-Ost-Transitverkehr an Bedeutung. Auf ihnen wurde Salz zum Beispiel aus Salinen im Rhônedelta in die oberitalienischen Metropolen und von dort weiter in die Schweiz befördert. Durch die Hoheit über wichtige Pässe entlang dieser Salzstraßen vergrößerte sich der Einfluss kleiner Passstaaten. So ließ der Markgraf Ludwig II. von Saluzzo bereits zwischen 1475 und 1480 den ältesten Tunnel der Alpen, den Buco di Viso, bauen, um die Strecke zwischen der Provence und der Poebene besser passierbar zu machen.
Steigendes Verkehrsaufkommen, auch im Postdienst, führte zum Ausbau weiterer Pässe. Der Gotthardpass (durch Bau der ‚Teufelsbrücke‘) und der Brennerpass (durch Bau des ‚Kunterweges‘) gewannen zunehmend an Bedeutung. Dabei folgte die Art der Fortbewegung (zu Fuß; auf Saumtieren; in Karren, Pferdewagen, Kutschen; Eisenbahn und Auto) leicht zeitversetzt wegen der schwierigen topographischen Bedingungen dem jeweiligen technischen Fortschritt.
- Siehe zu alpenüberquerenden Eisenbahnlinien: Brennerbahn ab 1867 , Mont-Cenis-Linie (Adhäsionsbahn) von 1868 bis 1871, Lyon - Turin ab 1871, Gotthardbahn ab 1882, Simplonroute ab 1906, Tauernbahn ab 1909, Cuneo - Ventimiglia ab 1928.
- Siehe zu aktuellem Alpentransit auch: Alpentransitverkehr, Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), diverse Bauvorhaben wie der Brennerbasistunnel und der Mont-Cenis-Basistunnel im Rahmen der Transeuropäischen Netze
Alpwirtschaft
Saisonal betriebene Alpwirtschaft auf Weiden, die oft mehrere Hundert Kilometer vom Winterquartier entfernt lagen (siehe auch: Transhumanz), ist seit der Bronzezeit belegt, hat aber gegebenenfalls noch ältere Ursprünge. Dabei waren Alpenüberquerungen keine Seltenheit, wie etwa zwischen Nord- nach Südtirol und umgekehrt (siehe auch Ötztal und Vinschgau) und zwischen Provence und Poebene, wie Felsgravuren im französischen Mercantour-Nationalpark (Seealpen) belegen.
Alpenüberquerung aus militärischen oder strategischen Gründen
Die legendärste Alpenüberquerung aus militärischen Gründen gelang 218 v. Chr. dem Karthagerführer Hannibal, der während des Zweiten Punischen Krieges mit circa 50.000 Soldaten, 9.000 Reitern und 37 Kriegselefanten auf einem bis heute nicht genau zu bestimmenden Pass[1] die winterlichen Alpen überschritt, um Rom einzunehmen.
Durch den Gallischen Krieg expandierte danach das Römische Reich in Regionen jenseits der Alpen und befestigte dazu, beginnend in den Westalpen, einige alpenüberschreitende Wege:
- durch die Seealpen (via per Alpes maritimas) führte die Via Iulia Augusta,
- durch die Cottischen Alpen (via per Alpes cottias) wurde die Passstraße über den Col de Montgenèvre ausgebaut,
- duch die Grajischen Alpen (via per Alpes graias) die über den Kleinen Sankt Bernhard,
- durch die Walliser Alpen (via per Alpes Poeninas) die über den Großen Sankt Bernhard,
- in den Bündner Alpen die Straßen über den Splügen- und den Julierpass,
- in den Ostalpen auf der Via Claudia Augusta die Straßen über Reschen- und später Brennerpass
- und in den Julischen Alpen (via per alpes Iulias) die Bernsteinstraße.
