Orthographische Konferenz von 1901
Die Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung von 1901 wurde auf der Zweiten Orthographischen Konferenz in Berlin beschlossen und erfolgte auf der Basis des preußischen Schulregelwerks und des weit verbreiteten orthographischen Wörterbuchs von Konrad Duden. Von einer Rechtschreibreform kann man dabei nicht sprechen, da keine zuvor unüblichen, systematischen Neuregelungen vereinbart wurden, sondern ein in den deutschsprachigen Ländern (Länder des Deutschen Reiches, Österreich, Schweiz) offiziell anerkannter, einheitlicher Standard vereinbart wurde. Die dadurch standardisierte deutsche Rechtschreibung wurde mit nur sehr geringen Änderungen bis zur Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 einheitlich verwendet. Seitdem wird sie neben Varianten der reformierten Rechtschreibung auch weiterhin verwendet und zur Unterscheidung von diesen auch alte oder traditionelle deutsche Rechtschreibung genannt.
Vorgeschichte
Bestrebungen nach einer Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung hatten eine lange Vorgeschichte, artikulierten sich aber besonders deutlich nach der Reichsgründung im Jahr 1871. 1876 fanden in Berlin vom 4. bis zum 15. Januar „Verhandlungen zur Herstellung größerer Einigung in der Rechtschreibung“ statt, die vom preußischen Kultusminister Adalbert Falk initiiert wurden und als I. Orthographische Konferenz bekannt wurden. Die Ergebnisse wurden jedoch vom preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck abgelehnt, sodass es zunächst nicht zu einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Reich kam.
1879 gab Bayern ein eigenes orthographisches Regelwerk heraus. Auch in Österreich wurde ein eigenes orthographisches Regelwerk herausgegeben, das die Heysesche s-Schreibung verwendete. 1880 folgte Preußen mit einem eigenen Regelwerk, das von dem Germanisten Wilhelm Wilmanns, einem engen Vertrauten Konrad Dudens, für die preußischen Schulen entwickelt wurde (daher auch „Preußische Schulorthographie“ genannt) und sich kaum von dem bayrischen Regelwerk unterschied. Im gleichen Jahr veröffentlichte Konrad Duden auf der Grundlage dieser beiden Regelwerke sein Wörterbuch mit dem Titel „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache – Nach den neuen preußischen und bayerischen Regeln“, das etwa 27.000 Stichwörter enthielt und sich innerhalb eines Jahrzehnts zunächst in Deutschland und dann auch im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitete. 1892 wurde der sogenannte Duden als amtliches Wörterbuch in der Schweiz offiziell eingeführt. Damit war eine weitgehend einheitliche deutsche Rechtschreibung hergestellt. [1]
Zweite Orthographische Konferenz
Auf Einladung des Reichsinnenministers fanden vom 17.–20. Juni 1901 in Berlin „Beratungen über die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung“ statt, die als Zweite Orthographische Konferenz bekannt wurden. Dabei kamen 26 Bevollmächtigte der deutschen Länder und ein österreichischer Kommissar sowie Vertreter einiger Institutionen und des Buchgewerbes zusammen und berieten über die Normierung einer einheitlichen deutschen Orthographie. Neben Staatsbeamten nahmen einige wenige Fachleute teil, darunter Konrad Duden und Wilhelm Wilmanns, die auch schon bei der Ersten Orthographischen Konferenz dabei waren.
Beschlüsse
Es wurde Einigkeit darüber erzielt, die durch den Duden bereits etablierte weitgehend einheitliche deutsche Rechtschreibung nicht in Gefahr zu bringen und deshalb auf Änderungen zu verzichten, die das gewohnte Schriftbild wesentlich verändert hätten, wie sie bei der gescheiterten Ersten Orthographischen Konferenz geplant waren. Damit wurde der Duden als Grundlage der deutschen Einheitsschreibung bestätigt. Es wurden die nachfolgenden Beschlüsse gefasst, die aber keine Festlegung von neuartigen Schreibweisen waren, sondern eine Auswahl aus bereits üblichen Varianten.
- In heimischen Wörtern sollte das h nach t grundsätzlich fallen (Tal, Tür statt Thal, Thür). In Fremdwörtern wie Thron und Theater wurde die th-Schreibung beibehalten.
- Auslautendes ß in Wörtern auf -niß wurde zu -nis wie in Geheimnis, da diese Silbe nicht betont wird.
- Fremdwörter sollten konsequenter in das deutsche Schriftsystem integriert werden, was vor allem zur weitgehenden Ersetzung von c durch k oder z führte, je nach Aussprache und zum Teil unter Beibehaltung von Schreibvarianten (z. B. Akzent neben Accent, Redakteur statt Redacteur). Fremdwörter auf -iren sollten einheitlich mit -ieren geschrieben werden (z. B. regieren). Außerdem wurden einige Einzelwortschreibungen festgelegt (z. B. Literatur statt Litteratur, Affäre neben Affaire, Droge statt Drogue, Schal statt Shawl). Hinsichtlich der Fremdwortschreibung ging es den Teilnehmern der Kommission jedoch hauptsächlich um Vereinheitlichung, nicht um Vereinfachung.
- Regelungen auf Basis des phonetischen Prinzips (d. h. Anpassung der Rechtschreibung an die Aussprache) wurden außer bei der Schreibung von Fremdwörtern kaum umgesetzt.
