Seneca
Lucius Annaeus Seneca, genannt Seneca der Jüngere (* etwa im Jahre 1 in Corduba; † 65 n. Chr. in der Nähe Roms), war ein römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Staatsmann und als Stoiker einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Seine Reden, die ihn zuerst bekannt gemacht haben, sind verloren gegangen. Vom Jahr 49 an war er der maßgebliche Erzieher des späteren Kaisers Nero. Um diesen auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten, verfasste er eine Denkschrift darüber, warum es weise sei, als Herrscher Milde walten zu lassen (de clementia). Senecas Bemühen, Neros eigensüchtig ausschweifendem Temperament gegenzusteuern, war jedoch kein dauerhafter Erfolg beschieden. Zuletzt wurde er vom Kaiser der Beteiligung an der pisonischen Verschwörung beschuldigt und ihm wurde die Selbsttötung befohlen. Diesem Befehl kam er ohne Zögern nach.

Leben und Werk als Einheit
Ausdrückliche Bezüge Senecas auf die eigene Biographie sind in seinen Werken äußerst selten. In dieser Hinsicht machte er wenig von sich her, obwohl er von der Bedeutung seiner schriftlichen Hinterlassenschaft für die Nachwelt überzeugt war. „Was Epikur seinem Freunde versprechen konnte, das verspreche ich dir, Lucilius: ich werde Kredit bei der Nachwelt haben, ich kann Namen mitnehmen, auf dass sie mit mir überdauern.“ [1]
Senecas autobiographisches Schweigen hat erhebliche Probleme vor allem bezüglich der Datierung seiner Werke zur Folge, sodass insbesondere für die Abfolge seiner Tragödiendichtung kaum Anhaltspunkte gegeben sind. Dennoch legen die einschlägigen Seneca-Biographien eine mehr oder minder enge Verbindung der Schriften Senecas mit seiner jeweiligen Lebenssituation nahe. Sein Philosophieren bestand demnach nicht in der Schaffung eines neuen gedanklichen Systems, sondern wesentlich in der Anwendung der stoischen Lehre „nach Maßgabe der jeweiligen besonderen Lebenslage und Lebensnotwendigkeit“.[2] Auch in seinen Spätschriften betonte er seine Verwurzelung in der stoischen Philosophie.[3] Dabei lehnte er dogmatische Festlegungen ab.[4]
Senecas wechselvoller Lebenslauf hat ihm mehrfach abverlangt, sich auf Schicksalswenden einzustellen; und er konnte sie in stoischer Manier gutheißen: „Menschen von Wert arbeiten hart, bringen Opfer und werden zum Opfer, und zwar aus eigenem Willen; sie werden nicht vom Schicksal geleitet, sondern sie folgen ihm und halten gleichen Schritt; hätten sie es gekannt, wären sie ihm vorausgegangen.“[5] Die Vielfalt der Erfahrungen im politischen Leben und die unterschiedlichen Rollen, die er dabei übernahm, sind in Senecas philosophischen Schriften verarbeitet. Aus ihnen resultieren – und dies war Seneca durchaus bewusst – je nach besonderer persönlicher und politischer Lage unterschiedliche Optionen ethisch verantwortbaren Handelns. „Je nach der Lage des Staates und den Fügungen des Schicksals werden wir vorankommen oder auf der Strecke bleiben, jedenfalls werden wir tätig sein und nicht der Furcht unterliegen und dadurch in Reglosigkeit verfallen. […] Wenn du aber in eine weniger günstige Lage des Staates gerätst, musst du dich mehr ins Privatleben zurückziehen und dich mit der Wissenschaft beschäftigen, wie auf gefahrvoller Seefahrt sofort einen Hafen anlaufen, nicht auf deine Entlassung warten, sondern von selbst zurücktreten.“[6]
Ungewisse Anfänge
Senecas Geburtsjahr ist nicht überliefert und auch nicht sicher bestimmbar. Die neuesten Rekonstruktionsversuche sprechen für das Jahr 1.[7] Im spanischen Corduba geboren, gelangte er früh, noch auf den Armen seiner Tante mütterlicherseits, nach Rom, wo ihn diese auch weiterhin unter ihre Obhut nahm. Anscheinend wollte sein Vater Seneca der Ältere als dem Stande der Ritter Zugehöriger seinen nach ihm benannten Sohn schon von klein auf im Herzen der Weltmacht heranwachsen sehen und den „feinen“ römischen Zungenschlag annehmen lassen.[8] Mit seiner Frau Helvia[9] hatte er noch zwei weitere Söhne. Senecas älterer Bruder Novatus wurde unter seinem Adoptivnamen Gallio 51/52 n. Chr. Proconsul in der Provinz Achaia und wies u.a. eine Klage der Juden gegen den Apostel Paulus ab; später übernahm er das Amt eines Konsuls. Seneca widmete ihm drei seiner Schriften, darunter Über den Zorn und Vom glücklichen Leben. Sein jüngerer Bruder Mela übernahm die Verwaltung des Familienbesitzes in Corduba.[10]
Seneca der Ältere betrieb intensiv rhetorische Studien und verfasste darüber ein Werk, in dem er sich sehr kritisch über die gekünstelte zeitgenössische Rhetorik äußerte.[11] Auf diesem Felde war der gleichnamige Sohn also frühzeitig orientiert. In Verbindung damit dürfte er einen vorzüglichen rechtskundlichen Unterricht erhalten haben[12], der ihn auf eine anwaltliche Tätigkeit vorbereitete, für die es unerlässlich war, das rhetorische Instrumentarium zu beherrschen.
Die rhetorischen Stilübungen waren ihm allerdings weit weniger wichtig als die philosophischen Grundsätze, die ihm seine Lehrer Sotion und Attalos vermittelten. Sie veranlassten ihn z.B. zeitweise zu fleischfreier Kost, weil dies der Lebhaftigkeit seines Denkens förderlich sei.[13] Die empfohlene harte Matratze für seine Bettstatt behielt Seneca bis ins Alter bei. Und vor der Nachtruhe folgte er, wie von Sokrates überliefert, gewohnheitsmäßig dem Rat zur Selbstprüfung und Gewissensforschung: „Wenn das Licht aus meinem Blick entfernt ist und meine Gattin schweigt, da sie meine Gewohnheit kennt, überprüfe ich meinen ganzen Tag und gehe meine Taten und Worte erneut durch; dabei verberge ich nichts vor mir selbst und übergehe nichts.“[14]
Gesundheitlich war Seneca von Kindesbeinen an und während seines ganzen Lebens durch Asthma-Anfälle und chronische Bronchitis stark eingeschränkt. Atemnöte und Fieberschübe setzten ihm in jungen Jahren derartig zu, dass er davor stand, sich das Leben zu nehmen.[15] Eine gewisse Stabilisierung trat erst ein, als er im Alter von etwa 30 Jahren das ihm bekömmlichere Klima im ägyptischen Alexandria aufsuchte, wo er bei seiner Tante unterkam, die mit dem römischen Präfekten von Ägypten verheiratet war. Sie setzte sich für ihn ein, als er nach seiner Rückkehr nach Rom, wo er sich als Advokat bei den Gerichten bereits einen Namen gemacht hatte, erfolgreich um die Quaestur als Einstieg in die römische Ämterlaufbahn bewarb.[16]
In die Zeit nach seinem Ägyptenaufenthalt fielen auch die ersten seiner überlieferten philosophischen Schriften. In der Trostschrift an Marcia gab er Hilfen zur Veränderung ihrer Trauerperspektive und Anregungen zu sinnvoller Betätigung, um ihr über den Verlust des Sohnes hinwegzuhelfen. „Auch jetzt noch bleibt dir, Marcia, maßlose Traurigkeit, die schon verhärtet zu sein scheint; in deiner Trauer bist du nicht mehr so aufgeregt wie anfangs, sondern vielmehr hartnäckig und verstockt; auch davon wird dich die Zeit allmählich befreien. So oft du dich anderweitig beschäftigst, wirst du Entspannung finden.“[17].
Er verfasste außerdem das dreiteilige Werk Über den Zorn, in dem er – bezüglich emotionaler Selbstbeherrschung noch akzentuierter − klassisches stoisches Gedankengut aufgriff und auf vielfältige Weise lebenspraktisch, historisch-exemplarisch und politisch abhandelte.
„Lieber Novatus, du hast mich genötigt darüber zu schreiben, wie der Zorn beschwichtigt werden kann, und es scheint mir, dass du aus berechtigtem Grund besonders diese Leidenschaft fürchtest, da sie unter allen die scheußlichste und verheerendste ist. Denn alle anderen verbinden sich noch mit einem gewissen Maß an Ruhe und Gelassenheit; diese hingegen geht ganz und gar auf in Aufregung und heftigem Verlangen, sie rast und sehnt sich ganz unmenschlich nach Verwundungen durch Waffen und dem Blutbad der Hinrichtungen …[18] Es ist das Beste, die erste Regung des Zornes sogleich zu ignorieren und sich gegen die Anfänge zu wehren. […] Denn wenn der Zorn begonnen hat, uns vom rechten Weg abzubringen, so ist die Rückkehr zur seelischen Gesundheit schwierig, weil die Vernunft nichts mehr ausrichten kann, sobald die Leidenschaft einmal eingezogen und ihr durch unseren Willen ein gewisses Recht gewährt worden ist. Sie wird von nun an alles tun, was sie will, nicht nur das, was man ihr gestattet.[19]“
Da es sich nach Seneca beim Zorn um eine beherrschbare Regung handelt[20], hielt er auch entsprechendes erzieherisches Einwirken für nötig. Dabei kam es ihm besonders auf die genaue Beobachtung der individuellen Entwicklung an, weil z.B. mit dem Mittel des Lobes einerseits das Selbstbewusstsein des Schützlings gestärkt werden, andererseits aber Überheblichkeit und Jähzorn gefördert werden könnten. Mal müsse eben gebremst, mal angefeuert werden. Sein die Menschenwürde achtender pädagogischer Ansatz zeigt sich, wenn er fortfährt: „Man soll dem Schützling nichts Erniedrigendes oder Sklavisches zumuten. Er soll niemals dazu gebracht werden, demütig um etwas zu bitten, und er soll auch keinen Nutzen daraus haben, sondern er soll nur um seiner selbst willen, aufgrund bisheriger Leistungen und für die Zukunft vielversprechender Anlagen, belohnt werden.[21]
Trostspender in der korsischen Verbannung
Hineingeboren in die Ära des Augustus, eben Jugendlicher bei Herrschaftsantritt des Tiberius, arrivierter Anwalt und Senatsmitglied, als Caligula Princeps wurde: so lassen sich Senecas vier erste Lebensjahrzehnte mit der Geschichte des frühen Prinzipats in Beziehung setzen. Ausschlaggebend für seinen weiteren Lebenslauf wurde das julisch-claudische Herrscherhaus allerdings erst im Jahre 41, als Seneca nach der Beseitigung des in despotischer Manier auftrumpfenden Caligula[22] von dessen Nachfolger Claudius in die Verbannung nach Korsika geschickt wurde.
Dies geschah auf Betreiben Messalinas, mit der Claudius in dritter Ehe verheiratet war und die Julia Livilla[23] als potentielle Rivalin ausschalten wollte.[24] Deshalb schwärzte sie diese wegen angeblichen Ehebruchs mit Seneca an. Nur der Fürsprache Kaiser Claudius' im Senat war es zu verdanken, dass Seneca nicht zum Tode verurteilt wurde. Da das Urteil auf Verbannung in Form der Relegation (nicht der Deportation) lautete, blieben Seneca Eigentum und staatsbürgerliche Rechte erhalten.[25]
Acht Jahre währte die Verbannung auf Korsika insgesamt. Erhalten sind aus dieser Zeit vor allem zwei Trostschriften, in denen Seneca einerseits stoischen Schicksalsgehorsam, andererseits aber auch den dringenden Wunsch nach Beendigung des Exils zum Ausdruck brachte. Er zeigte sich, indem er Trost spendete, zugleich als Trost Suchender in auf die Dauer quälender Abgeschiedenheit.
In dem Trostschreiben an seine Mutter Helvia, die von seiner Verbannung hart getroffen worden war, versicherte Seneca, er sei nicht unglücklich auf Korsika und könne es auch gar nicht werden.[26] Warum sollte er nicht mit einem Ortswechsel seinen Frieden machen können, wo doch von den Himmelsgestirnen bis zu den Menschenvölkern so vieles ständig in Bewegung sei.[27] Im Schlussabschnitt schrieb er: „…Lass dir sagen, wie du dir mich vorstellen sollst: ich bin fröhlich und lebhaft, als sei alles zum Besten. Es ist ja auch alles zum Besten, da mein Verstand von jeder mühevollen Beschäftigung entlastet ist, für eigene Arbeiten Zeit hat und sich manchmal an leichteren Studien erfreut, manchmal zur philosophischen Betrachtung seines eigenen Wesens und der Beschaffenheit der Welt sich erhebt.“[28]
Eine deutlich weniger optimistische Beschreibung seiner Lage enthält dagegen die Trostschrift für Polybios, der bei Hofe das Referat für Bittschriften leitete (a libellis) und dem er sich wohl vor allem mit dem Ziel andiente, Polybios möge bei Kaiser Claudius die Lösung seiner Verbannung erwirken.[29] Dieses Schreiben schloss Seneca, nachdem er seine eigene kraftlose und abgestumpfte geistige Verfassung beklagt hatte, entschuldigend mit den Worten: „Wenn Du meinst, dass diese Ausführungen deinem geistigen Niveau nicht ausreichend entsprechen oder deinen Schmerz nur unzureichend lindern, dann bedenke, dass derjenige, den eigenes Unglück überwältigt hat, nicht die Gedanken frei haben kann, um jemand anderes zu trösten, und dass lateinische Worte nicht leicht einem unglücklichen Menschen zufallen, den niveauloses und selbst relativ gebildeten Nichtrömern schwer aufstoßendes Barbarengebrabbel umgibt.“[30] Der mühsam verbrämte Eigennutz dieser Trostschrift und das am Ende hervorbrechende Selbstmitleid haben Seneca mancherlei Spott und Kritik eingetragen[31]; und zur Beendigung seines Exils haben sie auch nicht geführt.
