Das Haus – House of Leaves (amerikanischer Titel House of Leaves) ist das Erstlingswerk des us-amerikanischen Autors Mark Z. Danielewski. Das Original erschien am 7. März 2000, nachdem es zuvor einige Zeit im Internet kursierte; die deutsche Übersetzung von Christa Schuenke kam im August 2007 im Verlag Klett-Cotta heraus. Der Roman ist vordergründig eine Horrorgeschichte, tatsächlich aber ein vielschichtiger, nicht-linearer postmoderner Roman, in dem sich mehrere Ebenen ineinander verlagern und miteinander in Beziehung treten, inhaltlich wie stilistisch Hypertext und Labyrinth. Äußerlich ist das sichtbar in der Typographie (verschiedene Schrifttypen für unterschiedliche Erzählerstimmen), durch Layout (auf einzelnen Seiten finden sich nur wenige Wörter, die wie in der konkreten Poesie den Inhalt widerspiegeln - auf anderen kippt der Text, ist gespiegelt, steht auf dem Kopf, zieht sich wie durch einen Korridor über die Seiten hinweg usw.) Besonders stellen zahlreiche Fußnoten einen Bezug zu reellen wie fiktiven Quellen her und vernetzen den Roman in einem Bedeutungskontext, der weit über das hinausreicht, was im Buch geschieht: Wer jeder dieser Fußnoten sowie Fußnoten der Fußnoten folgt, verirrt sich im Labyrinth der Verweise. So ist die Form des Buches ein strukturelles Abbild der Handlung.
Handlung
Will Navidson, Dokumentarfotograf und Pulitzer-Preis-Trägers, zieht sich, um der Entfremdung von seiner Frau entgegenzuwirken, mit seiner Familie in ein Haus in stiller Umgebung zurück und beabsichtigt, diesen Neuanfang in einem Dokumentarfilm festzuhalten. Der Frieden wird schnell irritiert, denn im Haus erscheint wie aus dem Nichts eine Kammer, die zuvor nie da gewesen ist; innen und mit genauesten technischen Hilfsmitteln gemessen ist das Haus um einige Millimeter größer als außen, und an der Außenwand öffnet sich ein Korridor, der vom Garten aus gesehen nicht existiert, im Inneren aber in ein lichtloses eiskaltes Labyrith von unermesslichen, sich immer wieder verschiebenden Dimensionen führt. Das Verhältnis zwischen Navidson und seiner Gefährtin, sowie die gefährlichen Erkundungen der Hallen und Gänge mit Hilfe von vier weiteren Abenteuern mit all seinen Katastrophen ist Gegenstand des "Navidson Record" - der Kernerzählung des Romans.
Die zweite Stimme ist die des Zampanò (Schrifttyp Times), eines alten Blinden mit im Dunkeln liegender Vergangenheit, die vermutlich bis nach Indochina führt. Zampanò hat den "Navidson Record" untersucht und analysiert und darüber eine geistreiche und belesene Abhandlung teilweise auf Zetteln und zerfetzten Bruchstücken in einer Truhe hinterlassen, das alles in einer sachlichen aber trotzdem engagierten Sprache. Er selbst ist auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen, von etwas Unheimlichen heimgesucht, an den Dimensionen des ihn umgebenden Raumes zweifelnd. Aus seinen Aufzeichnungen erfährt der Leser etwas über die mythologischen Bedeutung des Phänomens Labyrinth, er unternimmt mit ihm einen Ausflug bis in die tiefsten Schichten der Architekturgeschichte, ja sogar der geologischen Zeitgeschichte, mit Hunderten von Beispielen, die in die Literatur, Bildende Kunst, Fotografie, Philosophie und Psychologie deuten.
Die Truhe gerät in die Hände des jungen Johnny Truant (Schrifttyp Courier), eines Herumtreibers, der sein Geld in einem Tätowier-Studio verdient und die Zeit mit Sex und Drogen herumbringt. Die Hinterlassenschaft des alten Mannes, die er für die Publikation in Odnung bringt, übt eine zunehmende zerstörerische Wirkung auf Johnny aus; er sieht sich gewaltsamen und klaustrophobischen Phantasien und Anfällen ausgesetzt, verwahrlost, schottet sich ab, schluckt Pillen; misst den Raum, in dem er sich aufhält, mit Maßbändern aus, und hat Visionen, deren Ursprung nicht nur in der Vergangenheit, sondern womöglich sogar in der Zukunft liegen. Johnnys Sprache ist der Slang, aber trotz seiner mangelnden Bildung fühlt er sich in die wissenschaftliche Ausdrucksweise des Alten hinein, und in seinen finstersten Visonen erhöht er seine eigenen Worte in die Sprache der Dichtkunst. Formal löst Danielewski das Nebeneinander der Stimmen, indem Johnny seine eigene Erzählung in den Fußnoten mitlaufen lässt.