Seit dieser Zeit war für alle Herrscher, die eine Vormachtstellung in Europa anstrebten, die Möglichkeit zur schnellen Verlegung von Truppen über die natürliche Barriere des Alpenhauptkammes von entscheidender Bedeutung. Das gilt für Karolinger (Pippin der Jüngere 754 und 756, Karl den Großen 773), Kaiser des Heiligen Römischen Reichs (wie Heinrich IV. 1077 auf seinem Gang nach Canossa und nochmals 1092 und Heinrich (VII.) 1310 auf seinem Zug nach Rom) wie für Napoéon I., der dafür viele Pässe in den Westalpen (Simplonpass 1801 – 1805, Mont Cenis 1803 - 1810) ausbauen ließ.
Im gesamten Alpenraum besteht heute noch ein weit gespanntes Netz von ehemaligen Militärstraßen, von denen viele im Vorfeld des Ersten Weltkrieges angelegt und später unter Mussolini ausgebaut wurden. Einige dieser Militärstraßen überqueren auch den Alpenhauptkamm.
Alpenüberquerung aus religiösen Gründen
Wallfahrten zum Zweck des Besuches einer bestimmten Pilgerstätte mit religiöser Bedeutung führten seit Begründung des Christentums zu Überquerungen der Alpen. Die erste Beschreibung einer derartigen Reise eines anonymen Pilgers aus Burdigala, dem heutigen Bordeaux, anlässlich einer Reise ins Heiliges Land in den Jahren 333–334 verfasst, findet sich im Itinerarium Burdigalense. Dieser Weg führte über Reste des römischen Straßennetzes via Mont Cenis und Turin bis zum Zwischenstop nach Rom. Durch das Susatal zogen Pilger aus Italien auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela, wählten dann einen der beiden Alpenübergänge am Montgenèvre oder am Mont Cenis, wo die Franken nach der Niederwerfung der Langobarden die Abtei von Novalesa 726 zum Schutz der Pilger errichtet hatten. In umgekehrter Richtung wurde die Route von Pilgern aus Südfrankreich und Spanien auf ihrem Weg nach Rom und Jerusalem benutzt. Aus Nordeuropa und England wurde auch die Route über den Großen St.Bernhard gewählt, die durch Sigerich, den Erzbischof von Canterbury, 994 beschrieben wurde. Obwohl viele Wege von Franken nach Rom belegt sind, hat sich der Name Via Francigena für diese beschriebene Strecke von Canterbury nach Rom eingebürgert.
Die Hospize am Grossen Sankt Bernhard und am Kleinen Sankt Bernhard sollen Mitte des 11. Jh. gegründet worden sein. Die erste Quelle über die Benutzung des zu dieser Zeit schon gut ausgebauten Saumweges über den Gotthardpass stammt von dem Abt Albert von Stade aus dem Jahr 1236, der den Weg in seiner Weltchronik Annales Stadenses beschrieb. In dieser Chronik wurde auch bereits der Weg über den Brenner aufgeführt.
Besonders stark begangen wurden Pilgerrouten über die Alpen zu Heiligen Jahren.
Im Jahre 1994 hat das 'European Institute of Cultural Routes' auf Antrag des italienischen Tourismusministeriums den Pilgerweg von Canterbury nach Rom als ‚Europäische Kulturstraße‘ deklariert.
Alpenüberquerung aus touristischen Gründen
Entlang alter Pilgerwege entstanden Beherbungsbetriebe, die später auch Reisenden ohne religiöse Motive Unterkunft boten. Die Besichtigung antiker Stätten in Italien hatte in Kreisen der Künstler und Intellektuellen bereits seit dem Spätmittelalter Tradition. Ihr Weg führte dazu zwangsläufig über die Alpen. Auf eine Grand Tour genannte Reise wurden ab Ende des 17. Jahrhunderts Adlige und Angehörige des vermögenden Bürgertums zum Abschluß ihrer Erziehung geschickt, die ihnen bei der Besichtigung von bedeutenden Baudenkmälern und ‚pittoresken Landschaften‘ den „letzten Schliff“ vermitteln sollte.