Wegweiser des Thronfolgers
Zwei Frauen waren es, die das Schicksal des Verbannten schließlich wendeten. Kaiserin Messalina, die Initiatorin des Verfahrens gegen Julia Livilla und Seneca, überzog im Jahre 48 ihr sexuell und machtpolitisch motiviertes Spiel, als sie eine Abwesenheit des Claudius von Rom dazu nutzte, den designierten Konsul Gaius Silius zu ehelichen, was beide bald danach das Leben kostete. Nun war es an Agrippina der Jüngeren, der - neben Julia Livilla - anderen ehedem verbannten Nichte des Claudius, ihrem Sohn Nero aus erster Ehe dadurch Thronchancen zu verschaffen, dass sie Kaiser Claudius dazu brachte, mit ihr die Ehe zu schließen. Als Erziehungsbeistand für Nero aber hatte sie Seneca ausersehen, den sie wie ihre Schwester aus der Zeit vor seiner Verbannung gekannt haben muss.[32]
Diesem Ruf konnte Seneca, den es zunächst nach Athen gezogen haben soll[33], sich schwerlich versagen. Die machtpolitische Dynamik im Kaiserhaus war von der Art, dass Gunst schnell und massiv in Ungunst umschlagen konnte. Im Jahre 50 bekleidete Seneca – zweifellos mit maßgeblicher Unterstützung des Kaiserhauses – die Prätur, die Vorstufe zum Konsulat als höchstem Amt in der römischen Magistratur. Sobald Agrippina Kaiserin geworden war, übernahm sie mit harter Hand die Zügel und veranlasste Claudius, der mit Britannicus schon einen von Messalina geborenen Thronfolger hatte, ihren Sohn Nero zu adoptieren. Nero konnte als der um drei Jahre Ältere von beiden nun die erste Anwartschaft beanspruchen. Zwar gab es keine verbindlichen Regelungen in der Nachfolgefrage, doch war in der Vergangenheit die Adoption gewohnheitsmäßig zum Mittel der dynastischen Legitimation in der Nachfolge des Prinzipats geworden. Dies war die Konstellation, in die Seneca hineingezogen und in der er Nero an die Seite gestellt wurde.
Nach acht Jahren einfachen Lebens wieder in Rom zu sein, war für Seneca zweifellos ein scharfer und tief erlebter Kontrast.[34] In diese Zeit fiel seine Schrift „Von der Kürze des Lebens“, die starke Parallelen mit Erscheinungen und mentalen Verarbeitungsweisen des Lebens in heutigen städtisch geprägten Zivilisationen aufweist.[35] Im Kern ging es Seneca dabei um den Nachweis, dass die meisten Menschen große Teile ihrer Lebenszeit verlieren, indem sie sie falsch zubringen. Diesbezüglich entwickelte er ein breites Spektrum von Beispielen:
„Den einen hält unersättliche Habsucht gefangen, ein anderer verausgabt seine Geschäftigkeit in überflüssigen Anstrengungen, der eine ist vom Wein trunken, der andere verkümmert durch Faulheit; […] viele sind der Schönheit einer anderen Person oder der Besorgnis um die eigene verfallen; sehr viele, die kein bestimmtes Ziel verfolgen, hat die haltlose, unbeständige und sich selbst missfallende Liederlichkeit zu ständig wechselnden Vorhaben aufgejagt; manche treffen überhaupt keine Entscheidung, wohin sie ihre Lebensbahn richten sollen, sondern ihr Schicksal ereilt sie, während sie schlaff sind und gähnen …[36]“
Sein spezielles Augenmerk hatte der widersprüchliche Umgang der Menschen mit Besitz und Eigentum einerseits und mit ihrer begrenzten Lebenszeit andererseits: „Man findet niemanden, der sein Geld teilen will, doch mit wie vielen teilt ein jeder sein Leben! Sie sind davon gefesselt, ihr Erbe zusammenzuhalten, sobald es aber um die Verschwendung ihrer Zeit geht, sind sie höchst freigebig mit dem, worin allein doch der Geiz ehrenhaft ist.“[37] Raubbau an der gegebenen Lebensspanne treibe auch, wer lohnende Vorhaben vor sich her in ein Alter verschiebe, von dem er gar nicht wissen könne, ob er es überhaupt erreichen werde.[38] Zu leben verstehe hingegen, wer die alltägliche Betriebsamkeit hinter sich lasse und sich der Philosophie zuwende, weil dies eine reiche Vergangenheit zu erschließen verspreche: „Man kann mit Sokrates diskutieren, mit Karneades zweifeln, mit Epikur zurückgezogen leben, das Wesen des Menschen mit den Stoikern überwinden, mit den Kynikern hinter sich lassen.“ [39]
Es liegt nahe, dass Seneca seine philosophischen Leitvorstellungen auch dem heranwachsenden Nero vermittelt hat, der gemäß Agrippinas Ambitionen aber hauptsächlich auf seine Rolle als künftiger Kaiser vorbereitet werden sollte. Nero selbst neigte eher den schönen Künsten zu, hatte darin auch einiges Talent und einen starken Hang zur Selbstinszenierung. Als Seneca möglicherweise zu dieser Zeit begann, Tragödien zu schreiben, könnte er damit auch seine Einflussmöglichkeiten auf den Thronanwärter, der ihm in der Dichtkunst nacheiferte, verstärkt haben.[40]
Die Tragödien, die alle den klassischen Stoff der griechischen Mythen im Anschluss an Aischylos, Sophokles und Euripides aufgriffen, könnten Seneca Gelegenheit gegeben haben, seine philosophischen Überzeugungen teils drastisch-grauenvoll ausgemalt, teils spielerisch-unaufdringlich an den Zögling weiterzugeben. Ein Beispiel aus dem Thyestes: „Welche Raserei treibt euch (Könige) an, / abwechselnd euer Blut hinzugeben / und durch Verbrechen das Szepter zu erstreben? / […] König ist, wer Ängste abgelegt hat / und die Übel eines schlimmen Herzens, / den nicht zügelloser Ehrgeiz / und die nie beständige Gunst / der unbedachten Menge bewegt / […] König ist, wer nichts fürchtet, / König ist, wer nichts begehrt. / Dies Königreich gibt jeder sich selbst.“[41] Fuhrmann hält es für gut möglich, dass sowohl Nero als auch sein Mentor bei der Aufführung von Senecas Tragödien vor geladenen Gästen selbst als Darsteller auftraten.[42]
Etwa fünf Jahre währte diese Rollenverteilung zwischen Erzieher und Zögling. Die antiken Literaten berichten, dass diese Phase durch einen Giftmord der Agrippina an ihrem Gatten Claudius beendet wurde, als sie nämlich die Stunde für gekommen hielt, Nero zum Kaiser zu machen und dadurch selbst noch mehr Macht als zuvor auszuüben.
Mitgestalter von Neros Herrschaftsbeginn
Senecas Landsmann spanischer Herkunft, der von 98–117 regierende Kaiser Trajan, hat die ersten Regierungsjahre Neros von 54-59 als das glückliche Jahrfünft (Quinquennium) des Römischen Reiches bezeichnet.[43] Als erst Sechzehnjähriger gelangte Nero im Herbst 54 zur Herrschaft; und das äußerst positive Zeugnis für die ersten Jahre seines Prinzipats gebührt vor allem den beiden vorzüglich harmonierenden politischen Vordenkern und Begleitern Neros, dem Gardepräfekten Burrus und dem von Nero auch als Gegengewicht gegen die eigene Mutter weiterhin hoch geschätzten und mit umfänglichen Schenkungen bedachten Seneca. Über dessen Einflussnahme auf politische Entscheidungen im Einzelnen schweigen sowohl die Quellen als auch Seneca selbst.[44] Weder zu Senecas Konsulat 55 noch zu seinem Verhalten im Senat verlautet Konkretes.[45]
Zu Neros ersten Amtshandlungen gehörte die Leichenrede auf den Adoptivvater Claudius, die Seneca für ihn vorbereitet hatte und die Nero in würdiger Manier vortrug. Als aber an einer Stelle von Claudius’ vorausschauenden Fähigkeiten und von seiner Weisheit die Rede war, verbreitete sich anlasswidrig allgemeine Heiterkeit,[46] denn Claudius galt allgemein als etwas beschränkt. Seneca machte bei passender Gelegenheit diesen Missgriff auf radikale Weise wett durch eine bissige Satire auf Claudius, die Apokolokyntosis („Verkürbissung“ im Sinne von Veräppelung),[47] in der Claudius nicht die von ihm gesuchte Erhöhung zum Gott, sondern die Erniedrigung zum Gerichtsdiener eines Freigelassenen widerfährt. Es ist die einzige Probe einer menippeischen Satire, die Seneca hinterlassen hat.[48]
Ganz auf der Linie seiner philosophischen Schriften lag dagegen Senecas programmatische Mahnschrift Ad Neronem Caesarem de clementia („An Kaiser Nero über die Milde“), die er für seinen Zögling zu Beginn von dessen Prinzipat verfasste und die diesen seinen nachgeordneten Mitbürgern gegenüber zu Milde und zu verantwortungsvoller Amtsführung anhalten sollte. Nach Giebel wurde mit dieser zugleich für die Öffentlichkeit bestimmten Schrift das „längst nötige Fundament für die traditionslose römische Monarchie“ gelegt[49] und dabei Bezug genommen auf das Wort des Zenon-Schülers und makedonischen Königs Antigonos II. Gonatas, dem zufolge die Herrschaft für den König „eine ehren- und ruhmvolle Knechtschaft“ sei.[50] Die Rolle eines milden Kaisers scheint Nero zeitweise demonstrativ angenommen und die Würde des Senats wieder stärker hervorgekehrt zu haben; in irgendeiner dienenden Funktion hat er sich aufgrund seines Naturells allerdings wohl kaum gesehen. Bei Fuhrmann heißt es dazu: „Die Monarchie ist unkontrollierbar, die hieraus sich ergebenden Defizite können allein durch den Menschen selbst ausgeglichen werden: Diese wohldurchdachte Doktrin Senecas vermochte nur jemanden zu beeindrucken, der zur Selbstreflexion fähig und von der Erfahrung der eigenen, eingeschränkten Subjektivität durchdrungen war.“[51]
Bei der eigenen Machtsicherung war auch die beschworene Milde nichts, was Nero tatsächlich gelten ließ – im Gegenteil. Schon im Jahre 55 traten zwischen Agrippina, die ihren Willen mitzuherrschen auch bei offiziellen Anlässen zu erkennen gab, und Nero Spannungen auf, die auch Seneca nur notdürftig zu überspielen vermochte. Als die Mutter dem Sohn mit den nicht erledigten Thronansprüchen seines Stiefbruders Britannicus drohte, arrangierte Nero laut Quellenzeugnis dessen Vergiftung bei einem Essen in Anwesenheit Agrippinas und ließ dazu verbreiten, Britannicus sei an einem epileptischen Anfall gestorben.[52]
Schattenseiten der Machtteilhabe
Seneca hatte an dem Essen, das für Britannicus tödlich endete, nicht teilgenommen. Wie er reagierte, ist nicht überliefert. Es scheint, als habe er die offizielle Version gelten lassen; ausrichten konnte er ohnehin wenig, wenn er seinen Einfluss auf Nero nicht verlieren wollte.[53] Nach seinem Rückzug aus der höfischen Tagespolitik ließ Seneca vereinzelt durchblicken, dass er den Platz an Neros Seite als problematisch erlebt hatte. So in einem der Briefe an Lucilius, in dem davon die Rede ist, dass er den rechten Weg erst spät erkannt habe.[54]
Andererseits ließ er – wie fast immer ohne expliziten Bezug zum eigenen Tun - philosophische Gründe für sein anhaltendes Mitwirken im Zentrum der römischen Weltmacht erkennen. Mit dem Beispiel des Sokrates, der unter der Gewaltherrschaft der Dreißig, einer Episode der Attischen Demokratie zu Ende des Peloponnesischen Krieges 404/403 v. Chr., seinen Mitbürgern ein unangepasst-freies Auftreten vorgelebt habe[55], unterlegte Seneca die These, dass ein Weiser sich gerade in einer für das Gemeinwesen schwierigen Lage verdient machen könne und dass es den Umständen entsprechend abzuwägen gelte, wann politisches Engagement chancenreich und wann aussichtslos sei.[56]
Schon innerhalb des von Trajan äußerst positiv gewürdigten Quinquenniums erschwerte Neros Hang zu Impulsivität und Ausschweifungen seinen politischen Lenkern Seneca und Burrus das Geschäft. Hatte einst Messalina über Kaiser Claudius maßgeblichen Einfluss gewonnen, so erreichte dies im Falle Neros vom Jahre 58 an die bereits in zweiter Ehe mit dem späteren Kaiser Otho verheiratete Poppaea Sabina.