Auf einer weiteren Ebene gibt es die Stimme des Herausgebers - wieder mit einer eigenen Typo markiert. Ihm kommt die Aufgabe zu, Unklarheiten zu kommentieren und Informationen zu vervollständigen.
Im Anhang des Buches folgt Ergänzungsmaterial, mit den sogenannten Pelikan-Gedichte sowie weiterer Lyrik, deren Urheber unbekannt ist, außerdem Collagen, Textfragmente, Zeichnungen, Fotos, "Beweismaterial" usw. Einen besonderen Raum nehmen die Briefe von Johnnys Mutter Pelafina (Schrifttyp Dante) ein, die sie ihm aus dem Irrenhaus geschrieben hat.
Bedeutungen des Labyrinths
Die Abhandlung Zampanòs mit seinen über 400 Fußnoten bietet zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten an, die die Arbeit von literaturwissenschaftlicher Analyse an dem Buch Das Haus – House of Leaves vorwegnehmen. Das Labyrinth ist zunächst lediglich Selbstzweck, nämlich unheimliches und sehr effektvolles Setting für eine intelligente Horrorgeschichte. Es wird aber schnell klar, dass das Labyrinth mit seiner ausufernde Komplexität und Gefahr in unmittelbarer Beziehung zu seinen Besuchern (besonders Will Navidson) steht und sich durch die verschiedenen Textschichten hindurch auf die Figur des Johnny und sogar auf dessen Mutter Pelafina auswirkt. Navidson hat einen Einfluss auf die Dimensionen des Labyrinths: scheint es zunächst bodenlos zu sein, erreicht er bei einer anderen Erkundung den Grund schon nach wenigen Metern, denn er hat gelernt, dass es tatsächlich einen Grund gibt. So kann das Labyrinth als ein Spiegel seiner Psyche gelesen werden, allerdings ein leerer Spiegel, denn in dem Labyrinth befindet sich Nichts, und alles, was darin hinterlassen wird – einschließlich von Knöpfen, Angelschnur und Körpern -, löst sich ebenfalls in Nichts auf. Es handelt sich um eine psychische Struktur, oder um die Struktur der Angst.[1]
Eine weitere Bedeutung liegt im Mythologischen. Zampanò geht in einer (gestrichenen) Textpassage auf den Mythos des Minotauros ein, den er als verstoßenen, weil missgebildeten und dann im Laybyrinth versteckten Sohn deutet; für ihn steht er als "Tropus für Unterdrückung und/oder Verdrängung"[2]. Der Minotauros des Buches ist sowohl Täter als auch Opfer und spielt vor allem für Johnnys Visionen eine besondere Rolle. Das Ende des Buches verweist auf Yggdrasil ("Ross des Schrecklichen"), die Weltenesche der nordischen Überlieferung, die in diesem kurzen Text wie eine Spiegelung des nach oben nicht definierten Labyrinths steht. Hier wird das Schicksalhafte des Labyrinths mit seiner Verwurzelung in Zeit und Raum deutlich. Der Überlieferung nach hing Odin ("Der Schreckliche") neun Tage im der Weltenesche, um Weisheit zu gewinnen und gab sein Auge als Pfand. Ebenso bezwingt Navidson das Labyrinth und verliert ein Auge. Blätter (leaves) können leicht als die einzelnen Seiten eines Buches verstanden werden, so dass eine direkte Verbindung zwischen Baum, Labyrinth und Buch besteht.
Ein wichtiger Bezug ist das Labyrinth, das Jorge Luis Borges in der Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen[3] schildert. Er ist gleichzeitig Irrgarten und Buch, das sich beim Durchschreiten unentwegt weiter ausdehnt, so dass hier das Labyrinth auch als Metapher für die Zeit mit seinem Potenzial an Möglichkeiten steht. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Tatsache, dass das Entrinnen aus dem Labyrinth durch einen Mord ermöglicht wird, sondern dass der Autor Borges, ein Mensch, der in einer Welt von Büchern aufwuchs, blind war.
Die fortschreitende Verästelung des Labyrinths und die Hypertextstruktur des Werks legen die Möglichkeit nahe, dass Das Haus – House of Leaves als offenes Konzept angelegt ist, ein work in progress, ein stetig wachsender Zettelkasten ohne tatsächlichen Abschluss.