- In vielen Fällen wurden Doppelschreibungen zugelassen (vgl. oben, außerdem z. B. Brennessel neben Brennnessel, Morgens neben morgens). Erst in den folgenden Jahren wurde die Zulassung mehrerer Schreibungen eingeschränkt, nicht zuletzt auch durch die Zusammenfassung des allgemeinen Dudens mit dem Buchdruckerduden 1915, den Konrad Duden 1903 erstmals veröffentlicht hatte.
- Zur Silbentrennung wurde festgelegt, dass pf und dt immer, nie jedoch st (in den Fällen, in denen nach den Regeln des Fraktursatzes ein langes s gesetzt wird) getrennt werden dürfen (z. B. kämp-fen, Verwand-te, lu-stig). Vorher durfte dt nicht getrennt werden, während pf und st nur getrennt werden durften, wenn ihnen ein Vokalbuchstabe voranging (z. B. trop-fen, aber käm-pfen; Verwan-dte; lus-tig, aber dur-stig).
- Ein weiterer Punkt waren Veränderungen, die die Verteilung von rundem und langem s betrafen.
- Zur Getrennt- und Zusammenschreibung und zur Zeichensetzung (Interpunktion) wurden keine Regeln formuliert.
Diese Beschlüsse wurden im Laufe des Jahres 1902 durch die Regierungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz in amtliche Regelungen umgesetzt.
Einstufung als Reform
Es wird unterschiedlich beurteilt, ob die Zweite Orthographische Konferenz von 1901 als eine Rechtschreibreform eingestuft werden kann, die als Präzedenzfall für die Rechtschreibreform von 1996 gelten kann, wie dies von Befürwortern der letztgenannten Reform gesehen wird. Der Reformkritiker Theodor Ickler schreibt dazu: »Die „Rechtschreibreform von 1901“ – eine Legende: Unter Fachleuten ist bekannt, daß die um 1900 übliche Rechtschreibung nach der Zweiten Orthographischen Konferenz (1901) keineswegs „reformiert“, sondern im Gegenteil gegen willkürliche Veränderungen unter staatlichen Schutz gestellt wurde. Das hat insbesondere Wolfgang Kopke in seiner hervorragenden Dissertation (1995) noch einmal genau nachgewiesen.« [2] Auch der ehemalige Reformer Horst Haider Munske stellt im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform von 1996 hierzu fest: „Diese Rechtschreibreform ist nach Art und Umfang der vorgesehenen Änderungen tatsächlich eine Reform, ein wesentlicher Eingriff in die Struktur der Schriftnorm des Deutschen. Und sie ist die allererste Rechtschreibreform in der deutschen Sprachgeschichte. Denn im Jahre 1901 war praktisch nur der geltende Usus sanktioniert worden. Deshalb genügte hierfür eine einmalige Konferenz von drei Tagen.“ [3]
Konrad Duden stellt im Vorwort zum Duden von 1903 (7. Aufl., S. IVf) fest: „wenn nämlich auch ihr [d. h. der entstandenen‚ deutschen Rechtschreibung‘] Hauptvorzug darin besteht, daß sie überhaupt da ist und allgemeine Gültigkeit hat [damit lobt er die geschaffene Vereinheitlichung], so hat sie doch auch, und zwar nicht nur gegenüber den vielen alten Orthographieen [sic!], sondern auch gegenüber der bisherigen Schulorthographie, nicht gering anzuschlagende Verbesserungen aufzuweisen. Dadurch, daß sie das th und das ph aus allen Wörtern deutschen Ursprungs beseitigt und ferner der Anwendung deutscher Lautbezeichnung, insbesondere des k und z statt des c, des sch statt des ch in den Fremdwörtern weitgehende Zugeständnisse gemacht hat, hat sie auf dem Wege, den die Entwicklung der deutschen Rechtschreibung seit Rudolf von Raumers Widerspruch gegen die Reformen der historischen Schule eingeschlagen und verfolgt hat, einen nicht unerheblichen Fortschritt gemacht. Indem ich von ‚einem Fortschritt‘ spreche, deute ich schon an, daß nach der Meinung derer, die an dem Zustandekommen der neuen, einheitlichen Rechtschreibung mitgearbeitet haben, jetzt keineswegs für alle Zeiten ein Stillstand eintreten soll.“
Siehe auch
Literatur
- Dieter Nerius (Hrsg.): Die orthographischen Konferenzen von 1876 und 1901. Reihe „Documenta Orthographica“, Abteilung B, Band 5. Hildesheim, Zürich, New York: Georg-Olms-Verlag, 2002. 332 S., gebunden. ISBN 3-487-11444-5.
- Johannes Meyer: Die Abweichungen der neuen von der alten Rechtschreibung nebst Übungsaufgaben, Diktaten und einem Wörterverzeichnis. Für den Schul- und Selbstunterricht bearbeitet... Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior), Hannover, Berlin, 6./7. Aufl. 1902.
Quellen
- ↑ Christian Stang. 125 Jahre Duden. Das »Volkswörterbuch« feiert Geburtstag. (Online, PDF, 709 kB)
- ↑ Theodor Ickler: Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform. Leibnitz-Verlag, St. Goar, 2004, ISBN 3-93115-518-8, S. 67 (Online, PDF, 1,9 MB).
- ↑ Eroms/Munske (Hg.): Die Rechtschreibreform: Pro und Kontra, Berlin, 1997, ISBN 3-503-03786-1, S. 154 f.