Gemeinschaft

Gruppe von Menschen oder anderen Lebewesen, die sich ihren Lebensraum teilen
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Unter Gemeinschaft (herrührend von dem Wort "gemein") versteht man die zu einer Einheit zusammengefassten Individuen (Gruppe), wenn die Gruppe emotionale Bindekräfte aufweist und ein Zusammengehörigkeitsgefühl (Wir-Gefühl) vorhanden ist.

Häufig wird das Wort auch benutzt, wenn die emotionalen Bindekräfte erst entstehen sollen, z.B. Europäische Gemeinschaften. Gelegentlich wird eine programmatische Aussage mit der Benutzung des Wortes getroffen.

Allgemeines

Die kleinste Gemeinschaft ist die Familie ungeachtet ihres rechtlichen Rahmens. An ihr wird bereits deutlich, dass Gemeinschaften aufgrund freier Willensentscheidung entstehen können (Ehepartner). Andererseits kann man ohne freie Willensentscheidung in eine Gemeinschaft hineingeboren werden (Kinder). Die Freiheit, aus einer Gemeinschaft auszutreten, kann unterschiedlich klein oder groß sein. Gelegentlich wird der Austritt aus der Gemeinschaft moralisch diskreditiert.

Neben den Extremen der freien Willensentscheidung und des hinein geboren Werdens gibt es in der Praxis viele Gemeinschaften, bei denen die freie Willensentscheidung so eingeschränkt ist, dass sie kaum wahrnehmbar ist, ohne dass man hineingeboren wird. Ein Beispiel hierfür ist die Klassengemeinschaft in der Schule. Auch Schicksalsgemeinschaften zählen zu den Gemeinschaften, etwa zunächst wildfremde Menschen, die einander auf Grund eines Unfalls z.B. im Rettungsboot über längere Zeit gegenseitig helfen.

Kriterien für Gemeinschaften sind:

  • Klare Festlegung der Zugehörigkeit und damit Abgrenzung zum "Rest der Welt"
  • Solidarität der Gemeinschaftsangehörigen untereinander (Primat des Gemeinschaftsinteresses vor dem Individualinteresse)
  • Emotionale Bindungskräfte (Wir-Gefühl)
  • Nicht nur kurzzeitige Existenz der Gemeinschaft
  • Vertrautheit der Gemeinschaftsangehörigen (gilt auch für anonyme Großgemeinschaften wie Völker)

Anmerkungen: Die klare Zugehörigkeit muss für Außenstehende nicht zwingend erkennbar sein. Es muss sich auch nicht um objektiv eindeutige Kriterien handeln. Wesentlich ist, dass die Gemeinschaftsmitglieder "wissen" (oftmals mehr spüren), wer dazu gehört und wer nicht. Oft werden Zugehörigkeitsmerkmale bewusst oder unbewusst künstliche geschaffen, etwa in Form von besonderen Kleidungsmerkmalen. Gelegentlich kommt es vor, dass Gemeinschaften Personen vereinnahmen, die gar nicht dazugehören wollen. Zum Beispiel wollen die Südtiroler keine Italiener sein, die Basken keine Spanier. Auch die Dauer einer Gemeinschaft kann strittig sein. Bei Familien kommt es vor, dass ein Teil (häufig die Kinder) die Gemeinschaft noch als existent sehen, während andere (hier die Ehepartner) sie als zerbrochen betrachten.

Grundsätzlich drücken Gemeinschaften mehr Zusammengehörigkeit aus als bloße Gesellschaften, bei denen die gemeinsame Interessensvertretung im Vordergrund steht.

Eine besondere Untersuchung über den grundsätzlichen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft stammt von dem deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) in "Gemeinschaft und Gesellschaft" von 1887 (viele Auflagen). Tönnies entwickelte darin den Ansatz, dass "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" beide den Gegenstand der (von ihm damit in Deutschland begründeten) "Soziologie" ausmachten. Beide sind ihm Formen sozialer Bejahung, wobei der Wille, sich als einen Teil eines Kollektivs zu sehen (sich selbst notfalls als Mittel, das Kollektiv als Zweck – der Wesenwille), "Gemeinschaften" ausmache – indes der Wille, sich eines Kollektivs als eines Mittels zum eigenen Nutzen zu bedienen (der Kürwille), "Gesellschaften" konstituiere. In der Reinen Soziologie der Begriffe schlössen also die Begriffe "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" einander aus (er nennt solche Begriffe Normaltypen); in der empirischen Welt, dem Feld der Angewandten Soziologie, erscheinen sie hingegen nach Tönnies immer gemischt. Als Sonderformen unterscheidet Tönnies dann zwischen den "Gemeinschaften des Blutes" ("Verwandtschaft"), "des Ortes" ("Nachbarschaft") und "des Geistes" ("Freundschaft").
In seinem Spätwerk Geist der Neuzeit wandte Tönnies diese Begriffe an und folgerte, dass im (europäischen) Mittelalter die "Gemeinschaft" die vorwiegende Anschauungsweise gewesen sei, in der man Kollektive verstanden habe, dass sich dies aber mit der Neuzeit zu Gunsten der Anschauung gewandelt habe, alle Kollektive eher als "Gesellschaft" zu verstehen.