Albrecht von Hallers 1729 erschienenes Gedicht ‚Die Alpen‘ verklärte die Bergwelt und ihre Bewohner wie Jean-Jacques Rousseaus Roman ‚Julie et la Nouvelle Héloïse‘, was ihre Leser veranlasste, sich dieses Paradies anzuschauen.
Der schottische Arzt und (Reise-)Schriftsteller Tobias Smollett beschrieb seine Reise von Nizza über den Col de Tende nach Turin 1765 in aller Ausführlichkeit in „Journeys through France and Italy“. Dagegen fiel die Beschreibung Johann Wolfgang von Goethes, der im September 1786 den Brennerpass auf seiner Reise nach Italien passierte, eher karg aus.
Siehe dazu auch: Alpentourismus
Alpenüberquerungen als Freizeitbeschäftigung
Alpenüberquerungen zu Fuß
Es gibt für Wanderer eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Alpenhauptkamm auf Fernwanderwegen zu überqueren, darunter
- die Strecke von Oberstdorf nach Meran, die auch in den Europäischen Fernwanderweg E5 eingebunden ist.,
- die Strecke von München nach Venedig
- der Trans Swiss Trail von Porrentruy nach Chiasso
- der Trans Swiss Trail von Rorschach nach Genf und
- auf einzelnen Streckenabschnitten des internationalen Fernwanderweges Via Alpina zwischen Frankreich und Italien.
Alpenüberquerung mit dem Fahrrad
Die Überquerung der Alpen mit dem Reiserad, dem Rennrad oder dem Mountainbike wird auch als 'Transalp' bezeichnet.
Siehe dazu Hauptartikel: Transalp
Alpenüberquerung mit Segelflugzeug oder Ballon
Die Flugrouten führen im Regelfall über jene Alpenpässe, die von Norden oder Süden möglichstr direkt zugänglich sind. Dazu gehören der Brennerpass und – landschaftlich noch beliebter – der Malojapass.
Siehe dazu: Segelflug, Dreiecksflug, Ballonfahrt
Diskurs: Alpendurchquerung Ost-West
Der Begriff ‚Alpenüberquerung‘ (oder Alpentraversierung) wird mittlerweile auch für die ‚Durchquerung‘ des gesamten circa 1.200 Kilometer langen Alpenbogens in Längsrichtung verwendet, wie sie beispielsweise Karl Lukan 1984 von Wien nach Nizza wandernd unternahm, oder Patrick Berhault 2000/ 2001 als Aneinanderreihung 22 schwieriger Gipfelbesteigungen zwischen Triglav und Menton. Ein Fernwanderweg, der die gesamten Alpen durch alle sieben Alpenländer von Triest nach Monaco durchquert, ist der ‚rote Weg‘ der Via Alpina.
Literatur
- Gerold Walser, Die militärische Bedeutung der Alpen in der Antike, in: Krieg und Gebirge, Schweizerische Vereinigung für Militärgeschichte, Editions Gilles Attinger, Hauterive, 1994
Anmerkungen
- ↑ Die römischen und griechischen Überlieferung sind nicht sehr präzise (die Passhöhe war mit einem großen Heer binnen neun Tagen von der Rhône erreichbar/ auf der Passhöhe steht ausreichend Platz für ein großes Heerlager zur Verfügung/ von der Passhöhe ist ostwärts Turin zu erkennen und in drei Tagen erreichbar/ der Abstieg ist sehr steil). Zudem gab es bisher an keinem der anfangs 20 Pässe, die in die nähere Auswahl kamen, entsprechende Funde. In jüngster Zeit wird, vor allem von Patrick Hunt, der Col de Clapier als der Pass genannt, auf den alle der o.a. Bedingungen zutreffen.