Mehr als diese Entwicklung dürfte Seneca aber in jenem Jahr der Angriff auf seine persönliche Integrität beschäftigt haben, der von dem vormaligen Konsul Publius Suillius Rufus, einem berüchtigten Ankläger in Denunziantenprozessen, ausging. Dieser stellte den durch großzügigste Zuwendungen Neros steinreich gewordenen Seneca zunächst in Schmähreden, dann aber auch in dem von Seneca gegen ihn angestrengten Prozess vor dem Senat als Jugend- und Frauenverführer sowie müßiggängerischen Geldsack dar, der „seiner Raffgier auch noch ein philosophisches Mäntelchen der Bedürfnislosigkeit umhänge.“[57]
Senecas Schrift Vom glücklichen Leben wird auch als Antwort auf diese Anwürfe gedeutet. Darin bestritt er emphatisch, dass es einen Widerspruch zwischen der stoischen Lehre und persönlichem Reichtum gäbe. Der Weise müsse allerdings fähig sein, materielle Güter aufzugeben und dürfe sich nicht zu ihrem Sklaven machen. Der Suillius-Prozess scheint aufzuleben in dem Appell: „Hör also auf, den Philosophen das Geld zu verbieten! Niemand hat die Weisheit zur Armut verurteilt. Der Philosoph wird reiche Schätze besitzen, die aber niemandem entrissen sind, nicht von fremdem Blut triefen, erworben sind ohne Unrecht an irgendwem, ohne schmutzige Herkunft […]“[58]
Ob Seneca zu dieser Zeit noch mit seinen Tragödien befasst war, ist unklar; bekannt ist aber, dass er eine der ihm ursprünglich zugeschriebenen Tragödien, die sich als einzige direkt auf das zeitgenössische Geschehen am Hofe Neros bezog, nicht selbst geschrieben hat. Titelheldin war Neros erste Frau Octavia (wie Britannicus ein Kind des Claudius), die zu ehelichen Neros Thronansprüche untermauert hatte. War Octavia bis dahin schon den Zurücksetzungen durch ihre Schwiegermutter Agrippina ausgesetzt, so wurde sie nun von Poppaea mehr und mehr aus ihrer Stellung gedrängt und musste später, als Seneca sich bereits weitgehend aus dem politischen Leben zurückgezogen hatte, Rom verlassen. Nach erprobtem Muster war sie des Ehebruchs bezichtigt worden, doch wurde das allgemein nicht für bare Münze genommen. Da sie auch als Verbannte im Volk weiterhin sehr beliebt war und sie Nero wie auch Poppaea, die unterdessen geheiratet hatten, als Bedrohung erschien, wurde sie schließlich 65 umgebracht.[59]
Tacitus zufolge war Seneca im Jahr 59 in den vollendeten Muttermord Neros unmittelbar einbezogen.[60] Ein erster Anschlag auf Agrippina, die sich von einem für den Untergang präparierten Schiff noch hatte retten können, war fehlgeschlagen. Daraufhin soll sich Nero Rat bei Seneca und Burrus geholt haben. Die Vollendung des Mordaktes besorgte dann Neros enger Vertrauter, der griechische Freigelassene Anicetus. In einer wie üblich von Seneca redigierten Mitteilung an den Senat hieß es, ein Bote der Agrippina habe Nero ermorden sollen, sie selbst habe sich nach Vereitelung dieses Unternehmens den Tod gegeben.
Rückzug und Muße für das Spätwerk
Nach dem Mord an Agrippina hatte Nero allein die Macht inne und bedurfte auch Senecas als eines besonnen vermittelnden Wahrers seiner Ansprüche gegenüber der Mutter nicht mehr. Dennoch änderte sich an der äußeren Stellung Senecas, des neben Burrus wichtigsten politischen Beraters des Princeps, zunächst und in den Folgejahren nichts. Beide dienten Nero, indem sie politisch Regie führten, während der Kaiser zunehmend seinen Leidenschaften bei Wagenrennen, als Musiker und Tragödienmime nachging sowie als Stifter und Zentralfigur musischer Festspiele und Wettbewerbe wie der Juvenalia und der Neronia auftrat.
Nach dem Bericht des Tacitus bat Seneca, als Burrus 62 starb - von dessen Nachfolger Tigellinus eher angefeindet -[61] um Entlassung aus dem Staatsdienst. Dabei äußerte er den Wunsch, Nero möge den Großteil seines durch ihn erworbenen Vermögens zurück in die eigene Verwaltung nehmen. Das wies dieser zurück. Er äußerte, Seneca nicht entbehren und die Vermögensabtretung nicht ohne Schaden für den eigenen Ruf annehmen zu können; jenseits der rhetorischen Anerkennungsfloskeln war Senecas Abschied aus dem Machtzentrum damit aber dennoch besiegelt. Er entließ das Gefolge, das ihn seiner politischen Bedeutung entsprechend umgeben hatte und zog sich mehr und mehr ins Privatleben zurück, meist nach Nomentum auf ein Weingut nordöstlich von Rom.[62]
Dieses Ausscheiden aus dem politischen Leben und aus der Mitverantwortung für das Gemeinwesen der antiken Weltmacht hat Seneca in seiner Schrift Über die Muße gegenüber einem unbekannten Ansprechpartner philosophisch reflektiert, den er fragen lässt: „Was sprichst du, Seneca? Du ziehst Dich von den Parteiungen zurück? Sicherlich weißt du, dass Stoiker wie du sagen: ‚Bis zum Ende des Lebens werden wir tätig sein, werden nicht aufhören, uns für das Gemeinwohl einzusetzen, den einzelnen zu unterstützen, auch unseren Feinden noch mit altersschwacher Hand auszuhelfen. Wir sind es ja, die keinen Lebensjahren freie Zeit gewähren […], bei denen es bis zum Tod kein Ausruhen gibt, so dass, wenn die Möglichkeit gegeben ist, nicht einmal der Tod selbst in Ruhe eintritt.‘“[63] Seneca antwortet auf diesen rhetorischen Einwand:[64]
„Meine Erwiderung werde ich in zwei Teile gliedern: erstens, dass man sich auch schon von früher Jugend an ganz der Betrachtung der Wahrheit widmen, die Kunst des Lebens suchen und sie in Abgeschiedenheit üben kann; zweitens, dass man besonders, wenn man aus seiner Dienstzeit ehrenhaft entlassen wurde, in fortgeschrittenem Alter, dies mit sehr guter Berechtigung tun kann […] Als Grund ist aber besonders der folgende offensichtlich: wenn der Staat zu verkommen ist, als dass man ihm helfen könnte, wenn er in Übeln versinkt, wird sich der Weise nicht ohne Aussicht einsetzen und sich nicht aufopfern, wenn er nicht helfen kann.“
Ohnehin sah sich Seneca als Stoiker nicht nur dem staatlichen Gemeinwesen des Römischen Reiches verpflichtet, sondern auch jenem umfassenden „Staatswesen“, als welches er Natur und Kosmos mitsamt allen Menschen und Göttern betrachtete. Diesem mit der Sonne auszumessenden Staatswesen sei aber auch in der Muße mit vielerlei Untersuchungen zu dienen:
„…ob die Materie, aus der alles entsteht, teilchenlos und vollständig ist oder zerteilt und eine mit Festem gemischte Leere; was der Wohnort Gottes ist, ob er sein Werk nur betrachtet oder auch beeinflusst; ob er es von außen umgibt oder in dessen Ganzem enthalten ist; ob die Welt unsterblich ist oder man sie zum Hinfälligen und auf Zeit Geschaffenen rechnen muss.[65]“
Und er schlussfolgerte: „Wir sagen, das höchste Gut sei, gemäß der Natur zu leben: die Natur hat uns zu beidem geschaffen, zur Betrachtung der Welt und zum Handeln.“[66]
In der ihm verbleibenden „Muße“-Zeit von 62 bis 65 n. Chr. nach seinem politisch aktiven Leben hat Seneca neben der Abrundung seiner themenbezogenen philosophischen Schriften mit Über Wohltaten (De beneficiis) noch zwei weitere Großprojekte realisiert: die auf Naturerscheinungen und kosmische Zusammenhänge gerichtete Schrift Naturwissenschaftliche Untersuchungen (Quaestiones naturales), die er schon auf Korsika begonnen hatte, sowie die als praktische philosophisch-ethische Handreichung konzipierte Sammlung der Briefe an Lucilius, von denen 124 überliefert sind, die sein philosophisches Hauptwerk darstellen. Apelt weist darauf hin, dass nach Zitaten aus den Noctes Atticae des Gellius ursprünglich noch weitere Briefe existierten.[67]
Todeserwartung auf stoische Weise
Die letzte Phase bedeutender Produktivität Senecas endete mit seiner von Nero befohlenen Selbsttötung. Der politische Hintergrund war die Verschwörung des Piso, die Neros Herrschaft beenden sollte. Senecas tatsächliche Verwicklung ist unklar, sein Einverständnis aber durchaus wahrscheinlich. Fuhrmann sieht ihn zwar nicht unmittelbar beteiligt, aber doch in der Rolle des geistigen Wegbereiters.[68]
Verbreitete Unzufriedenheit und Verbitterung gegenüber Neros zunehmend despotischem Regiment, das auch im Senatorenstand als bedrohlich wahrgenommen wurde, fanden ihre Entsprechung in Senecas Werk Über Wohltaten, in dem es – nach Fuhrmann in verdeckter Anspielung auf Nero – heißt: „…wenn er nicht aus Zorn, sondern in einem gewissen Wutrausch rast, wenn er vor den Augen der Eltern Kinder erwürgt, wenn er mit einfachem Töten nicht zufrieden, Foltern anwendet, […] wenn seine Burg stets von frischem Blut trieft, dann reicht es nicht aus, diesem Menschen eine Wohltat nicht zu vergelten. Was immer ihn mit mir verbunden hatte, das hat die aufgehobene Gemeinsamkeit menschlicher Rechtsgrundsätze getrennt.“[69]
Der lange geplante und mehrfach verschobene Anschlag wurde schließlich am Morgen des für die Beseitigung Neros vorgesehenen Tages verraten. Durch Zusicherung der Straflosigkeit für die Kooperationsbereiten gelang es dem Kaiser, eine breite Denunziationswelle auszulösen, zu deren zahlreichen Opfern auch Seneca gehörte. Die Lage, in die er dadurch geriet, traf ihn jedoch in vieler Hinsicht nicht unvorbereitet – im Gegenteil: „Es gibt nur eine Kette, die uns gefesselt hält, nämlich die Liebe zum Leben. Wir dürfen sie nicht von uns weisen, aber wir müssen ihren Druck mindern, damit uns unter dem Druck der Umstände nichts zurückhalte und hindere bereit zu sein, unverzüglich das zu tun, was einmal doch geschehen muss.“[70]
Sein fragiler Gesundheitszustand hatte ihn schon in jungen Jahren dem Tod nahe gebracht. Über seine Atemnot äußerte er: „Der Anfall ist sehr kurz und gleicht einem heftigen Sturm: Er dauert kaum länger als eine Stunde. […] Alles andere, gleich was, hat als Krankheit zu gelten; dieser aber ist ein Ringen mit dem Tode. Daher nennen die Ärzte das Leiden ‚eine Vorübung auf das Sterben.’“[71] Seine philosophische Ausrichtung hatte ihm den Weg damit umzugehen gewiesen: „Lass Dir von mir sagen: ich werde vor dem letzten Augenblick nicht zittern, ich bin schon bereit, ich rechne nie mit einem ganzen Tag, den ich etwa noch zu leben hätte.“[72]
Der Tod war zuletzt zu einem besonders wichtigen und stets wiederkehrenden Thema in den Briefen an Lucilius geworden. Appelt schreibt in seiner Einleitung zu den Lucilius-Briefen mit Bezug auf die Tugend als das einzig wahre Gut und auf die Bekämpfung der Todesfurcht: „Überblickt man die Briefe ihrem Hauptinhalt nach, so wird man finden, dass kein Thema häufiger und eingehender, hier und da bis zur Ermüdung des Lesers behandelt wird als diese beiden.“ [73] Es war wohl die ganz bewusst ins Zentrum gerückte letzte lebenspraktische Bewährung für Seneca: “Vor dem Eintritt ins Greisenalter war es mein Bestreben in Ehren zu leben, nun, da es da ist, in Ehren zu sterben.“[74]
Schon im 4. Brief an Lucilius hatte Seneca einen rigorosen Standpunkt eingenommen, indem er nicht das Leben an sich als Gut, sondern nur das sittlich reine Leben als ein solches betrachtete. Dem Weisen, sofern der anhaltend massiven Störungen der eigenen Gemütsruhe ausgesetzt sei, schrieb er die Konsequenz zu, „dann wirft er die Fessel von sich, und er tut das nicht bloß in der äußersten Not; sondern sobald das Schicksal anfängt ihm verdächtig zu werden, geht er gewissenhaft mit sich zu Rate, ob er sofort ein Ende machen soll.“[75]
Eingehend setzte Seneca sich im 70. Brief an Lucilius mit diesem Problem auseinander, indem er u.a. jene Philosophen kritisierte, die Selbstmord zur Sünde erklärten: „Wer so spricht, sieht nicht, dass er der Freiheit den Weg versperrt. Wie hätte das ewige Gesetz besser verfahren können, als uns nur einen Eingang ins Leben zu geben, aber viele Ausgänge?“[76] Man könne keine allgemein gültige Antwort darauf geben, ob im Einzelfall der Tod erwartet oder selbst herbeigeführt werden sollte: „Denn es gibt viele Gründe, die uns zu einer von beiden möglichen Entscheidungen bewegen können. Wenn die eine Todesart mit Folterqualen verbunden ist, die andere einfach und leicht, warum sollte ich mich nicht an die letztere halten?“[77] Senecas aus häufiger intensiver Befassung mit Sterben und Tod gewonnene Schlussfolgerung in diesem 70. Brief an Lucilius lautet: „Für das Leben muß jeder auch Rücksicht nehmen auf die Billigung anderer, den Tod bestimme er ganz nach eigener Wahl; je mehr nach unserer Neigung desto besser.“[78]
Nero inszenierte die Abrechnung mit seinem Mentor als zweistufigen Prozess. Nachdem Seneca denunziert worden war, schickte der Kaiser einen höheren Offizier zu ihm – der mit seiner Frau Pompeia Paulina und zwei Freunden gerade zu Abend aß – um ihn zu seinem Verhältnis zu Piso sich äußern zu lassen. Seneca bestätigte den ausgesprochenen Verdacht nicht, bekam aber dennoch wenig später durch einen anderen Boten die Aufforderung zur Selbsttötung zugestellt. Als er sich die Tafeln für sein Testament kommen lassen wollte, wurde ihm dies verwehrt. Zu seinen anwesenden Freunden sagte er daraufhin, dass er ihnen folglich als Einziges, aber zugleich Schönstes das „Bild seines Lebens“ („imago vitae“) vermache.