Der französische Soziologe Émile Durkheim traf die berühmt gewordene Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität. Mechanische Solidarität beruht auf der Gleichheit der Kompetenzen der Mitglieder, "organische Solidarität" auf ihrer Unterschiedlichkeit. Mit "mechanischer Solidarität" wird die Unterscheidung nach außen deutlicher ("Wir Arbeiter", "Wir Deutschen", "Wir Frauen"), während in der organischen Solidarität die gegenseitige Ergänzung (Arbeitsteilung) zu einer Einheit deutlich wird (Mann und Frau in der Familie, verschiedene Spezialisten in der arbeitsteiligen Volkswirtschaft). Dauerhafte Gemeinschaften haben sowohl mechanische als auch organische Elemente.

Der deutsche Soziologe Max Weber erörtert, an Tönnies angelehnt, "Vergemeinschaftung" in Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Kommunitarismus-Diskussion, ausgehend von den USA, benutzt vergleichbare Auffassungen von Community, ohne die "Gemeinschafts"-Diskussion in der europäischen Soziologie nennenswert rezipiert zu haben.

Besondere Gemeinschaftsformen

Ferdinand Tönnies nennt als typisch Verwandtschaft, Nachbarschaft (der Begriff ist bei ihm vom Dorf bis hin zur griechischen Polis anwendbar) und Freundschaft.

Religionsgemeinschaften, vor allem Ordensgemeinschaften sind im tönnesianischen Sinn in ihrem Selbstbild stark "gemeinschaftlich"; der Einzelne opfert sich dem Kollektiv bis hin zum Martyrium. Doch über kurz oder lang 'vergesellschaften' sie sich (vgl. auch Max Webers "Vergesellschaftung").

Bei Sportgemeinschaften wird das füreinander Eintreten im Mannschaftssport besonders wahrnehmbar. Bei Extremsportarten wie Bergsteigen wird die Verlässlichkeit der Gemeinschaftsmitglieder zu einem wesentlichen Element.

Die Volksgemeinschaft wurde zu Beginn des ersten Weltkriegs als Schlagwort für den Zusammenhalt der Nation beschworen, als Kaiser Wilhelm II. proklamierte: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." In der Weimarer Republik stritten sich die Parteien um den Begriff. Noch 1933 sprach Otto Wels in seiner berühmten Rede gegen das Ermächtigungsgesetz davon, dass die SPD die wirkliche Volksgemeinschaft wolle. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Idee der Volksgemeinschaft Teil einer politischen Beschwörungsformel, mit der Hitler Deutschland in den 2. Weltkrieg führte und den Holocaust rechtfertigte.

Wirtschaftliche Gemeinschaften wie z.B. die Gemeinschaft Dämmstoff Industrie haben meistens nur das Wort im Namen und sind meistens reine Interessensvertretungen. Zumindest bei der Gründung war aber i.a. der Gedanke dabei, dass man ein Gemeinschaftsgefühl aus gleichartiger Tätigkeit und eine Solidarität der Mitglieder schaffen könne.

Wissensgemeinschaften sind Netzwerke von Erfahrungsträgern und Interessierten an einem Wissensgebiet, z.B. Projektmanagement. Sie wollen Wissen in diesem Gebiet teilen und weiterentwickeln, z.B. mit Methoden und Lösungen des Wissensmanagements. Typische Wissensgemeinschaftsformen sind das Expertennetzwerk (Community of Practice) , die Nutzergemeinschaft, z.B. eines Produkts, oder betriebliche Organisationsformen wie Organisationseinheiten und Teams.

Die Versicherten-Gemeinschaft empfindet im allgemeinen wenig Solidarität, aber dennoch handelt es sich um eine Solidargemeinschaft. Allerdings ist der Gedanke meist verlorengegangen, dass z.B. eine Brandversicherung nichts anderes bedeutet, als dass die Masse der Nicht-Brandgeschädigten (durch ihre Beiträge) den Brandgeschädigten unterstützt.

Lebensgemeinschaften aller Art sind auf die gesamte Dauer des Lebens angelegt. Neben der Ehe und der Lebenspartnerschaft zählen dazu beispielsweise religiöse Orden, auch "Lebensbünde" (vgl. - auch generell - den "Bund"), von Burschenschaften, Corps, Sängerschaften, Turnerschaften u.a. Verbindungsstudenten. Hier sind auch faktische Zwangsgemeinschaften auf Lebenszeit auffindbar, z.B. Geheimdienste.

Literatur

Lars Clausen, Gemeinschaft, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorf, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart (Lucius & Lucius) ²2002, S. 183-185, ISBN 3-8282-0172-5

siehe auch: Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, 1935, 2. Aufl. 1998 im Rahmen der kritischen Ferdinand-Tönnies-Gesamtausgabe