Unzuverlässige Erzähler
Die Fußnoten des Buches führen den Leser immerzu in die Irre. Viele der Belege dienen als gescheiter Kommentar der Erzählung und ermöglichen reiches Schöpfen bei Dante, Rilke, Derrida, Freud, Einstein, Proust, Ovid, Tolstoi und zahlreichen bekannten und unbekannteren Autoren; aber ein Großteil der Quellen ist schlichtweg erfunden. Vor allem die Erzähler selbst sind unzuverlässig. Dem Blinden gelingt es, eine detaillierte Abhandlung zu verfassen, die nicht nur exakte Textkenntnis erfordert, sondern die genaue Sichtung von unfangreichem Bildmaterial. Zampanò interpretiert die Mimik der Familienmitglieder und Forscher, die in den Videos zu sehen sind.
Tatsächlich berichtet Johnny, dass er nie eine Kopie des Films hat finden können, dass diesen Film niemand je zu Gesicht bekommen hat, und dass diejenigen, die sich über den Film geäußert haben sollen, weder diesen noch Navidson noch Zampanò kennen. Den Pulitzer-Preisträger Navidson gibt es nicht, dafür aber das Foto, für das Navidson den Preis erhalten haben soll: es handelt sich um eine in unserer Realität existente Aufnahme des Fotografen Kevin Carter, der dafür auch wirklich den Pulitzer-Preis erhielt. Aber auch die Figur Johnny selbst ist implizit verschwommen. Seine Fähigkeit zur gründlicher Ordnung und Dokumentation des Zampanò-Materials ist wegen seiner Unbedarftheit, seines Drogenkonsums und seiner gesteigerten Paranoia nicht nachvollziehbar. Die Art seiner Visionen und die Brüche in seiner Biographie sind zeitlich nicht einzuordnen: was ihm selbst, was seinem Vater oder anderen wiederfahren ist, ob er getötet oder ob er darüber gelogen hat usw., bleibt unscharf. Auf seinen Reisen begegnet in einer Seltsame Schleife er sogar dem Buch, Das Haus, das er noch nicht fertigstellt hat, um es uns, den Lesern, in die Hand zu geben. Explizit ist Johnny ein Geschichtenerzähler, der immer wieder zugibt, hier oder dort gelogen zu haben.
Perafinas Figur bleibt fast völlig im Dunklen. Ihre Biographie zeigt Parallen zum Leben Sylvia Plaths, und Plath ist auch in den Fußnoten ständig wiederkehrender Referenzpunkt. Es gibt eine Verbindung zwischen Pelafina und Zampanò (siehe unten, Codes), und sie bezeichnet sich als Sibylle von Cumae. Diese Sybille ist das Gegenstück zu Vergil, der Dante in der Göttliche Komödie durch die Unterwelt leitet; in Vergils Aeneis ist sie die Führerin durch die Unterwelt, das Schicksal besingend und auf Eichenblätter schreibend, was womöglich einen Hinweis auf den wirklichen Urheber des Buches/Labyrinths ist.
Codes
Das Buch ist durchsetzt von Codes, die entweder informative, strukturelle oder nicht zuletzt spielerische Bedeutung haben. In Kapitel VIII wird das SOS-Signal geklopft, das der Filmschnitt (langsame und schnelle Sequenzen) aufgreift, und gleichzeitig wird Johnnys Subtext durch Morse-Zäsuren unterteilt. Fußnote 75 des Kapitel V reiht über mehrere Seiten hinweg Fotografen auf, deren Gemeinsamkeit darin liegt, auf besondere Weise Raum festzuhalten; und das Akrostichon, das sich aus den ersten Nachnamen ergibt, lautet doch in der Tat: "A long list (o)f visi(o)naries"; in der Folge sind noch weitere Verschlüsselungen enthalten.
In Pelafinas Briefen an Johnny sind auf diese Weise wichtige Informationen verborgen. So lässt sich in ihrem Brief vom 5. April aus einem Akrostichon die Phrase "mein lieber zampano wen hast du verloren" lesen [4], aus dem sich ein ganz neuer Kontext der Figuren untereinander ergibt und der die Urheberschft des Gesamtinhalts in Frage stellt. Aus dem Brief vom 8. Mai 1987 kann man entschlüsseln, dass Perafina vergewaltigt wurde.
Und so haben die Internet-Foren im Buch etliche längere und kürzere Botschaften und Hinweise gefunden.
Siehe auch
- Labyrinth
- Hypertext
- Intertextualitätstheorie
- Minotauros
- Odin
- Erzählperspektive
- Postmoderner Roman
- Horror vacui
- Nichts
- Viele-Welten-Interpretation
- Autopoiesis