Angesichts seiner Vorbereitung mussten Seneca weder Zeitpunkt noch Ort oder Art des Ablebens schrecken: „Niemanden hat das Schicksal so emporgehoben, dass es sich ihm nicht ebenso oft in seiner bedrohlichen Gestalt gezeigt hätte wie in seiner Gunst. Traue nicht dieser Windstille: ein Augenblick genügt, um das Meer aufzuwühlen. An demselben Tag, wo die Schiffe noch um die Wette fuhren, wurden sie von den Wellen verschlungen. Sei gefasst darauf, dass ein Räuber, dass ein Feind dir das Schwert an die Gurgel setzt.“ [79] Tacitus schildert in seinen Annalen das Sterben Senecas und den Versuch seiner Frau Pompeia Paulina, mit ihm in den Tod zu gehen.[80] Seneca gelang die Selbsttötung erst, nachdem er drei verschiedene Prozeduren hinter sich gebracht hatte: die Öffnung der Pulsadern sowie noch weiterer Arterien an den Beinen, die Leerung des Schierlingsbechers, durch den Sokrates zu Tode gekommen war und schließlich ein Dampfbad, in dem er erstickte. Seine Frau hatte sich im Fortgang des quälerischen Prozesses auf Senecas Bitte in einen anderen Raum bringen lassen. Auf Anordnung Neros, der sich durch Kuriere über das Geschehen informieren ließ, wurden ihr die Pulsadern verbunden, sodass sie ihren Gatten in geschwächtem Zustand noch einige Jahre überlebte.
Der Philosoph
Seneca beanspruchte nicht, ein neues philosophisches System entwickelt zu haben, sondern auf dem Boden der Stoa zu eigenen Beiträgen gelangt zu sein. Aus neuzeitlicher Perspektive ist manchmal vorschnell in Zweifel gezogen worden, ob es sich bei ihm überhaupt um einen Philosophen handelt. So hat Maurach seine Seneca-Darstellung mit der allerdings eher rhetorisch gemeinten Frage eingeleitet: „War Seneca ein Philosoph?“[81] Seneca selbst hat eine Vielzahl klärender Hinweise in seinem Schrifttum hinterlassen, so z.B. im 64. Brief an Lucilius:
„Daher verehre ich die Ergebnisse der Weisheit und ihre Entdecker. Gerne nähere ich mich ihnen gleichsam als dem Erbe vieler Menschen. Sie wurden für mich erworben und für mich ausgearbeitet. Aber wir sollten als guter Familienvater auftreten und das Empfangene vermehren. Ein größeres Erbe soll von mir auf meine Nachfolger übergehen. Es bleibt noch viel Arbeit, und es wird auch immer so sein, und auch dem, der nach unzähligen Generationen geboren wird, ist nicht die Möglichkeit genommen, noch etwas zu ergänzen. Doch selbst wenn alles schon von Früheren gefunden wurde, so wird eines doch immer neu sein, nämlich die konkrete Anwendung und zeitgemäße Nutzung dessen, was andere gefunden haben.“[82]“
Bedeutung und Nutzen seines Philosophierens beschrieb Seneca im 90. Brief so:
„Unser Leben, mein Lucilius, ist unzweifelhaft ein Geschenk der Götter, das ehrbare Leben ein Geschenk der Philosophie. Es könnte also als bewiesen gelten, dass wir ihr mehr verdanken als den Göttern, wie ja auch das ehrbare Leben gegenüber dem Leben an sich höherwertig ist, wenn die Philosophie selbst uns nicht von den Göttern verliehen wäre. […] Ihre einzige Aufgabe ist es, im göttlichen und menschlichen Bereich die Wahrheit zu finden. An ihrer Seite stehen stets Götterverehrung, Pflichterfüllung und Gerechtigkeit sowie das übrige Gefolge der Tugenden, die eng miteinander verbunden sind. Sie lehrt, Göttliches zu verehren und die Welt der Menschen zu lieben; dass die Götter herrschen und die Menschen im Schicksal verbunden sind.[83]“
“Die Philosophie“, heißt es im 64. Brief, „ist unsere Pflicht und muss uns schützen, gleich ob das Schicksal uns durch sein unerbittliches Gesetz determiniert, ob ein Gott aus seinem Willen das Weltganze angeordnet hat oder ob der Zufall die Handlungen der Menschen chaotisch in ständige Bewegung setzt.“[84]
Jedermanns Sache ist die Philosophie für Seneca allerdings nicht. Vielfach wird das Philosophieren dem Trachten und Treiben der Masse des Volkes exklusiv gegenübergestellt und der Wert des eigenen Arguments gerade durch diese Abgrenzung von ihm unterstrichen.[85] Er betont die Bedeutung der Philosophie für eine ethische Lebensführung. Nicht wohl gesetzte Worte, sondern Taten sind demnach entscheidend: „Die Philosophie ist keine Kunstfertigkeit, die man dem Volk präsentiert oder die sich überhaupt zum Vorzeigen eignet, sie beruht nicht auf Worten, sondern auf Taten. Auch wendet man sich ihr nicht zu, um mit angenehmer Unterhaltung den Tag zu verbringen, um die Freizeit vom Makel der Langeweile zu befreien. Sie formt und bildet den Geist, sie ordnet das Leben, bestimmt unsere Handlungen; sie zeigt, was zu tun und zu lassen ist.“[86]
Auch kurz vor seinem Lebensende wird diese Vorstellung noch einmal deutlich:
„Ich nehme Vorlesungen bei einem Philosophen. Schon seit fünf Tagen gehe ich in seine Lehranstalt und höre ab der achten Stunde[87] seinen Vortrag. […] Man muß so lange lernen, als man unwissend ist – also ein Leben lang, wenn wir dem Sprichwort glauben. Daraus ergibt sich zwingend der folgende Gedanke: Man muss ein Leben lang lernen, wie man das Leben gestalten soll. […] Ich zeige durch mein Beispiel, dass man auch im Alter noch zu lernen hat. Wie du weißt, führt mein Weg zum Haus des Metronax am Theater von Neapel vorbei. Dort ist es erdrückend voll, und mit lautstarker Begeisterung werden Meinungen über die Qualität eines Flötenspielers diskutiert: auch griechische Trompeter und Ausrufer haben großen Zulauf. Aber in dem Raum, in dem man die menschliche Ethik erforscht, […] haben nur die wenigsten Platz genommen….[88]“
Stoiker von eigener Art
Neben Mark Aurel und Epiktet zählt Seneca zu den wichtigsten Vertretern der jüngeren Stoa. Als Seneca geboren wurde, existierten die Lehren dieser Athener Philosophenschule bereits 300 Jahre. Vom 2. Jahrhundert v. Chr. an hatten sie verstärkt Einzug in führende Kreise der Römischen Republik gehalten, da sie sich als gut verträglich mit deren elitärer Bindung an das Gemeinwohl erwiesen. Daneben hatten aber auch andere philosophische Schulen und die Volksfrömmigkeit ihre Anhänger.
Für Einflüsse anderer philosophischer Schulen war Seneca offen und übernahm manches davon in sein Denken, ohne an seiner Grundeinstellung aber Zweifel zuzulassen. In ausdrücklicher Abgrenzung von anderen philosophischen Richtungen, denen er Weichlichkeit nachsagt, betont er, den Stoikern komme es nicht darauf an, dass der Weg reizvoll-angenehm sei, „sondern dass er uns möglichst bald befreie und zu einem hohen Gipfel führe, der weit genug aus der Reichweite von Speeren liegt, um dem Schicksal entronnen zu sein.“[89]
Auf dem von Seneca gemeinten Gipfel erlangt der in zäher Entschlossenheit Aufgestiegene den unerschütterlichen Seelenfrieden, der zugleich ein Frieden mit Natur und kosmischer Ordnung ist. „Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele.“[90] Zur Seelenruhe führen kann nur die Vernunft, die von Seneca als „Teil des göttlichen Geistes, versenkt in den menschlichen Körper“ bezeichnet wird.[91]
Nur die Vernunft kann die Affekte kontrollieren, deren Beherrschung der stoischen Lehre gemäß den Weg zum höchsten Gut ebnet. Senecas frühe philosophische Auseinandersetzung mit dem als größte emotionale Herausforderung angesehenen Zorn zielt auf diesen Zusammenhang:
Ebenso müssen andere Affekte und Leidenschaften wie Lust, Unlust, Begierde und Furcht überwunden werden. Vernunftbedingte Gelassenheit ist folglich die oberste Tugend des Stoikers. Wiederholt bekennt sich Seneca zu der philosophischen Tradition, in der er steht. Deren Lehren an veränderte Umstände anzupassen, begreift er als wichtige Aufgabe.
„Soll ich etwa nicht den Spuren der Vorgänger folgen? Wahrlich, ich werde den alten Weg einschlagen; finde ich aber einen geigneteren und ebeneren, so werde ich mich an diesen halten. Die Menschen, die vor uns diese Lehren aufbrachten, sind nicht unsere Gebieter, sondern unsere Wegweiser. Die Wahrheit steht allen offen, sie ist nicht vergeben. Künftigen Generationen wird noch ein großer Teil ihrer Erforschung überlassen sein.[93]“
Befürworter gesellschaftlicher Bindung und Verpflichtung des Menschen
Seneca befasste sich − wie die späte Stoa überhaupt − vornehmlich mit Fragen der rechten Lebensführung, insbesondere mit der Ethik, die er als unabdingbar für das menschliche Glück betrachtete. Als höchstes Gut erschien die Tugend als Grundlage und Begleiterscheinung der heiteren Gelassenheit und der Seelenruhe. „Du kannst ja sagen: das höchste Gut ist das ethische Handeln. […] Die Tugend kann aber nicht größer oder kleiner werden; sie ist von immer gleicher Gestalt.“[94]
Die Menschen sollen ein Leben nach den Gesetzen der Natur führen und dabei auf stoische Weise unterscheiden zwischen dem, was unabwendbar ist, und den Dingen, auf die der Mensch Einfluss nehmen kann. Außerdem forderte er dazu auf, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen, soziale Aufgaben zu übernehmen und Freundschaften zu pflegen:
„Es kann niemand ethisch verantwortungsvoll leben, der nur an sich denkt und alles seinem persönlichen Vorteil unterstellt. Du musst für den anderen leben, wenn du für dich selbst leben willst. Wenn diese Verbindung gewissenhaft und als heiliges Gut gepflegt wird – die uns als Menschen den Menschen gesellt und die zeigt, dass es ein gemeinsames Menschrecht gibt –, so trägt sie besonders dazu bei, den genannten Bund, also die Freundschaft, zu fördern.[95]“
Andererseits betonte er aber auch die Doppelgleisigkeit der menschlichen Anlagen und die Bedeutung der Einsamkeit als Pendant der Geselligkeit: „Man muß dennoch Einsamkeit und Geselligkeit miteinander verbinden und abwechseln lassen. Erstere lässt uns nach Menschen sehnen, letztere nach uns selber, und beide sind eine Medizin für die jeweils andere: die Einsamkeit heilt den Abscheu vor der Menschenmenge und die Menschnmenge die Langeweile, die eine Folge der Einsamkeit ist.“[96]
Den gesellschaftlichen Statusunterschieden setzte Seneca eine ursprüngliche menschenrechtliche Gleichheitsvorstellung an die Seite: „Dieselben Anfänge haben alle Menschen, denselben Ursprung; niemand ist vornehmer als ein anderer, außer wenn er sich durch eine aufrechte und aufgrund guter Charaktereigenschaften bessere Gesinnung auszeichnet.“[97] Sich auf Platon berufend, betont er den Zufall der gesellschaftlichen Position und die Bedeutung der eigenen geistigen Bemühungen. „Platon sagt, es gebe keinen König, der nicht von Sklaven, und keinen Sklaven, der nicht von Königen abstamme. Der Wechsel der Zeit hat all dies durcheinander geworfen und das Schicksal hat alles mehrfach umgekehrt. […] Der Verstand verleiht den vornehmen Rang, und er kann sich aus jeder Lebenslage über das Schicksal erheben.“[98]
Ein glückliches Leben könne nur derjenige führen, der nicht nur an sich selbst denke und alles seinem Vorteil unterordne. Glück spende die Fähigkeit zur Freundschaft mit sich selbst und anderen. Allerdings setzte Seneca auch Freunden gegenüber gewisse Grenzen, wie er Lucilius im 29. Brief verdeutlicht, in dem er sich über den gemeinsamen Freund Marcellinus äußert: „Er besucht uns nur selten und zwar deshalb, weil er die Wahrheit nicht hören möchte. Diese Gefahr besteht für ihn allerdings nicht mehr. Denn davon reden sollte man nur mit jenen, die auch zuzuhören bereit sind.“[99]
Seneca hebt die Bedeutung der Freigiebigkeit hervor: „Geben wir so, wie wir selbst empfangen möchten: vor allem gern, rasch und ohne jedes Zögern.“ Zwar könne man als Wohltäter bei seinen Mitmenschen an die Falschen geraten, doch treffe es ein andermal die Richtigen[100] : „Schon bald würde das Leben in langweiligen Müßiggang erstarren, wenn man die Hand schnell zurückzieht von allem, was einem missfällt. […] Denn man übt sich nicht im Hinblick auf möglichen Vorteil: richtig zu handeln, ist Lohn für sich.“[101] Der stoische Weise schließlich kann nach Seneca durch das Verhalten anderer in seiner souveränen Seelenruhe nicht gestört werden, wird in dieser Hinsicht also gewissermaßen unverletzlich: „Nur schlechte Menschen begehen Unrecht an guten Menschen. Die Guten haben untereinander Frieden.“[102]
Seneca unterscheidet im 90. Brief an Lucilius − ähnlich wie nach ihm Jean-Jacques Rousseau in dem Werk über den „Gesellschaftsvertrag“ − zwischen einer Art Naturzustand und dem vorgefundenen entwicklungsgeschichtlichen Zustand der Gesellschaft, indem er schreibt: „Die Verbundenheit unter den Menschen blieb eine Zeit lang unverletzt, bis die Habgier den Bund zerriss und auch denen, die sie bereicherte, zur Ursache ihrer Armut wurde. Denn Menschen besitzen nicht mehr das Ganze, solange sie Teile davon als ihr Eigentum betrachten. Die ersten Menschen und ihre Nachkommen folgten dagegen unverdorben der Natur…“ Die Führungsfunktionen fielen demnach ebenso natürlich den aufgrund ihrer geistigen Bedeutung dafür Geeignetsten zu. Denn unangreifbare Autorität besitze nur der, „welcher seine Macht ganz in den Dienst der Pflicht stellt“.[103] Senecas Schlussfolgerungen zielen aber anders als die Rousseaus vornehmlich auf das Individuum, indem er betont: „Bei den Menschen der Vorzeit gab es noch nicht Gerechtigkeit, Einsicht, Mäßigung oder Tapferkeit. Ihr noch bildungsloses Leben zeigte gewisse Ähnlickeiten zu all diesen Tugenden; doch die Tugend selbst wird nur einem unterwiesenen und gelehrten Verstand zuteil, der durch beständige Übung zur höchsten Einsicht gelangt ist.“[104]
Jenes „goldene Zeitalter“ der Menschheit unter der unangefochtenen Herrschaft der Weisen, das Seneca wiederum den Vorstellungen des Poseidonios nachgezeichnet hat, mündete dieser Vorstellung nach schließlich in den historischen Prozess der Antike, der Seneca bis zu den Anfängen des Prinzipats eben auch bereits geläufig war: „Aber als sich die Laster langsam einschlichen und sich so die Monarchie zur Tyrannis wandelte, wurden erstmals Gesetze notwendig, welche anfänglich noch von den Weisen gegeben wurden.“ In diesem Zusammenhang erwähnt er Athens Gesetzgeber Solon und für Sparta Lykurg.[105]
Das Verhältnis des Philosophen zu den politisch Herrschenden betrachtete Seneca als jemand, der dieses Feld sowohl in gestaltender als auch in leidender Rolle kennen gelernt hatte: „Mir scheint im Irrtum zu sein, wer meint, treue Anhänger der Philosophie seien eingebildete Querköpfe, sie verachteten Behörden, Herrscher und die Verwalter des Staates. Im Gegenteil sind die Philosophen jenen dankbar wie niemand sonst, und dies mit Recht. Denn niemandem erweisen die Hüter der staatlichen Ordnung einen größeren Dienst als denen, die ungestört geistiger Beschäftigung nachgehen können.“ Dass der Herrscher mit seiner Macht ggf. auch die philosophisch Uninteressierten schützt, ficht Senecas Einschätzung nicht an. Die Wohltat des Friedens erstrecke sich zwar auf alle, „wird aber tiefer von denen empfunden, die einen lobwürdigen Gebrauch davon machen.“[106]
Die Bürger hingegen sollen am politischen Leben teilnehmen, auch wenn sie nur geringen Einfluss nehmen können. „Der Einsatz eines engagierten Bürgers ist niemals nutzlos: Er ist allein schon nützlich, wenn man ihm zuhört oder ihn auch nur sieht, durch seinen Gesichtsausdruck, seine Gestik, seine stumme Anteilnahme, ja allein durch seinen Auftritt.“[107] Dabei bezog er sich nicht nur auf das eigene Staatswesen, sondern bezeichnete sich im Sinne der Stoa als Weltbürger mit der Aufgabe, die Tugend überall zu verbreiten. „Daher sind wir Stoiker (...) nicht auf die Mauern einer einzigen Stadt beschränkt, sondern stehen im Austausch mit dem gesamten Erdkreis und erkennen in der ganzen Welt unser Vaterland: So wollen wir für unsere sittlichen Bestrebungen ein größeres Betätigungsfeld gewinnen.“ [108]
Zeitgebundener Anwalt für Rechte von Frauen und Sklaven
Die Haltung Senecas gegenüber dem anderen Geschlecht war ambivalent. Der geistigen Hauptströmung seiner Zeit entsprechend bezeichnete Seneca Frauen als minderwertig. Dabei ging er so weit, sie − wenn sie ohne Bildung waren − mit Tieren auf eine Stufe zu stellen. „Manche sind von solchem Irrsinn befallen, dass sie glauben, sie könnten durch eine Frau Herabsetzung erfahren. Was spielt es schon für eine Rolle, wie schön sie ist, wie viele Sänftenträger sie hat, welcher Art ihr Ohrschmuck oder wie bequem ihr Tragsessel ist? Sie ist ein immer gleich unvernünftiges Geschöpf, und wenn sie nicht über Kenntnisse und Bildung verfügt, nichts als ein wildes Tier, seiner Begierden nicht mächtig.“[109] Von diesem Ansatz her wird auch der Zorn als eine „weibische und kindische Schwäche“ klassifiziert, die aber auch Männer befalle: „Denn auch Männer haben kindische und weibische Anlagen.“[110]
Während an dieser Stelle die abwertende Tendenz gegenüber Frauen klar überwiegt, zeigt sich Senecas Vorstellung von gemeinsamen Anlagen beider Geschlechter in den Trostschriften, die er für Marcia und für seine Mutter verfasst hat, deutlich frauenfreundlicher. So schrieb er an Marcia: „Wer sollte denn gesagt haben, dass die Natur bei der geistigen Ausstattung von Frauen bösartig verfahren sei und ihre Vorzüge eng beschränkt habe? Glaube mir, sie haben die gleiche Kraft, die gleiche Fähigkeit zum sittlich Guten, wenn sie nur wollen; Schmerz und Anstrengung ertragen sie genauso gut, wenn sie es nur gewohnt sind.“[111]
Und in der Trostschrift für seine Mutter Helvia nahm er explizit gegen das von seinem Vater vertretene und innerfamiliär durchgesetzte herkömmliche Frauenbild Stellung: „Ich wünschte, dass mein Vater, der vortreffliche Mann, sich weniger an die Tradition der Vorfahren gehalten und vielmehr den Wunsch gehabt hätte, dass du in den Lehren der Philosophie gründlich ausgebildet, nicht nur flüchtig eingeführt worden wärest. Dann brauchtest du die Hilfen zum Ertragen deines Schicksals nicht jetzt erst mühsam aufzubauen, sondern sie nur hervorzuholen. Er hat dir weniger Freiheit für Studien gewährt, da es auch solche Frauen gibt, die sie nicht mit dem Ziel der Weisheit betreiben, sondern nur zur Befriedigung ihrer Eitelkeit.“[112] Damit erkennt Seneca zwar die Macht seines Vaters an, über seine Mutter Entscheidungen zu treffen, bemängelt aber, dass er ihr den Zugang zu Bildung erschwerte und ihr wissenschaftliche Arbeit untersagte. Indirekt unterstützt er damit die Forderung nach Frauenbildung und erweist sich wiederum als Philosoph, der überkommene Denkschablonen verlässt.
Wie die nachrangige Stellung der Frauen gehörten auch Sklaverei und Sklavenhaltung zu den charakteristischen Merkmalen der antiken Gesellschaftsordnung. Rechtlich waren Sklaven dem Sachbesitz gleichgestellt, über den seitens der Besitzer – ursprünglich einschließlich grausamer Bestrafung und Tötung – willkürlich verfügt werden konnte. Senecas Einstellung zu diesen auch zu seiner Zeit noch nahezu Rechtlosen war von humaner Zuwendung bestimmt.
„Ich will mich nicht auf ein unerschöpfliches Thema einlassen und die Behandlung der Sklaven diskutieren, denen gegenüber wir so arrogant, grausam und herablassend sind. Doch kurz zusammengefasst lautet meine Lehre folgendermaßen: Du sollst mit deinem Untergebenen so leben, wie du wünschst, dass dein Vorgesetzter mit dir lebe. […] Sei gütig und höflich zu deinem Sklaven, beziehe ihn in die Unterhaltung ein, gib ihm Zutritt zu deinen Besprechungen und Gelagen. […] Einige mögen deine Tischgenossen sein, weil sie dessen würdig sind, doch andere sollten es noch werden. Denn sofern sie aufgrund ihres rohen Umgangs noch das Verhalten von Sklaven zeigen, wird das Tischgespräch mit Gebildeteren sie dieses Verhalten ablegen lassen. Es stimmt nicht, lieber Lucilius, dass du nach einem Freund bloß auf dem Forum oder in der Kurie suchen kannst; wenn du sorgfältig und aufmerksam bist, wirst du ihn auch in deinem Haus finden. Guter Stoff bleibt oft ungenutzt, weil der Bildner fehlt. Versuche es, und du wirst es erleben.[113]“
Mit dieser Auffassung gehörte Seneca zu den wenigen Denkern der Antike, die sich kritisch mit der Sklaverei auseinandergesetzt haben. Seine kritischen Einstellungen wurden vermutlich von der römischen Elite nicht geteilt.[114]
Die antike Sitte hingegen, „missgestaltete“ Kinder nach der Geburt zu töten, bejahte er. „Wir beseitigen Missgeburten, und wir ertränken auch Kinder, wenn sie schwächlich und missgestaltet zur Welt gekommen sind; und es geschieht nicht aus Zorn, sondern aus Vernunft, dass wir das Nutzlose vom Gesunden absondern.“[115]
Vordenker der individuellen Weisheit
Die ausdrückliche Bejahung der Schicksalsvorgaben und der individuelle Freiheitsanspruch gehen in Senecas Denken auf eigentümliche Weise zusammen. Als ein Übel sieht er jede Art von Abhängigkeit an, die die innere Freiheit bedroht: „Die Freiheit geht zugrunde, wenn wir nicht alles verachten, was uns unter ein Joch beugen will.“[116] Das Lebensglück ergibt sich hingegen aus einer scheinbar einfachen Formel:
„Wer die Einsicht besitzt, ist auch maßvoll; wer maßvoll ist, auch gleichmütig; wer gleichmütig ist, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen; wer sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, ist ohne Kummer; wer ohne Kummer ist, ist glücklich: also ist der Einsichtige glücklich, und die Einsicht reicht aus für ein glückliches Leben![117]“
Dass die Formel in der Lebenspraxis selten ganz aufgeht und dass der Mensch eine diesbezüglich problematische Konstitution hat, wird an anderen Stellen verdeutlicht: „Ich mute dem Weisen nicht Übermenschliches zu, ich behaupte nicht, dass er wie ein Fels ohne Gefühlsregung Schmerz abwehrt. Ich weiß, dass er aus zwei Teilen besteht: der eine ist vernunftlos, und kann somit gekränkt, gebrannt, und gequält werden -, der andere ist vernünftig; ihm gehören unerschütterliche Grundsätze an, er ist furchtlos und frei. Auf ihm beruht das höchste Gut des Menschen. Solange es nicht vollkommen ist, ist der Verstand haltlos und unruhig, doch ist es vollkommen, kann der Verstand nicht mehr erschüttert werden.“[118] Seneca ringt mit der eigenen Unvollkommenheit: „Wir sollten daher zupackend und ausdauernd sein. Was uns noch zu tun bleibt, ist mehr, als was wir bereits hinter uns haben; doch besteht ein großer Teil des Fortschritts in dem Willen zum Fortschritt. Ich bin mir bewusst, dass ich will, und zwar mit ganzem Herzen.“[119]
Diese Bemühung umfasst auch die Unabhängigkeit des Denkens von der Meinung des Volkes. Er zitiert dazu Epikur: „‚Niemals habe ich dem Volk gefallen wollen. Denn was ich weiß, gilt dem Volk nichts, und was dem Volk etwas gilt, das interessiert mich nicht.‘“[120] Darin, betont Seneca, seien sich alle bedeutenden philosophischen Schulen einig, ob Epikureer, Peripatetiker, Anhänger der Akademie, Stoiker oder Kyniker; und er vollzieht eine scharfe Abgrenzung gegenüber jedwedem Populismus: „Es sind verwerfliche Mittel, durch die man die Gunst des Volkes gewinnt. Du musst dich diesen Leuten angleichen. Ihnen gefällt nur das, was sie kennen. […] Die Zuneigung Nichtswürdiger kann nur durch nichtswürdige Mittel erlangt werden. Was wird also die vielgepriesene und allen Künsten überlegene Philosophie uns dartun? Bestimmt, dass du lieber vor Dir selbst als vor dem Volk bestehen magst, dass du deine Urteilsmaßstäbe nach ihrem Wert bemisst und nicht an der allgemeinen Zustimmungsrate ausrichtest, dass du ohne Furcht vor Göttern und Menschen lebst, dass du die Übel überwindest oder ihnen ein Ende machst.“[121]
Worauf es Seneca im Verlauf des Lebens schließlich ankommt, ist die Annäherung an das Ziel, die Unschuld des Neugeborenen mit den Mitteln der Vernunft und Einsicht zurückzugewinnen: „Wir sind schlechter bei Eintritt des Todes als bei unserer Geburt. Die Schuld liegt an uns, nicht an der Natur; die Natur muss sich über uns beschweren und sagen: ‚Was soll das? Ich habe euch ohne Begierden geschaffen, ohne Furcht, ohne Aberglauben, ohne Unredlichkeit und ohne die sonstigen Laster: wie ihr ins Leben eintratet, so sollt ihr hinausgehen.’ Der hat die Weisheit erlangt, der bei seinem Tod genauso sorgenlos ist wie bei der Geburt.“[122]
Gottesbegriff und Todesanschauung
Senecas Gottesbegriff ist komplex. Je nach Kontext spricht er von „Göttern“, dem „Göttlichen“ oder dem „Gott“. Hinsichtlich der Entwicklung des Individuums schreibt er:
„Glaube mir, Lucilius, es wohnt in uns ein heiliger Geist, der unsere schlechten und guten Eigenschaften beobachtet und überwacht. Dieser verfährt mit uns ebenso wie wir mit ihm. Niemand ist ein wirklich guter Mensch ohne Gott. - Oder könnte sich jemand ohne seine Hilfe über das Schicksal erheben? Ihm verdanken wir alle unsere großen und erhabenen Entschlüsse. […] Wie die Strahlen der Sonne zwar die Erde erreichen, aber noch ihrem Ausgangspunkt angehören, so steht eine große, heilige Seele, die herabgesandt wurde, um uns das Göttliche besser verstehen zu lassen, zwar mit uns in Austausch, bleibt aber ihrem Ursprungsort verhaftet: von dort geht sie aus, hierher blickt sie und nimmt Einfluss, unter uns wirkt sie gleichsam als höheres Wesen.[123]“
Der Weise schließlich steht für Seneca mit dem Göttlichen in engster Beziehung:
„Für den Weisen ist seine Lebensdauer wie für die Gottheit die Ewigkeit. In einem Punkt übertrifft der Weise die Gottheit: wenn diese frei ist von Furcht, so verdankt sie es der Natur, der Weise verdankt es sich selbst. Wahrlich es will etwas heißen, die Schwäche des Menschen mit der Unbesorgtheit der Gottheit zu verbinden. Die Philosophie hat eine unglaubliche Kraft, alle Gewalt des Zufalls aufzufangen.[124]“
Zum Tod, der letztlich doch einen markanten Unterschied setzt zwischen dem Weisen im Sinne Senecas und dem Göttlichen, hat Seneca nach Maßgabe der ihm geläufigen philosophischen Überlieferung Spekulationen angestellt bzw. Raum dafür gelassen[125]: „Der Tod, was ist er? Das Ende oder ein Übergang. Ich fürchte beides nicht.“[126] Und im 70. Brief an Lucilius betont er wiederum das individuelle Selbstverfügungsrecht in Bezug auf das eigene Leben bis hin zu dessen Beendigung: „Es ist ein Trost für uns Menschen, dass niemand unglücklich ist außer durch eigene Schuld. Gefällt es dir, so lebe; gefällt es dir nicht, so kannst du wieder hingehen, woher du gekommen bist“.[127]
Der Dramatiker
Die Seneca zugeschriebenen Dramen sind die einzigen erhaltenen Tragödien der lateinischen Antike. Dabei handelt es sich im Unterschied zu den klassischen griechischen Tragödien nicht um Handlungsdramen, sondern um psychologische Dramen.[128] Das Bindeglied zu den philosophischen Schriften stellt nach Maurach Senecas übergeordnetes Ziel der „Seelenleitung“ dar, das ihn in den Tragödien zum „Verfolger“ von Lastern, des Wahns und der Selbstüberhebung mit theatralischen Mitteln werden lässt: „Als ein solcher gestaltet er das Grauenvolle, Allvernichtende, will erschüttern und erschrecken vor dem, was der Mensch dem Menschen anzutun fähig ist“.[129] Bäumer schreibt dazu: „Dem Dichterphilosophen eröffnet sich durch das Theater eine Möglichkeit zur Breitenwirkung; der Zuschauer wird durch gut formulierte Sentenzen und durch geschickte Bühnenpsychologie beeinflusst, seine eigenen Affekte zu bekämpfen.“ Der Schwerpunkt lag auf der Bekämpfung des Zorns als seelischer Disposition, die durch Aggressivität in der Natur des Menschen liegt. Als weiteres Hauptthema der Tragödien Senecas wird die Verurteilung des destruktiven Tyrannen angeführt.[130]
Die meisten Forscher gehen davon aus, dass Seneca nicht als Autor der Octavia in Frage kommt.[131] Es handelt sich dabei um die einzige vollständig erhaltene Praetexta, eine Variation der griechischen Tragödie in römischem, zeitgenössischen Kontext. Die Handlung spielt um die Verstoßung von Neros Frau Octavia zugunsten von Poppaea. Es erscheint unmöglich, dass dieser unverkennbar Nero-kritische Text zu Senecas Lebzeiten veröffentlicht werden konnte. Seneca tritt selbst als Rollenfigur auf und wird aus der Perspektive seiner späteren Opposition zu Nero dargestellt.
Mehrheitlich wird vermutet, dass auch die mythologischen Tragödien auf Ereignisse und besonders auf Intrigen am Kaiserhof, vermutlich zur Nerozeit, anspielen, etwa auf den Muttermord.[132] Ein Zusammenhang zur Philosophie Senecas ist auch darin erkennbar, dass die Einordnung des Todes in die indifferentia (die gleichgültigen Dinge, auf die es nach stoischer Lesart nicht ankommt) ein hervorstechendes Motiv darstellt. Dem gewidmet waren auch zeitgenössische Schriften senatorischer Kreise über heroische Todesdarstellungen. In den Tragödien wird gelehrt, dass die Ablehnung des Freitodes schlimmer zu ertragen sein kann als dieser selbst. So verweigert der Held der Tragödie Hercules Furens nach Raserei und grausamem Verwandtenmord den anschließenden Freitod als eine das Verbrechen nicht hinreichend sühnende Strafe.[133] Da die in der Weltliteratur nahezu beispiellos drastische Darstellung extremer Gewalt teilweise der Beschreibung von Herrschergewalt in Senecas Schrift Über den Zorn ähnelt, ist von einigen eine Datierung in die Verbannungszeit unter Claudius vorgeschlagen worden.[134]
Es ist nicht bekannt, ob die Tragödien jemals aufgeführt wurden. Eine Aufführung in Form eines Rezitationsdramas ist möglich.[135] Maßgeblichen Einfluss hatten Senecas Schauspiele auf die tragischen Dramen der Renaissance, insbesondere im elisabethanischen England des 16. Jahrhunderts.
In der Gegenwart werden Seneca-Tragödien kaum auf der Bühne inszeniert. Die Thyestes-Tragödie, die durch ihre besondere Grausamkeit hervorsticht – in ihrem Mittelpunkt steht der inzestuöse Leichenschmaus des Tyrannen – hat allerdings in jüngster Zeit als Beispiel ästhetischer Tabudurchbrechung verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. So inszenierte das Stuttgarter Schauspielhaus 2002 den Tyrannen-Stoff. In dem selben Jahr legte Durs Grünbein eine Nachdichtung vor. [136]
Der Schriftsteller als Stilbildner
Nicht nur als Erneuerer einer auf die Lebenspraxis gerichteten stoischen Ethik, sondern auch als Sprachstilist hat Seneca ein epochemachendes Werk hinterlassen. Das auffälligste Merkmal des von ihm geprägten neuen Stils war nach Fuhrmann die auf den Effekt gerichtete Pointe: „In Senecas Diktion triumphiert das Pathos; es herrscht dort in verschieden starker Intensität, es fluktuiert in ständigen Crescendi und Decrescendi […] Alle psychischen Kräfte, der Verstand ebenso wie das Anschauungsvermögen und die Emotionen, sollen mobilisiert werden, auf daß sie übereinstimend das eine verwirklichen, auf das es ankommt, das den Erkenntnissen der Philosophie gewidmete Leben“.[137] Kaiser Caligula hat Senecas Redeweise als „Sand ohne Kalk“ kritisiert, weil es ihr an dem für Cicero charakteristischen „Periodenbau“ gefehlt habe. Quintilian nennt seinen Stil „überwiegend schlecht und besonders dadurch höchst bedenklich, dass er von Schwülstigkeit aufgeblasen ist“[138], attestiert aber deutlich Senecas Bekanntheit und würdigt dessen Gelehrsamkeit. Tacitus wiederum hat Seneca bescheinigt, den Geschmack der Jugend getroffen zu haben.[139]
Die Sentenz ist nach Maurach die „stilistische Urzelle“ Senecas und eben nicht wie bei Cicero die Periode. Dies deutet auf ein verändertes Wert- und Lebensgefühl: „Konzentration auf sich selbst, Vereinzelung, Verlust an weitgespannter Einordnung.“[140] Seneca, so fährt Maurach fort, wendet sich sowohl an den Intellekt mit den Mitteln der Darlegung, Klärung und Bewusstmachung als auch an die Emotion, wobei er hier u.a. das Antreiben, Beschämen, Bestätigen oder Korrigieren bis hin zum Begeistern und Hinaufreißen anwendet.[141]
Seneca selbst hat sich aber zu Cicero keineswegs in scharfem Gegensatz gesehen, sondern ihm ausdrücklich Wertschätzung bekundet: „Lies den Cicero“, empfahl er Lucilius, „sein Stil ist einheitlich und elegant im Satzrhythmus.“[142] Inhaltsleere Effekthascherei und Manipulation der Massen lehnte er zudem unmissverständlich ab:
„Ein Vortrag, dem es um die Wahrheit geht, muss ungekünstelt und einfach sein; Ein Vortrag, der das Volk anspricht, hat mit Wahrheit nichts zu schaffen. Sein Ziel ist es, die Masse zu beeinflussen und ungebildete Hörer im Sturm fortzureißen, er entzieht sich jeder prüfenden Beurteilung, verliert sich in alle Winde.[143]“
An anderer Stelle kritisiert er die überladene Ausdrucksweise der Menschen, die sich modischer Ausschweifung hingeben, und hebt die Notwendigkeit klarer und einfacher Rede als Ausdruck eines einfachen würdevollen Lebens hervor. Er zitiert ein griechisches Sprichwort, wonach des Menschen Redeweise seinem Leben gleicht, und bezieht es auf den sittlichen Verfall des Gemeinwesens:
„Wie aber die Handlungsweise jedes Einzelnen seiner Ausdrucksweise ähnlich ist, so nähert sich das rhetorische Genre den allgemeinen Sitten an, wenn die Moral einer Stadt leidet und der Vergnügungssucht verfällt. Auschweifende Rhetorik ist dann Ausdruck der allgemeinen Zügellosigkeit.[144]“
Senecas stilbildende Wirkung hielt nicht lange vor, obwohl es zu einer bahnbrechenden Neuerung in der Folge gar nicht mehr kam. Vielmehr setzte in der Generation nach Seneca eine Rückbesinnung auf die Klassik nach dem Vorbild Ciceros ein und weitere Jahrzehnte darauf sogar die Wiederbelebung der Vorklassik zwischen 240-80 v. Chr.[145] Aulus Gellius, dessen Auseinandersetzung mit Senecas Stil die letzte für die Antike überlieferte darstellt, bezeichnete ihn als „albernen und läppischen Menschen“ (Noctes Atticae 12, 2). „Dies sind die letzten Worte“, so Fuhrmann, „die das alte Rom über einen seiner Größten an die Nachwelt hat gelangen lassen.“[146]
Rezeption
Im 4. Jahrhundert n. Chr. tauchte ein, wie heute bekannt ist, gefälschter Briefwechsel mit dem Apostel Paulus auf, was Hieronymus dazu brachte, Seneca als christlichen Heiligen zu sehen. Auch seine Philosophie wurde in die Nähe des Christentums gerückt, da sie z.B. hinsichtlich Schicksalsgehorsam bzw. Ergebung in den göttlichen Willen als individuelle Prüfung und Bewährung Parallelen aufwies, wie auch bezüglich der Gewissensforschung und der mitmenschlichen Verbundenheit. Nicht erst Hieronymus, sondern auch bereits die Kirchenväter Tertullian und Laktanz haben Seneca große Wertschätzung entgegengebracht.
Zu Senecas Nachwirken seit der Antike gibt es bisher nur auf spezielle Aspekte oder einzelne Epochen gerichtete Untersuchungen, Zusammenstellungen der verstreuten Literatur oder diesbezügliche summarische Betrachtungen. [147] Im Mittelalter kam er wegen seiner Nähe zu manchen christlichen Lehrsätzen als Moralphilosoph zur Geltung. Aber auch seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen (Quaestiones naturales) wurden studiert, so z.B. von Roger Bacon. In Dantes Göttlicher Komödie ist Seneca berücksichtigt. Außerdem existiert eine mittelalterliche Büste im Chorgestühl des Ulmer Münsters.[148]
In der Renaissance waren es vor allem niederländische Humanisten, die sich Seneca intensiv zuwendeten. Erasmus von Rotterdam brachte die erste textkritische Ausgabe von Senecas philosophischen Schriften heraus; Justus Lipsius wurde mit der an Seneca ausgerichteten Schrift De constantia zum Mittelpunkt eines Neustoizismus. Dessen Freund Peter Paul Rubens würdigte Seneca u.a. mit dem Bild Der sterbende Seneca. Auch den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin war Seneca eine Autorität. Montaignes Essais sind von Senecas Briefen an Lucilius wesentlich inspiriert. Auch die Begründer des modernen Völker- und Naturrechts, Hugo Grotius und Samuel Pufendorf, bezogen sich auf Senecas Schriften.[149]
Besondere Wertschätzung wurde Seneca von jeher in Frankreich entgegengebracht. Aus seinen Tragödien übernahm Corneille das rhetorische Gepräge der Sprache und die Dialektik des Dialogs, Racine fügte aus ihnen gar ganze Szenen in einige seiner Stücke ein.[150] Auch Diderot wurde in seinen späten Jahren zum Lobredner Senecas und meinte, dass er sich selbst viel Kummer hätte ersparen können, wenn er Senecas Grundsätze früher angenommen hätte.[151]
Die Vertreter der neuhumanistischen deutschen Klassik mit ihrer Hochschätzung der Griechen auf Kosten der Römer bewerteten zumeist auch Senecas Philosophie als eine bloß abgeleitete. Hegel schließlich fand bei Seneca „mehr Brast und Bombast moralischer Reflexion als wahrhafte Gediegenheit“, während andererseits Schopenhauer Seneca sehr nahe stand.[152]
Im Zuge seiner kritischen Auseinandersetzung mit der neueren Seneca-Rezeption gelangt Sørensen zu dem Schluss, dass Seneca „sich als einer der ersten zum Fürsprecher eines zweckbestimmten humanen Rechts machte, das nicht nur die Untat, sondern die gesamte Situation betrachtet. Das setzt gerade die Erkenntnis voraus, dass der Mensch nicht von Natur aus verderbt ist, und es setzt ebenfalls voraus, dass man selbst souverän ist: kurz, der Affekt kann die Handlungen anderer entschuldigen, man kann sie jedoch nicht entschuldigen, wenn man sich selbst im Affekt befindet. Man kann die Handlungen anderer nur von deren Voraussetzungen her verstehen, versteht man jedoch seine eigenen Handlungen nur von den Verhältnissen her, dann hat man sich aufgegeben.“[153]
Sørensen verweist auf eine Vielzahl von Aspekten in Senecas philosophischen Schriften, die dem Erfahrungs- und Vorstellungshorizont insbesondere eines Stadtbewohners der westlichen Gegenwartszivilisation nahe stehen. „Rom mit seiner Gigantomanie, seinem Mangel an gemeinsamen geistigen Werten, seinem Reichtum und seiner Armut, seinem Lebensgenuß und seinem Lebensüberdruß, seinem Verlangen nach Unterhaltung und Erlösung, seinem Individualismus und seiner Massenpsychose, dieses Rom ist der Präzedenzfall unserer eigenen Großstadtzivilisation. Deshalb kann man Seneca zwar von unserer eigenen Zeit her verstehen, möglicherweise begreifen wir diese aber besser von der seinen her. Mit den Unterschieden werden auch die Ähnlichkeiten zwischen damals und heute deutlicher.“[154].
Schriften in Auswahl
- Apokolokyntosis (andere Titel: Divi Claudii apotheosis oder Iudus de morte Claudii) („Verkürbissung“ (Veräppelung) von Kaiser Claudius durch Seneca)
- Naturales quaestiones
- Dialoge (Zählung traditionell nach der Überlieferung im Codex Ambrosianus C 90, nicht chronologisch)
- 1: De Providentia
- 2: De Constantia Sapientis
- 3-5: De Ira (drei Bücher)
- 6: De Consolatione ad Marciam
- 7: De Vita Beata („Vom glücklichen Leben“ / „Das glückliche Leben“)
- 8: De Otio
- 9: De Tranquillitate Animi („Über die Ausgeglichenheit der Seele“)
- 10: De Brevitate Vitae - („Von der Kürze des Lebens“) Essay, der ausführt, dass man im Heute und nicht im Morgen leben soll, und dass das Ziel des Lebens mehr Muße, nicht mehr Arbeit ist
- 11: De Consolatione ad Polybium
- 12: Ad Helviam matrem
- De Clementia („Über die Güte“, an Nero)
- De Beneficiis
- Epistulae morales ad Lucilium - Sammlung von 124 Briefen an Lucilius über die (spätstoische) Ethik
- 10 Tragödien
- Hercules Furens (Der wildgewordene Herkules)
- Troades (Die Troerinnen)
- Medea
- Phoenissae (Die Phönizischen Frauen)
- Hercules Oetaeus (Herkules auf Oeta)
- Phaedra
- Aganiemno (Agamemnon)
- Thyestes
- Oedipus
- Octavia (möglicherweise Seneca nur zugeschrieben)
Literatur
Quellenwerke/Ausgaben
- L. Annaei Senecae Philosophi Opera Omnia. Ad optimorum librorum fidem accurate edita. Ed. stereotyp. C. Tauchnitiana. 4 Bde. Lipsiae Holtze 1911.
- L. Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Hrsg. von Manfred Rosenbach. Erster Band. 5. Aufl. Darmstadt 1995
- L. Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Hrsg. von Manfred Rosenbach. Zweiter Band. 4. Aufl. Darmstadt 1993
- Lucius Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Erster Band. Dialoge. Dialoge I-VI. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7
- Lucius Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Zweiter Band. Dialoge. Dialoge VII-XII. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7
- Lucius Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Dritter Band. Dialoge. Briefe an Lucilius. Erster Teil: Brief 1-81. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7
- Seneca Brevier. übersetzt und herausgegeben von: Ursula Blank-Sangmeister. Reclam, Stuttgart 1996, ISBN 3-15-040032-5
- Seneca: Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch. Band 1: Herkules furens, Trojanerinnen, Medea, Phaedra, Octavia. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Zürich u.a., 1978 (2.A.)
- Seneca: Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch. Band 2: Ödipus, Thyestes, Agamemnon, Herkules auf dem Öta, Phönissen. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Zürich u.a., 1969
- Heinz Berthold (Übers. und Hrsg.): Seneca: Handbuch des glücklichen Lebens. Anaconda, Köln 2005, ISBN 3-938484-44-6.
- Fritz-Heiner Mutschler (Übers. und Hrsg.): Seneca: De vita beata. Vom glücklichen Leben. Lateinisch/Deutsch. Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-001849-8.
- Heinz Gunermann (Übers. und Hrsg.): Seneca: De tranqillitate animi. Über die Ausgeglichenheit der Seele. Lateinisch/Deutsch. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-001846-3.
Sekundärliteratur
- Luciano De Crescenzo: Die Zeit und das Glück. (italienischer Titel Il tempo e la felicità) München 2002, ISBN 3-442-72963-7.
- Manfred Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 1999 (Originalausgabe: Berlin 1997), ISBN 3-596-14284-9.
- Marion Giebel: Seneca. Reinbek 1997.
- Eckard Lefèvre: Senecas Tragödien. Darmstadt 1972.
- Gregor Maurach: Seneca. Leben und Werk. 4. Aufl. Darmstadt 2005, ISBN 3-534-15000-7.
- ders. (Hrsg.): Seneca als Philosoph. 2. Aufl. Darmstadt 1987.
- Marc Rozelaar: Seneca. Eine Gesamtdarstellung. Amsterdam 1976.
- Klaus Schlagmann: Ödipus – komplex betrachtet. Saarbrücken 2005, ISBN 3-9805272-3-9.
- Villy Sørensen: Seneca. Ein Humanist an Neros Hof. München 1984 (dän. Originalausgabe: Kopenhagen 1977).
- Paul Veyne: Weisheit und Altruismus. Eine Einführung in die Philosophie Senecas. Frankfurt a.M. 1993, ISBN 3-596-11473-X.
Weblinks
- Senecas Werke in der Latin Library (lat.)
- Texte in der Bibliotheca Augustana (lat.)
- LUCIUS ANNAEUS SENECA - Leben und Werk
- Auszüge aus Epistulae Morales (lat./dt.)
- Katja Vogt: Seneca. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Biographischer Steckbrief (Leben, Werk, Literatur)
Einzelnachweise
- ↑ Zitiert nach Fuhrmann, S. 299; vgl. Maurach 2005, S. 174, Giebel, S. 112.
- ↑ Maurach 2005, S. 1.
- ↑ „Wir Stoiker behaupten nicht (negant nostri), der Weise werde in einem beliebigen Staatswesen eine Tätigkeit übernehmen …“ (Über die Muße VIII 1; zit. n. Rosenbach (Hrsg.) 4. Aufl. 1993, 2. Bd., S. 97).
- ↑ „Ich will beweisen, daß die Stoiker gerade so denken; nicht, als hätte ich es mir zum Gesetz gemacht, mir nichts zu erlauben, was gegen ein Wort des Zenon oder Chrysippus verstößt, sondern weil die Sache selbst mir erlaubt, ihrer Meinung beizutreten …“ (Von der Muße III 1; zit. n. Apelt (Hrsg.) 1993, Bd. 2, S. 51).
- ↑ De Providentia V 4.
- ↑ De tranquillitate animi V 4-5.
- ↑ Maurach 2005, S. 16; vgl. Fuhrmann, S. 10, Giebel, S. 7.
- ↑ Maurach 2005, S.18.
- ↑ Fuhrmann, S. 20, weist darauf hin, dass Helvia aus demselben Geschlecht der Helvier stammte wie Ciceros Mutter.
- ↑ Giebel, S. 10 und Fuhrmann, S. 22f. Mela hatte den Dichter Lucan zum Sohn.
- ↑ ausführlich dazu: Fuhrmann, S.25-42.
- ↑ Maurach 2005, S. 19f.
- ↑ Fuhrmann, S. 48f.
- ↑ Vom Zorn III XXXVI 3; zit. n. Apelt (Hrsg.) 1993, 1. Bd., S. 193.
- ↑ Fuhrmann, S. 45f.
- ↑ Auch hierfür gibt es kein gesichertes Datum; Maurach 2005, S. 28, legt nahe, dass Seneca die Quaestur nicht vor dem Jahre 35 bekleidet haben kann.
- ↑ Consolatio ad Marciam VIII 2.
- ↑ De Ira I, I 1.
- ↑ De Ira I, VIII 1.
- ↑ Vom Zorn II, I 4-5, S. 149.
- ↑ […] nec prosit rogasse, potius causae suae et prioribus factis et bonis in futuram promissis donetur. (De Ira II, XXI 3).
- ↑ Cassius Dio (59, 19, 7f.) berichtet diesbezüglich u.a., dass Caligula ein rhetorisch brillantes Plädoyer Senecas im Senat mit dessen Todesurteil sanktionieren wollte, nicht duldend, dass außer ihm selbst noch jemand zu glänzen wusste. Eine seiner Konkubinen habe ihm das wegen Senecas krankheitsbedingt ohnehin bevorstehendem Tod wieder ausgeredet; zur Historizität vgl. M. Griffin: Seneca. Oxford 1976, S. 53-57.
- ↑ Hier handelt es sich um Julia Livilla die Jüngere im Unterschied zu Livilla
- ↑ Julia Livilla war nach Caligulas Tod aus der Verbannung, in die sie ihr Bruder geschickt hatte, an den Hof zurückgekehrt, wo sie noch in demselben Jahr mit der Unterschrift von Claudius, ihrem Onkel, zum Tode verurteilt wurde (Giebel, S. 51).
- ↑ Fuhrmann, S. 92f.
- ↑ Trostschrift an die Mutter Helvia III 2-3; zit. n. Rosenbach (Hrsg.) 4. Aufl. 1993, 2. Bd., S. 303.
- ↑ Trostschrift an die Mutter Helvia VI 7 – VII 7; zit. n. Rosenbach (Hrsg.) 4. Aufl. 1993, 2. Bd., S. 311.
- ↑ Consolatio ad Helviam matrem XX 1.
- ↑ Maurach 2005, S. 75; Polybios hatte - dies war der Anlass für die Trostschrift - vermutlich im Jahre 43 seinen jüngeren Bruder verloren.
- ↑ Consolatio ad Polybium XVIII 9.
- ↑ Fuhrmann, S. 103: „Die Nachwelt hat Seneca diesen Kotau, das Erzeugnis einer Depression, ziemlich übel genommen. Sein Tun habe aufs schärfste seinen philosophischen Lehren widersprochen, schreibt Cassius Dio…“ Friedländer attestiert Seneca eine Überhäufung des Polybios mit unwürdigen Schmeicheleien und weist darauf hin, dass Seneca später aus Scham erfolglos die Vernichtung dieser Schrift betrieben haben soll. (Ludwig Friedländer: Der Philosoph Seneca (1900). In: Maurach (Hrsg.), 2. Aufl. 1987, S. 106)
- ↑ Sørensen, S. 122.
- ↑ Fuhrmann, S. 163f.
- ↑ vgl. Sørensen, S. 116.
- ↑ Giebel, S. 64.
- ↑ De brevitate vitae II 1f.
- ↑ De brevitate vitae III 1.
- ↑ Über die Kürze des Lebens III 1; zit. n. Rosenbach (Hrsg.) 4. Aufl. 1993, 2. Bd., S. 185.
- ↑ De brevitate vitae XIV 2.
- ↑ Fuhrmann, S. 170; zu den Tragödien S. 197ff.; Zur Frage der Datierung gute und aktuelle Zusammenfassung bei S. Grewe: Die politische Bedeutung der Senecatragödien. Würzburg 2001, S. 8f.; zur Zuschreibung bei Ch. Walde: Herculeus labor. Frankfurt a.M. 1992, S. 1f.
- ↑ Zit.n. Fuhrmann, S. 212.
- ↑ Zit. n. Fuhrmann, S. 222.
- ↑ Aurelius Victor, Liber de Caesaribus V 2.
- ↑ Vgl. Maurach 2005, S. 40; Giebel, S. 60.
- ↑ Zur Datierung des Konsulats siehe G. Camodeca: I consoli des 55-56 e un nuovo collega di Seneca nel consolato: P. Cornelius Dolabella. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 63, 1986, S. 201-215.
- ↑ Tacitus, Annalen XIII 3, 1.
- ↑ Cassius Dio LX 35, 3.
- ↑ Meist überliefert unter dem Titel: Ludus Senecae de morte Claudii Neronis; Fuhrmann, S. 176; vgl. Giebel, S. 50.
- ↑ Giebel, S. 55.
- ↑ Giebel, S. 57. Der aufgeklärte Absolutismus Friedrichs II. von Preußen brachte dieses stoische Bekenntnis bekanntlich auf die Formel vom König als dem „ersten Diener seines Staates“.
- ↑ Fuhrmann s. 194. Vgl. auch Sørensen, S.130–132.
- ↑ Fuhrmann, S. 182f.
- ↑ Vgl. Fuhrmann, S. 185.
- ↑ 8, 2f.
- ↑ […] desperantes de re publica exhortabantur […], cum inter triginta dominos liber incederet. (De tranquillitate animi V 2).
- ↑ Über die Seelenruhe V 2-4; zit. n. Rosenbach (Hrsg.) 4. Aufl. 1993, 2. Bd., S. 127f.
- ↑ Fuhrmann, S. 231.
- ↑ De vita beata XXIII 1.
- ↑ Vgl. Fuhrmann, S. 183, 252, 307f.; Sørensen, S. 172.
- ↑ Hierzu und zum Folgenden vgl. Fuhrmann, S. 243ff.
- ↑ Vgl. Sørensen, S. 172.
- ↑ Ausführlich zu den Vorgängen um Senecas Entlassung: Fuhrmann, S. 266ff.; vgl. Giebel, S. 101ff.
- ↑ Über die Muße I 4; zit. n. Rosenbach (Hrsg.) 4. Aufl. 1993, 2. Bd., S. 83.
- ↑ De otio II 1-III 2.
- ↑ De otio IV 2.
- ↑ […] Solemus dicere summum bonum esse secundum naturam uiuere: natura nos ad utrumque genuit, et contemplationi rerum et actioni. (De otio IV 2).
- ↑ Bd. IV, S. VII.
- ↑ Fuhrmann, S. 315.
- ↑ Über Wohltaten VII, 19, 7; zit. n. Fuhrmann, S. 314.
- ↑ Epistulae morales 26, 10.
- ↑ Epistulae morales 54, 1f.
- ↑ Epistulae morales 54, 7.
- ↑ in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. VI.
- ↑ Briefe an Lucilius 61, 2; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. 220)
- ↑ Briefe an Lucilius 70, 4f.; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. 264.
- ↑ Epistulae morales 70, 14.
- ↑ Epistulae morales 70, 11.
- ↑ Briefe an Lucilius 70, 12; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. 267.
- ↑ Briefe an Lucilius 4, 7f.; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. 8.
- ↑ Tacitus, Annalen XV 60–64.
- ↑ vgl. Maurach 2005, S.1.
- ↑ Epistulae morales 64, 7f.
- ↑ Epistulae morales 90, 1-3.
- ↑ Epistulae morales 16, 5.
- ↑ Siehe z.B. die nahezu durchgängig in diesem Duktus gehaltene Schrift Von der Kürze des Lebens.
- ↑ Briefe an Lucilius 16,4. In: Seneca-Brevier a.a.O. S. 29.
- ↑ D.h. ab 14.00 Uhr.
- ↑ Epistulae morales 76, 1-4.
- ↑ De constantia I, 1.
- ↑ […] summum bonum esse animi concordiam. (De vita beata VIII 6).
- ↑ Briefe an Lucilius 66,12. In: Seneca-Brevier, S. 238.
- ↑ De ira III, XLIII, 1f.
- ↑ Epistulae morales 33, 11.
- ↑ Epistulae morales 71, 4/8.
- ↑ Epistulae morales 48, 3.
- ↑ De tranquillitate animi XII 3.
- ↑ De beneficiis 2,28,1; zit. n. U. Blank-Sangmeister: Seneca-Brevier. Stuttgart 1996, S. 67.
- ↑ Epistulae morales 44, 4f.
- ↑ Epistulae morales 29, 1; wenig später heißt es (29, 4): „Ich gebe unseren gemeinsamen Freund Marcellinus noch nicht völlig verloren. Er kann noch immer gerettet werden, allerdings nur, wenn man ihm schnell die Hand reicht. Dabei könnte es jedoch passieren, dass er denjenigen, der ihm die Hand reicht, mit sich fortreißt. Er besitzt große Geistesgaben, leider mit einem Hang zum Schlechten verbunden…“.
- ↑ Briefe an Lucilius 81, 2; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, Hamburg 1993, S. 346f.
- ↑ Epistulae morales 81, 19.
- ↑ Über die Standhaftigkeit des Weisen 7, 2.
- ↑ Epistulae morales 90, 3f.
- ↑ Epistulae morales 90, 46.
- ↑ Epistulae morales 90, 5f.
- ↑ Briefe an Lucilius 73, 1ff.; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, Hamburg 1993, S. 288f.
- ↑ De tranquillitate animi IV 6.
- ↑ De tranquilitate animi 4, zit. n. Ursula Blank-Sangmeister: Seneca-Brevier. Stuttgart 1996 S. 112.
- ↑ Von der Unerschütterlichkeit des Weisen XIV 1; zit. n. Apelt (Hrsg.) 1993, 1. Bd., S. 50f.
- ↑ De ira I, XX 3.
- ↑ Trostschrift an Marcia XVI 1; zit. n. Apelt (Hrsg.) 1993, 1. Bd., S. 228.
- ↑ Trostschrift an die Mutter Helvia XVII 4; zit. n. Apelt (Hrsg.) 1993, 2. Bd.
- ↑ Epistulae morales 47, 11ff.
- ↑ Vgl. K. Bradley: Slavery and Society at Rome. Cambridge 1994, S. 132-145.
- ↑ Vom Zorn I, XV 2. ; zit. n. Apelt (Hrsg.) 1993, 1. Bd., S. 86.
- ↑ Epistulae morales 85, 28.
- ↑ Epistulae morales 85, 2.
- ↑ Epistulae morales 71, 27.
- ↑ Briefe an Lucilius 71, 36; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, Hamburg 1993, S. 283.
- ↑ Epistulae morales 29, 10.
- ↑ Epistulae morales 29, 11f.
- ↑ Epistulae morales 22, 10.
- ↑ Epistulae morales 41, 2 und 5.
- ↑ Epistulae morales 53, 11f.
- ↑ Vgl. Fuhrmann, S. 318f.:„Im Grunde hat sich Seneca sowenig wie Cicero entscheiden mögen.“
- ↑ Briefe an Lucilius 65, 24; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, Hamburg 1993, S. 237.
- ↑ Epistulae morales 70, 15.
- ↑ Änne Bäumer: Die Bestie Mensch. Senecas Aggressionstheorie, ihre philosophischen Vorstufen und ihre literarischen Auswirkungen. Frankfurt a.M. und Bern 1982, S. 15
- ↑ vgl. Maurach 2005, S.1 / S. 198.
- ↑ Bäumer a.a.O., S. 15 u. S. 218
- ↑ Rolando Ferri (Hrsg.): Octavia. A play attributed to Seneca. Ed. with introd. and commentary. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2003.
- ↑ Siehe Hubert Cancik, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Römische Literatur, Frankfurt a.M. 1974, S. 251–260; E. Lefevère, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 32.2 (1985), S. 1242–1262.
- ↑ A.F.C. Rose, in: Classical Outlook 60 (1983), S. 109–111.
- ↑ Zur Diskussion über die Datierung der Tragödien siehe:Stefanie Grewe, Die politische Bedeutung der Senecatragödien, Würzburg 2001, S. 8f.
- ↑ Otto Zwierlein: Die Rezitationsdramen Senecas, Meisenheim/Glan 1966 und D. Sutton, Seneca on the Stage, Leiden 1986. Überblick zur älteren Forschungsdiskussion J. Fitch, in: G. Harrison (Hrsg.), Seneca in Performance, London 2000, S. 1-12.
- ↑ Durs Grünbein: Seneca. Thyestes (dt. Übers.), Frankfurt a.M. 2002.
- ↑ Fuhrmann, S. 129f.
- ↑ Quintilian, Institutio oratoria 10,1,125-131, hier: 129.
- ↑ Giebel, S. 127.
- ↑ Maurach 2005, S. 188.
- ↑ Maurach 2005, S. 190.
- ↑ Epistulae morales 100, 7.
- ↑ Epistulae morales 40, 4.
- ↑ Briefe an Lucilius 114, 2f.; in Seneca, Philosophische Schriften, Bd. IV, Hamburg 1993, S. 273. In Brief 115, 2 heißt es: „Du kennst die jungen Modeaffen, mit glänzendem Bart und Haupthaar, wie aus dem Schmuckkästchen genommen: nichts Mannhaftes, nichts Gediegenes kannst Du von ihnen erwarten. In der Rede spiegelt sich der Stand der Seelenbildung.“ (ebda. S. 283)
- ↑ Fuhrmann, S. 335f.
- ↑ Fuhrmann, S. 337.
- ↑ Maurach 2005, S. 225: „Eine ausführliche Darstellung von Senecas ist noch nicht geschrieben […]; eine solche Darstellung müsste ja weit ausholen und die geistesgeschichtlichen Gründe für das jeweilige Nachwirken offenlegen, was umfangreiche Studien voraussetzt.“
- ↑ vgl. Giebel, S. 128ff.
- ↑ Sørensen, S. 289f.
- ↑ Ludwig Friedländer: Der Philosoph Seneca (1900). In: Maurach (Hrsg.), 2. Aufl. 1987, S. 126f.
- ↑ Ludwig Friedländer: Der Philosoph Seneca (1900). In: Maurach (Hrsg.), 2. Aufl. 1987, S. 124.
- ↑ vgl. Sørensen, S. 290, Giebel, S. 132.
- ↑ Sørensen, S. 300.
- ↑ Sørensen S. 11.
Personendaten | |
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NAME | Seneca, Lucius Annaeus |
ALTERNATIVNAMEN | Seneca der Jüngere; Annaeus Seneca, Lucius |
KURZBESCHREIBUNG | römischer Philosoph, Dramatiker und Staatsmann |
GEBURTSDATUM | um 1 |
GEBURTSORT | Corduba |
STERBEDATUM | 65 |